Democracy First? Nur mit Kultur!

Olaf Zimmermann und Theo Geißler (Hg.): Die Corona-Chroniken Teil 1

Es ist ein Verdienst des Deutschen Kulturrats, dass Kultur in der Pandemie nicht vergessen wurde. Die Gefahr bestand, wurde doch Kultur vom Chef des Bundeskanzleramts als Freizeitaktivität eingeordnet und im Infektionsschutzgesetz in einem Atemzug mit Bordellen genannt. Olaf Zimmermann und Theo Geißler haben in dem Band „Die Corona-Chroniken Teil 1“ in der Zeitung „Politik & Kultur“ erschienene Texte zusammengeführt. 124 Autor*innen formulieren in acht Kapiteln und 181 Texten ihre Erfahrungen und Perspektiven. Vier Papiere des Deutschen Kulturrats runden das Bild ab. Ein zweiter Band ist für Sommer 2022 geplant.

Alle Texte sind im besten Sinne des Wortes eine „Chronik“ der Zeit, die sich – so der provokante Untertitel – unter dem Motto „Corona vs. Kultur“ charakterisieren lässt. Das zweite Kapitel untertitelt noch deutlicher: „Die Pandemie frisst sich durch.“ Beide Bände wären meines Erachtens ein guter Point de départ für eine wissenschaftliche Auswertung der Auswirkungen der Pandemie und der diversen Unterstützungsleistungen in Bund, Ländern und Kommunen, möglichst differenziert nach Sparten und Status der betroffenen Einrichtungen und Künstler*innen. Empirische Formate sollten diese Auswertung ergänzen.

Der Band bietet eine Fülle von Erfahrungen während der Pandemie in den verschiedenen künstlerischen Sparten, im Rundfunk, in den Religionsgemeinschaften (warum fehlt hier das Judentum?), für den Buch- und Kunsthandel, für Buch- und Kunstmessen, die Kultur- und Eventwirtschaft, in Kommunen, in den Ländern, im Bund, sowie in der kulturellen Bildung. Mehrfach stoßen wir auf militärisch konnotierte Begriffe wie „Lagebild“ oder „Lagebericht“, die den Ernst der Lage veranschaulichen. In den Kapiteln zum Rundfunk und zu den Ländern gibt es jeweils zwei Beiträge, einen zur Phase I, sprich 2020, eine zur Phase II, sprich 2021.

Themen sind die Arbeitsbedingungen von Künstler*innen, die Entstehung neuer digitaler Formate sowie die Sehnsucht nach dem Publikum, das zurückgewonnen werden muss, aber auch die Ungleichbehandlung von Bildung, Kultur und Breitensport auf der einen Seite, dem Spitzensport auf der anderen Seite. Boris Kochan fordert analog zum „Digitalgipfel“ einen „Krisengipfel“, Susanne Keuchel den „Aufbau analog-digitaler Strukturen nicht nur für Krisenzeiten“, mehrfach ist die Grundsicherung von Künstler*innen Thema. Politische Erklärungen von Bundes- und Landesminister*innen schwanken zwischen einer Art Prinzip Hoffnung und den Beteuerungen ihres unablässlichen Bemühens um den Erhalt der Kulturszene. In mehreren Texten wird die Forderung nach einem Bundeskulturministerium angesprochen.

Gerald Mertens schrieb im Mai 2020: „Für ein paar Monate lässt sich der Lockdown irgendwie überbrücken, für eine ganze Spielzeit nicht.“ Amelie Deuflhard ist kämpferisch: „Wir müssen unsere Relevanz klarer behaupten.“ Oder in den Worten von Gerhart R. Baum: „Kunst ist kein beliebiges Freizeitvergnügen.“ Treffend fasste Monika Grütters im April 2020 die miteinander widerstreitenden Sichtweisen prägnant und hierarchisierend zusammen: „Kultur ist ein wichtiger Standortfaktor. Kultur ist der Modus unseres Zusammenlebens. Und Kultur ist vor allem eins. Kultur ist ein Ausdruck von Humanität. Darauf kommt es an. Jetzt mehr denn je.“ Monika Grütters war es, die in einem anderen Zusammenhang vor einigen Jahren in „Politik & Kultur“ forderte: „Democracy First“.

Norbert Reichel, Bonn

(Anmerkung: Erstveröffentlichung im Oktober 2022.)