Die Sache ohne Punkt

Zur Psychologie der Erinnerung an die Shoah

„Über Erzählungen wanderten Gefühle und Schrecken, Werthaltungen, Größenphantasien, Leistungserwartungen weiter, ebenso über Stockungen, merkliches Verstummen. Kehrten wieder als diffuse Ängste, Leerstellen, Trugbilder, Schneeangst, Raketenangst, Mondangst. Aus der Holocaustforschung waren die ersten Beobachtungen zum Nachwirken von Beschädigungen psychischer und seelischer Art in nachfolgenden Generationen erwachsen: Kinder und Enkel von Überlebenden berichteten über Gefühle von Nichtidentität, unheimliche Träume, unerklärliche Ängste. Es dauerte, bis man begreifen oder wahrhaben wollte, wie unvergangen Vergangenheit sein konnte. Sie wurde wirksam in Menschen, die das Licht der Welt erblickten, als das Zerstörungsgeschehen auf der äußeren Ebene lange beendet war.“ (Ulrike Draesner, Nebelkind – Essay, in: Grammatik der Gespenster – Frankfurter Poetikvorlesungen, Stuttgart, Reclam, 2018)

Hitler besiegen – gestern, heute, morgen

Renate Lasker-Harpprecht (1924-2021) und ihre Schwester Anita Lasker-Wallfisch (*1925) überlebten Auschwitz im Frauenorchester. „Ihr sollt die Wahrheit erben“, so lautet der Titel der Autobiographie von Anita Lasker-Wallfisch (Originaltitel: „Inherit the Truth“, 1996, deutsche Ausgabe 1997), das Vorwort schrieb Klaus Harpprecht. Renate Lasker-Harpprecht sagte am 30. April 2014 in einem Gespräch mit Giovanni di Lorenzo: „Schon bald nach der Befreiung hatte ich mir vorgenommen, dass ich mir nicht den Rest meines Lebens von Hitler diktieren lasse.“ 

Die heute in den USA lebende Psychotherapeutin Edith Eva Eger (*1927) hatte Auschwitz überlebt, ihre Eltern wurden ermordet, Amerikaner haben Edith und ihre Schwester befreit, die dritte Schwester konnte sich erfolgreich verstecken. Edith Eger gab ihrer Autobiographie den Titel „The Choice – Embrace the Possible“ (New York, Simon & Schuster, 2017). Sie schreibt, dass sie eine, ihre Lebensaufgabe erfüllt habe, als sie wieder nach Auschwitz fuhr und dort in dem Zimmer übernachtete, in dem auch Goebbels übernachtet hatte. Sie zögerte lange, wieder an den Ort zu fahren, an dem Josef Mengele sie zwang, für ihn zu tanzen. Ihr Mann Béla überzeugte sie: „But when I tell Béla that I have decided to decline the invitation, he grabs my shoulder. ‚If you don’t go to Germany‘, he says, ‚then Hitler won the war.‘“

Kern der Thesen Edith Egers ist die Dichotomie von „victimhood“ und „victimization“. „Victimhood“ ist nicht dasselbe wie das in den deutschen Übersetzungen verwendete deutsche Wort „Opferrolle“. Eine Rolle ist etwas Vorübergehendes, das abgelegt werden kann, das Suffix „hood“ bezeichnet etwas Dauerhaftes, im Deutschen wäre es in etwa das Suffix „schaft“. „Victimhood“ ist die Einstellung, sich selbst ausschließlich als Opfer zu definieren, den Opferzustand zu verewigen, „victimization“ ist der Vorgang, über den jemand zum Opfer wird, ein Vorgang, der dazu führt, dass das eigene Leben, die eigene Persönlichkeit ausschließlich von außen bestimmt wird, auch nach einer körperlichen Befreiung, die noch lange nicht geistige und seelische Befreiung sein muss.

Nicht alle Menschen, die die Shoah überlebten, haben die Stärke von Anita Lasker-Wallfisch, Renate Lasker-Harpprecht oder Edith Eger. Wie solche Stärke entstehen und wirken könnte und was droht und geschieht, wenn dieser persönliche Sieg über Hitler und die NS-Herrschaft nicht gelingt, ist eine höchst komplexe Frage, auf die es individuelle und gesellschaftliche Antworten zu finden gilt. Der Name „Hitler“ mag mit der Zeit als Metapher des Schreckens verblassen, er wurde inzwischen sogar zum Gegenstand diverser Komödien, und doch bleibt er im schon fortgeschrittenen 21. Jahrhundert nach wie vor als Chiffre absoluter Unmenschlichkeit präsent. Aber es ist auch nur ein Name, eine Metapher, denn das Ausmaß des Verbrechens reicht tiefer, viel tiefer, bis zum Kern dessen, das eine Gesellschaft, und vor allem die deutsche (und österreichische) ausmacht.

Wenn die gesellschaftliche, kollektive Erinnerung an die Shoah verblasst, bleibt die Erinnerung an die Shoah eine Angelegenheit der persönlich Betroffenen, vielleicht noch ihrer Kinder und Enkel*innen. Dann verschwindet mit der Zeit auch der Gedanke an das mögliche Ausmaß der jederzeit von Menschen begehbaren Verbrechen, die mit der Shoah real wurden. Dana Giesecke und Harald Welzer warnten in ihrem Buch „Das Menschenmögliche“ (Hamburg, edition Körber-Stiftung, 2012) vor einer „Vereinseitigung“ der Erinnerungskultur auf die Vergangenheit: „In den Schulen lernen die Kinder dann viel über die Schrecken der Vergangenheit und darüber, was ‚nie wieder‘ zu geschehen habe, aber sie lernen wenig über die möglichen Zukünfte, die in der Gegenwart stecken.“ Der Untertitel ihres Buches lautet mit Recht „Zur Renovierung der deutschen Erinnerungskultur“. Die zentrale Frage lautet: Wie kann verhindert werden, dass die Erinnerung an die Shoah zu bloßen Ritualen verkommt, und was bedeutet es für uns alle, für jede*n von uns, gesellschaftlich und individuell, sich zu erinnern, was zu schweigen, was zu vergessen?

„Die Sache zwischen uns“

Anna-Patricia Kahn (*1959), wie Edith Eger Psychotherapeutin, hat in ihrem Buch „Die Sache zwischen uns“ (München, Droemer, 2007) in zwölf Kapiteln Begegnungen, Filme, Bücher analysiert. All ihre Analysen zeigen, wie schwer es ist, einen Ausweg aus der ständigen Präsenz der Shoah zu finden, in Deutschland, in Israel, in anderen Ländern. Sie schreibt über Mütter, die sich von ihren Kindern trennen, die ihre Kinder mit Jähzorn überfallen, weil sie nicht anders können. Sie zitiert beispielhaft eine Schlüsselszene des Films „Avias Sommer“ (1998) des israelischen Regisseurs Elie Cohen. Der Film orientiert sich an dem gleichnamigen Buch von Gila Almagor (bei dtv junior erschienen). Der Film wurde mit der Autorin in der Rolle der Mutter verfilmt und u.a. mit dem Silbernen Bären der Berlinale ausgezeichnet. Hier die Szene: „Als das Kind sich eines Tages weigert, die vorbereitete Mahlzeit zu essen, zerrt die Mutter sie brüllend am Arm durch den Garten und schert ihr mit einem Rasierapparat den Kopf. Die schwarzen Locken des Kindes fallen in einem kurzen, dichten und rabenschwarzen Regen auf den grünen Rassen der kleinen israelischen Vorstadtsiedlung. (…) Avia wird zum Spiegel der Mutter.“

Es gibt noch andere Spiegel. Sind Jüdinnen*Juden „weil sie so viel gelitten haben, Menschen ohne schlechte Eigenschaften“? Anna-Patrizia Kahn nennt eine solche Zuschreibung „nicht nur absurd, sondern geradezu arrogant.“ Und diese Arroganz äußert sich dann vorzugsweise darin, dass Jüdinnen*Juden, unabhängig von ihrer Staatsbürgerschaft, ihrem Wohnort, für alles verantwortlich gemacht werden, was israelische Politiker*innen und Soldat*innen zur Verteidigung ihres Landes tun. Warum seid ihr keine Heiligen? So lautet der Vorwurf. Manche Kritiker*innen der israelischen Besatzungspolitik projizieren die Schuld ihrer Eltern oder Großeltern während der NS-Herrschaft jetzt auf Israel sowie pauschal auf alle Jüdinnen*Juden.

Das ist die „Sache zwischen uns“, von der Anna-Patricia Kahn spricht. Das traumatische und traumatisierende Erbe der Überlebenden ist das eine Thema, mit dem nicht nur Überlebende der Shoah, sondern auch ihre Kinder, auch ihre Enkel*innen ständig konfrontiert werden. Das andere ist die – ich nenne es so – Selbstgerechtigkeit und Ignoranz von Deutschen, die jeden Hinweis auf die Verbrechen der NS-Zeit, auf die Shoah als Belästigung abweisen. „Juden wird verziehen, selbst die Leidtragenden einer jahrtausendewährenden Diskriminierung und Verfolgung zu sein, wenn sie ihre eigene Geschichte vergessen oder sich in einer nahezu fehlerfreien Haltung bewähren. Sie sollen zeigen, dass das Unmögliche für sie erreichbar ist.“

Anna-Patricia Kahn berichtet von einer Begegnung mit einem deutschen Kollegen, „der mir zum Abschluss einer politischen Auseinandersetzung mit einem ironischen Lächeln sagte: ‚Ihr haltet euch für das auserwählte Volk, nicht wahr? Aus dieser Sonderbehandlung werdet ihr so einfach nicht ausbrechen können.‘ / „Sonderrolle, Sonderbehandlung. Ich war erstaunt, dass er, der aus Deutschland stammte, sich scheinbar wenig oder gar nichts dabei dachte, einen solchen Satz auszusprechen. Zur gleichen Zeit wurde mir klar, dass er seine Wahrheit aussprach: Juden sollen weiterhin eine Sonderbehandlung erfahren. Ob in Gedanken oder Worten. Ihre Andersartigkeit erweckt offenbar das Bedürfnis, sie auszugrenzen. / Um gegen eine solche Vorstellung anzugehen, konnte ich damals nur toben, mich ärgern oder den Raum verlassen. / Ich habe getobt und den Raum verlassen.“

Das Verhältnis zwischen Deutschen und Jüdinnen*Juden, das Verhältnis zwischen Deutschland und Israel, beide werden immer wieder miteinander verknüpft, beide werden immer wieder von der Vergangenheit eingeholt. Die Sprache verrät wie. Anna-Patricia Kahn zitiert eine Kollegin, die sie in München während des zweiten Libanon-Krieges (2006) mit den Worten ansprach: „Warum müsst ihr immer so aggressiv angreifen. Doch nichts gelernt aus der Geschichte?“ Mir kann niemand erzählen, dass diese Sätze nicht bewusst so gesagt werden. Es scheint in Deutschland – sicherlich auch in anderen Ländern, aber hier geht es um Deutschland, vielleicht noch um Österreich – ein grundlegendes Bedürfnis zu geben, die eigene Vergangenheit durch eine solche Täter-Opfer-Umkehr zu verharmlosen, zu „bewältigen“, auch dies ein Lieblingsbegriff deutscher Versuche, die eigene Identität zu schützen. Damit dies gelingt, muss der 8. Mai 1945 zur „Stunde Null“ werden.

Renate Lasker-Happrecht nannte die Absicht, Edith Eger den Endpunkt einer möglichen individuellen Entwicklung, die ein ganzes Leben braucht. Anna-Patricia Kahn nennt die Voraussetzungen einer individuellen und gesellschaftlichen Auseinandersetzung mit den Traumata der Vergangenheit: Erstaunen, Wut, Trauer. „Was mich immer wieder staunen lässt, zuerst wütend und schließlich traurig stimmt, ist die Tatsache, dass mit Wörtern und ihren dazugehörigen Bedeutungen so schlampig, so salopp, umgegangen wird. Hatte Freud, der Sprachliebhaber par excellence, nicht gewarnt: ‚Wer bei einem Wort nachgibt, gibt auch in anderen Dingen nach.“

Als Motto wählte Anna-Patricia Kahn einen Satz von Sigmund Freud: „Als Jude war ich darauf vorbereitet, in die Opposition zu gehen und auf das Einvernehmen mit der ‚kompakten Majorität‘ zu verzichten.“ Dies gilt auch heute. Die Mehrheitsgesellschaft droht nicht mehr mit Vernichtung, sie verlangt Wohlverhalten, Schweigen über die Vergangenheit, Rücksichtnahme auf ihre Befindlichkeiten. Und solange dies so ist, bleibt es – wie der Titel des Buches von Anna-Patricia Kahn es sagt – „die Sache zwischen uns“. Auch in der jeweiligen zweiten und dritten Generation!

Erinnern und Vergessen – heilsam und toxisch zugleich

„Erinnern“ ist in der Regel ein positiv besetzter Begriff, „Vergessen“ negativ. Die Zentralwohlfahrtsstelle der Juden in Deutschland (ZWST) hat im Herbst 2020 im Verlag Hentrich & Hentrich einen Sammelband veröffentlicht, der beide Begriffe im Titel miteinander verbindet: „Erinnern und Vergessen“. Das Buch wurde von der Stiftung „Erinnerung, Verantwortung und Zukunft“ und der Aktion Mensch finanziert. Es enthält einschließlich der Vorworte Texte von 23 Autor*innen. Der Untertitel – „Psychosoziale Arbeit mit Überlebenden der Shoah und ihren Nachkommen“ – könnte den Eindruck erwecken, dass es sich um ein therapeutisches Buch handelt. Das Buch enthält auch einige Fallstudien aus der therapeutischen Praxis, bietet jedoch viel mehr: aus verschiedenen Blickwinkeln entsteht ein Panorama der Verknüpfung von „Erinnern“ und „Vergessen“ in deutschen und jüdischen Gemeinschaften und Gesellschaften nach 1945.

Wer sich mit der Wirkung zur Erinnerungskultur oder der diversen Maßnahmen gegen Antisemitismus befassen möchte, sollte die Texte dieses Buches aufmerksam lesen. Das Buch selbst bietet eine anregende und fundierte theoretische Grundlage für die meines Erachtens dringend erforderlichen empirischen Wirkungsstudien. Es zeigt, dass wir in der Praxis der offiziell-offiziösen Erinnerungskultur möglicherweise Grundlegendes verändern sollten. Gedenkstätten und Mahnmale, der Besuch von Zeitzeug*innen in Schulen reichen nicht aus, um Antisemitismus nachhaltig zu bekämpfen. Das Buch skizziert die individual- und sozialpsychologischen Zugänge, die wir brauchen, damit eine Erinnerungskultur entsteht, die ihren Namen verdient.

Wer die Traumata und Retraumatisierungen durch die Shoah in der Generation der Überlebenden und in der zweiten und dritten Generation verstehen möchte, findet in dem Buch eindrucksvolle Analysen und Perspektiven. Das Verhältnis zwischen Opfern und Täter*innen sowie deren Kindern und Enkel*innen zueinander wird neu austariert. Dabei geht es stets um die Frage, ob und wie „Erinnern“ und „Vergessen“ einander ausschließen oder einander komplementär ergänzen. Die Rückseite des Klappentextes setzt allerdings einen bewussten Kontrapunkt zum Titel: dieser Text beginnt mit der Frage „Erinnern oder vergessen?“ (Hervorhebung von mir).

Andreas Eberhardt, Vorstandsvorsitzender der Stiftung „Erinnerung, Verantwortung und Zukunft“, schreibt in seinem Vorwort: „Es gibt ein Vergessen, das heilsam, das notwendig ist für die menschliche Psyche. Es kann sogar zuweilen ein Weiterleben erst ermöglichen. Und es gibt ein Vergessen, das toxisch ist. Die Folgen wurden uns auf drastische, fatale Art, direkt vor unserer Haustür in Halle, gezeigt. Wir müssen und wir werden mit allen unseren Möglichkeiten diesem toxischen Vergessen entgegenwirken.“

Ich erlaube mir zu ergänzen, dass dieses „toxische Vergessen“ auch als „toxisches Erinnern“ existiert. Einer der größten Skandale der jüngeren politischen Entwicklung in Deutschland liegt darin, dass es eine nennenswerte Szene gibt, die „eine erinnerungspolitische Wende um 180 Grad“ fordert und diese für sich praktiziert, indem sie Täter*innen verherrlicht und die Opfer der Shoah und aktueller antisemitischer Attentate und Morde öffentlich verhöhnt. Diese Szene möchte nicht mehr an die zwölf Jahre der NS-Herrschaft erinnert werden, sie glorifiziert die deutsche Geschichte davor und danach (mit Ausnahme der DDR-Geschichte). Und sie macht diese Einstellung zum politischen Programm.

Doron Kiesel und Noemi Staszewski benennen in ihrem einleitenden Text zum Sammelband „Erinnern und Vergessen“ „die Spannung zwischen kollektivem und individuellem Gedächtnis“. Es kommt eben nicht nur darauf an, wie die Erinnerung an die Shoah offiziell in Gedenkstunden und zu bestimmten Daten wie dem 27. Januar oder dem 9. November gepflegt wird, sondern auch darauf, wer sie wie nutzt, instrumentalisiert, missbraucht oder sich distanziert. „Wenn gewaltbereite rechtsradikale Menschen die Erinnerung an den Nationalsozialismus pflegen, dann erfolgt diese Erinnerung im schärfsten Gegensatz zu jener Erinnerung an den Nationalsozialismus, die aus der Perspektive der Shoah-Überlebenden und damit der Opfer geschieht. Hier löst sich die positive Konnotation des Erinnerungsbegriffs auf. Die Erinnerung hat eine Macht zum Guten und zum Schlechten, wenn Menschen und Menschengruppen sich die Deutungshoheit über eine ganz bestimmte Erinnerung selbst verleihen.“

Die „objets matériels“ der Shoah

Nicht nur Täter*innen, nicht nur deren Kinder und Enkel*innen neigen dazu, Verbrechen der Vergangenheit zu beschweigen. Aber die Gründe für dieses Beschweigen unterscheiden sich. Täter*innen und ihre Nachfahren schweigen, um Schuld abzuwehren, zu relativieren und in Unschuld zu verwandeln. Das Beschweigen ist jedoch – so Doron Kiesel und Noemi Staszewski – „bei Überlebenden oft ein Schutz, der die labile Balance zwischen Vergangenem und Gegenwärtigen zu halten hilft.“ Sie schildern einen Kaffeenachmittag mehrerer Damen in der Zeit von Schawu’ot. Die Damen tauschen Käsekuchenrezepte aus, doch dann erzählt eine der Damen, „dass sie auf dem Transport nach Auschwitz, drei Tage im Viehwagon, solchen Hunger gehabt haben. Ihre Tante hätte irgendwann angefangen, vom Tscholent zu Hause zu erzählen, wie gut er geschmeckt hat und wie sie ihn zubereitet haben.“ Das Gesprächsthema ändert sich schlagartig, bis eine der Damen unterbricht: „Könnt ihr nicht endlich aufhören über Tscholent zu reden!“

Der Tscholent funktioniert hier wie das klassische Beispiel des „objet matériel“ der Romane von Marcel Proust. Nur bewirkt der Tscholent nicht die Wiedererweckung einer unbeschwert-verklärten Kindheit durch das Eintauchen einer Madeleine in eine Tasse Tee. Der Tscholent wird zum „objet matériel“, zur Metapher der Shoah. Als „objet matériel“ umfasst der Begriff das Leben vor der Shoah wie die Shoah selbst und wird durch das im Gespräch entstandene Unbehagen auch zum Zeichen der mit der Shoah verbundenen Traumata. Kein Wort, kein Gegenstand, keine Erinnerung ist harmlos. Die Ambivalenz der Wörter, der Gegenstände des Alltags ist eine ständige Belastung. Jedes Wort „kann Flashbacks auslösen, den Stresspegel erhöhen oder Ängste wachrufen. Deshalb vermeiden Überlebende Situationen, von denen sie im Voraus wissen, dass sie böse Erinnerungen wachrufen.“

Die beschriebene Szene fand in einer Gemeinschaft älterer jüdischer Damen statt, doch mag sie auch als Metapher für das tägliche Geschehen in der Nachkriegsgesellschaft bis heute gelten. Doron Kiesel und Noemi Staszewski: „Denn nicht für alle liegt die Heilung in der Erinnerung. Sie würden gerne vergessen – wenn sie könnten. / Das ist die eine Seite, die andere ist die Angst, dass ihre Geschichten und die ihrer Familien, dass das ihnen zugefügte Leid vergessen werden, dass all die Erniedrigungen, Entbehrungen, Verluste umsonst waren.“

Der ungeöffnete Koffer

Der Begriff der Traumatisierung kann im Sprachgebrauch des Alltags seine Brisanz verlieren. Psychotherapeut*innen haben es immer wieder mit Patient*innen zu tun, die Ehe- und Erziehungsprobleme, Probleme mit Kolleg*innen oder Chef*innen, Auseinandersetzungen mit ihren Eltern thematisieren und mehr oder weniger jede Erinnerung an vergangenes Leid mit dem Begriff der Retraumatisierung belegen. Wer gelegentlich deprimiert ist, neigt mitunter dazu, sich selbst das Krankheitsbild einer Depression zuzuschreiben. Kurt Grünberg schlägt daher vor, für „Spätfolgen der Shoah“ den Begriff „extremes Trauma“ oder auch „Extremtraumatisierung“ zu verwenden: „Zur differenzierten Auseinandersetzung mit den psychosozialen Spätfolgen der Shoah ist es also wichtig, einen Trauma-Begriff zu verwenden, der die oben kurz dargelegte Beliebigkeit von Auslegungen traumatischen Geschehens von vornherein ausschließt.“

Das bedeutet auch, dass der „Kontext der Shoah“ stets bedacht werden muss. Nur dann wird deutlich, was antisemitische Pöbeleien, Mikroaggressionen und Verbalattacken, körperliche Angriffe und – nicht erst seit Halle – Morde für Jüdinnen*Juden heute bedeuten: „So ist beispielsweise zu vermuten, dass der im Oktober 2019 in Halle erfolgte Anschlag auf an Jom Kippur in der dortigen Synagoge betende Juden nicht nur traumatisiert, sondern Überlebende retraumatisiert hat. Im Innern der Synagoge eingesperrt zu sein, während von außen geschossen wurde, was drinnen zu hören und über einen Monitor auch zu sehen war, wird enorme Ohnmacht und heftige Todesängste ausgelöst haben. In sicherer Entfernung, aber identifiziert mit den Menschen in der Synagoge stiegen in mir Bilder auf, wie Nazi-Schergen Juden in Synagogen trieben, die Tür verrammelten und das Gotteshaus mitsamt den darin befindlichen Menschen anzündeten. Wer versucht hatte, durch Fenster nach draußen zu gelangen, wurde erschossen.“

Kurt Grünberg verweist auf Forschungsergebnisse aus den 1960er Jahren, die belegten, „dass auch Nachkommen von ehemals Verfolgten psychosoziale Spätfolgen der Verfolgung ihrer Eltern aufwiesen.“ Er wendet diese Erkenntnis auf die Wirkung des Textes „Was gesagt werden muss“ von Günter Grass an. Dieser Text gehört sicherlich nicht zu den Ruhmesblättern der im Übrigen von mir sehr geschätzten Süddeutschen Zeitung (Veröffentlichung am 4.4.2012). Kurt Grünberg berichtet von einem Herrn, mit dem er als Therapeut in dem Frankfurter „Treffpunkt für Überlebende der Shoah“ zusammenarbeitete, der Günter Grass „fortan als potenziellen Mörder betrachtete. Als Angehöriger der Waffen-SS hätte Grass theoretisch doch auch ihn, Herrn L., erschießen können!“ Der hierzu gehörige Fachbegriff lautet „szenisches Erinnern der Shoah“. Es geht um „Szenen, in denen Erfahrungen aus der Vergangenheit mit gegenwärtigem Erleben in Zusammenhang gebracht werden.“

Moshe Teller referiert in mehreren Fallstudien, wie sich die Shoah im Leben von Menschen der zweiten (und dritten) Generationen auswirkt. Er zitiert den Psychoanalytiker William G. Niederland, der 1961 den Begriff „Überlebenden-Syndrom“ einführte: „Er stellte fest, dass die Symptome nicht nur bei Überlebenden, sondern auch in ihren Familien auftraten. Die in diesem Feld tätigen Wissenschaftler*innen sprechen von einer ‚Syndromreihe‘.“

In einer der Fallbeschreibungen geht es um einen ungeöffneten Koffer, den eine Überlebende der Shoah hinterließ. Sie hatte verfügt, dass „der gesamte Inhalt entsorgt und nichts geöffnet werden“ solle. Was tun? „Was ist mit dem Koffer? Es bleibt einem nichts anderes übrig, als diese geerbte Truhe für den Rest des Lebens mit sich zu tragen. Manchmal wird diese Truhe leichter, manchmal wird sie zum Tragen zu schwer. Ist diese empfangene Truhe eine, die nicht geöffnet werden darf? Weder damals, noch heute, noch in der Zukunft? Das ist das Erbe der Kinder von Menschen, die die Shoah überlebt haben.“

„Zeitzeugentheater“

Der Inhalt des Koffers ist nicht nur eine Angelegenheit der Erb*innen der Überlebenden. Lukas Welz, Vorsitzender von AMCHA Deutschland, unterstreicht, wie wichtig es ist, dass „Antisemitismus und Rassismus (nicht nur) auf radikale Ränder ausgelagert“ werden. Sie sind im übertragenen Sinne einer der Inhalte des ererbten Koffers: „Für die Bearbeitung und die Möglichkeit, einen guten Umgang mit den traumatisierenden Erfahrungen zu finden, zählt genauso entscheidend, wie die Umwelt, die Gesellschaft der Staat damit umgehen und für die Betroffenen handeln.“ Ignorieren die Kinder und Enkel*innen der Täter*innen diesen Zusammenhang, bleibt das Dilemma des ungeöffneten Koffers unauflösbar.

Naomi Staszewski und Ricarda Theiss schlagen zur Auflösung des Dilemmas das Konzept des „Zeitzeugentheaters“ vor. Dieses „bietet eine Handlungsperspektive an, um die Weitergabe der Überlebenserfahrungen im öffentlichen Raum zu thematisieren und zugleich über einen intergenerationalen Ansatz Zeitzeugen als Akteure in ein soziales Umfeld einzubinden, das ihnen Anerkennung und Aufmerksamkeit bietet.“ Teilnehmende waren Überlebende, darunter auch „Child Survivors“, sowie jüdische und nicht-jüdische Jugendliche.

Die dramaturgisch und musikalisch begleitete Inszenierung führte im Frankfurter Projekt dazu, dass „die Hälfte der Mitwirkenden zum ersten Mal über ihre Erfahrungen vor und während der Shoah gesprochen“ hat. Es entstand „ein multiperspektivischer Ansatz“ als Gegenbild und Gegenmodell zur herrschenden pädagogischen Praxis. „Die gängige, oftmals moralisierende Praxis der Shoah-Education verhindert einen sensiblen und offenen Zugang der Schüler*innen zum Thema und kann Abwehrmechanismen begünstigen. (…) Die pädagogische Arbeit sollte neben der Erinnerungsarbeit immer auch eine selbstreflexive und dialogische Auseinandersetzung der Lernenden erlauben. Dies erfordert unausweichlich die Auseinandersetzung mit eigenen Ismen, Stereotypen und Vorurteilen wie auch eine oftmals schmerzliche Auseinandersetzung mit den eigenen familienbiographischen Bezügen.“ In Israel wird das Konzept zur gemeinsamen Arbeit von Überlebenden der Shoah und der „Zweiten Generation Shoah-Überlebender“ genutzt.

Susanne Urban weist in ihrem Text mit dem Titel „Fließende Erinnerungen“ darauf hin, dass der Begriff des Zeitzeugen in anderen Sprachen nicht auf die Berichtenden, sondern auf den Inhalt der Aussage bezogen wird, beispielsweise „Survivors Testimony“, „Witness of…“, „témoignages de survivants“ oder „Edut“ (hebräisch: Zeugnis). Der Einsatz von Zeitzeug*innen in pädagogischen Prozessen kann ohne Kontextualisierung zur Instrumentalisierung führen: „Zeitzeugen und deren Aussagen werden auch bewusst eingesetzt, um standardisierte Phrasen von Verständigung und Versöhnung zu propagieren.“ Natürlich sind die Schüler*innen bei und nach diesen Begegnungen emotional berührt, doch bleibt die Frage: „Was aber bleibt von dieser Begegnung, die nur sehr bedingt persönliches Kennenlernen bedeutet?“ Letztlich bleiben die Zuhörenden passiv und werden durch diejenigen in ihren Auffassungen gelenkt, die die Zeitzeug*innen eingeladen haben. Der Inhalt der Aussagen der Zeitzeug*innen gerät in den Hintergrund, er wird personalisiert und gerät so in die Gefahr, als „Einzelfall“ wahrgenommen zu werden.

Der Begriff „Zeitzeugentheater“ darf nicht mit dem Begriff „Gedächtnistheater“ verwechselt werden, den Y. Michal Bodemann 1996 (Gedächtnistheater – Die Jüdische Gemeinde und ihre deutsche Erfindung, Hamburg 1996) einführte und Max Czollek in seinem Essay „Desintegriert euch!“ (München 2018) aufgriff. „Gedächtnistheater“ bezeichnet eine Instrumentalisierung der Shoah in der deutschen Erinnerungs- und Gedenkkultur, „Zeitzeugentheater“ hingegen eine Methode, dieser Instrumentalisierung entgegenzuwirken. Susanne Urban konstatiert „die Verweigerung der jeweiligen Mehrheitsgesellschaft, sich zu erinnern, oder auch der Versuch, anstelle des Vergessens eine Erinnerung zu konstruieren, die besser ausfällt als die emotional belastende Realität.“ Diese Variante der „Weigerung zu erinnern“ ignoriert jeden Schmerz der Opfer und „das Vergessen des Zeitzeugen, der/die bestimmte Sequenzen nicht erinnern will oder kann oder Erinnerungen verschließt, weil sie zu schmerzhaft sind.“

Susanne Urban: „Nur wenn wir Überlebende als Individuen wahrnehmen, die wir nicht nach unseren Bedürfnissen und erinnerungskulturellen Tendenzen zurechtbiegen, damit sie didaktisch und museal in unser Erwartungsschema passen, würdigen wir ihre Erzählungen.“ Eben dies leistet „Zeitzeugentheater“. Der Koffer wird geöffnet. Der hohe Aufwand, der für die Umsetzung des Konzepts „Zeitzeugentheater“ erforderlich ist, zeigt jedoch auch, wie schwierig es sein dürfte, solch nachhaltige Begegnungen in möglichst vielen Bildungsprozessen einzusetzen.

Konstruktion von Erinnerung

Auch für Historiker*innen gilt, was für pädagogische Prozesse gilt. Jens Hoppe thematisiert das unausgewogene Verhältnis von schriftlichen und mündlichen Zeugnissen. Ein Problem der schriftlichen Zeugnisse besteht darin, dass die Nazis zahlreiche Akten vernichteten, damit sie den Alliierten nicht in die Hände fielen, dass jüdische Dokumente verloren gingen, vernichtet wurden oder in zeitlichem Abstand nachberichtet werden mussten. Zu unterscheiden sind der juristische und der historische Begriff der Zeug*innenschaft. In Prozessen gegen Täter*innen der NS-Zeit versuchten deren Anwälte, Shoah-Überlebende mit Detailfragen zu verunsichern. Wer jedoch im Viehwagon in ein Lager verschleppt wurde, wird kaum Aussagen über die Lage des Lagers machen können, doch auf solchen Details beharrten die Strafverteidiger der Täter*innen.

Hinzu kommt, dass Berichte, auch Filme und Romane nachträglich die Wahrnehmung verändern können. Jens Hoppe zitiert Hannah Arendt, die diese Zusammenhänge aus den Aussagen der Zeug*innen im Eichmann-Prozess ableitete. Nur belegen Ungenauigkeiten in der individuellen Erinnerung mitnichten, dass ein Ereignis nicht stattgefunden hat. Allerdings können Erinnerungen – gerade in einem Strafprozess – miteinander konkurrieren. Zeitzeug*innen sind nicht nur die Opfer, sondern auch die Täter*innen, die Wege suchen, die Erinnerungen und Zeugnisse der Opfer zu relativieren oder gar zu widerlegen. Ein weiterer Kronzeuge von Jens Hoppe ist Harald Welzer, der daher „Zeitzeugenberichte ‚adressatenbezogene Konstruktionen‘“ genannt hatte. „Welzer verweist neben dem Konstruktionscharakter des Erinnerten auf Erwartungen des Befragten an das, was der Interviewer hören mag.“

Wer sich mit mündlichen Berichten als Quellen befasst, muss – so Jens Hoppe – daher zunächst seine eigene „Position“ klären und sich damit auseinandersetzen, was für sie*ihn das Zeugnis der Zeitzeug*innen konkret bedeutet, möglicherweise auch im Hinblick auf durch die eigene Vergangenheit oder die Vergangenheit von Eltern oder Großeltern bedingte Interferenzen. Letztlich ist dies eine Grundvoraussetzung aller hermeneutischen Prozesse und gilt gleichermaßen für Jurist*innen, Historiker*innen, Pädagog*innen.

Schulen, Museen, Veranstalter*innen von Gedenkfeiern hoffen auf eine reinigende und präventive Wirkung des persönlichen Erscheinens und der Authentizität von Zeitzeug*innen. Da jedoch immer weniger Zeitzeug*innen zur Verfügung stehen, versuchen manche Museen, über interaktive Hologramme Authentizität zu vermitteln, so beispielsweise seit Februar 2020 das Deutsche Technikmuseum Berlin mit Anita Lasker-Wallfisch. Ob Filme und andere visuelle Medien geeignet sind, das Geschehen der Shoah zu vermitteln, untersucht Lea Wohl von Haselberg. Sie versteht Filme als Indikatoren für gesellschaftliche und politische Entwicklungen. „Neben Verzerrungen der historischen Ereignisse finden sich durchaus auch willentliche Umdeutungen. Was nicht vergessen werden kann oder darf, kann auf diese Weise um- und überschrieben werden. So lässt sich am Film auch ablesen, was Gesellschaften erinnern und vergessen, wann sie beginnen, sich zu erinnern, und was wir nicht willentlich vergessen können.“

Zu ergänzen wäre hier meines Erachtens die Frage nach der Resonanz des Publikums. Wie kam es zur Popularität von „Schindler‘s List“ (Steven Spielberg 1993)? Und welches Bild von der Shoah vermittelte dieser Film? So ließe sich darüber streiten, ob der Film „Schindler’s List“ von Steven Spielberg eine authentische Darstellung der Shoah enthält oder ob er möglicherweise zur Annahme verführen könnte, die Mehrheit der deutschen Bevölkerung hätte ähnlich wie Schindler gehandelt. Wäre es denkbar, dass viele Deutsche nach diesem Film in ihren Familien nach Menschen suchten, die Jüdinnen*Juden gerettet haben, und diese dann auch zu finden glaubten? Eine der zurzeit oft zitierten Studien ist die Studie „MEMO Deutschland“ des Instituts für interdisziplinäre Konflikt- und Gewaltforschung an der Universität Bielefeld. Andreas Eberhardt beginnt sein Vorwort mit einem Verweis auf diese Studie: 28,7 Prozent der Befragten beantworteten die Frage „Haben Vorfahren von Ihnen während der Zeit des Nationalsozialismus potenziellen Opfern geholfen?“ mit „Ja“.

Geschichtsschreibung und Religion

Salomon Korn ist der Autor des vielleicht zentralen Essays des Sammelbandes. Er verknüpft historische, religiöse, ästhetische und politische Aspekte des Spannungsfeldes von Erinnern und Vergessen. Er analysiert in seinem Beitrag mit dem lapidar klingenden Titel „Kultur der Erinnerung“ „die enge Verzahnung zwischen Erinnern und Vergessen“, wie sie sich beispielsweise in Friedensverträgen spiegele. Allerdings ist „verordnetes Vergessen“ ebenso wenig nachhaltig wirksam wie verordnetes Erinnern, im Übrigen eine Erfahrung der sogenannten „Wahrheitskommissionen“ in verschiedenen afrikanischen Staaten. „Spätestens jedoch seit Auschwitz besitzt das durch die Geschichte hindurch zu beobachtende Phänomen des vertraglich verordneten Vergessens keine Gültigkeit mehr.“ Verträge berühren nur die Oberfläche, die reale Erinnerung reicht tiefer, viel tiefer.

Dennoch stellt Salomon Korn die Frage, ob „Vergessen“ etwas Positives bewirken könnte. „Was wäre Europa und der Welt erspart geblieben, wenn die Serben die Schlacht auf dem Amselfeld (1389) und die Türkenherrschaft vergessen hätten – von jüngeren Erinnerungen an das, was im letzten Jahrhundert zwischen Serben und Kroaten geschah, ganz zu schweigen.“ Gäbe es möglicherweise sogar eine Hierarchie des Gedenkens wie des Vergessens? Eine solche Hierarchie wäre sicherlich von Land zu Land verschieden. So wäre es – ich bleibe bei dem von Salomon Korn gewählten Beispiel – aus meiner Sicht sicherlich hilfreich, ein Buch wie „Die Brücke über die Drina“ (1945) des jugoslawischen Literaturnobelpreisträgers Ivo Andrić (1892-1975) auch in deutschen Schulen zu lesen oder Filme wie „Underground“ (1995) und „Das Leben ist ein Wunder“ (2004) von Emir Kusturica (*1954) zu analysieren, um zu ergründen, was sich zu Beginn und gegen Ende des 20. Jahrhunderts auf dem Balkan abspielte.

Am Beispiel einer solchen Analyse ließe sich dann auch ein Kerngedanke von Salomon Korn diskutieren: „Die entscheidenden Geschichtsvorstellungen der Bibel wurden nicht von Historikern, sondern von Priestern und Propheten geprägt: und die Kontinuität der Erinnerung war und ist durch Ritual und Rezitation gewährleistet. Der Sinn von Geschichte und die Erinnerung an die Vergangenheit sind keineswegs mit der Geschichtsschreibung gleichzusetzen.“ Es geht um Gefühle, um gefühlte Erinnerung, und wo könnte es mehr Gefühl geben als in Religionen? Religionen sorgen einerseits für die Weitergabe von Traditionen und Erinnerungen, werden aber andererseits auch instrumentalisiert, um eine bestimmte Sicht der Vergangenheit im Ritual zu heiligen, Waffen zu segnen und – dies lässt sich nicht nur am Beispiel Jugoslawiens belegen – Geschichtsschreibung und daraus abgeleitete Entwürfe für die Zukunft zur unangreifbaren Wahrheit zu verklären. Unangreifbar? Ohne Frage?

Salomon Korn beschreibt die jüdische Religion als einen Versuch, sich einem nachhaltigen Erinnern zu nähern, das historische und religiöse Wahrheiten miteinander verbindet. Hinzu kommt aus meiner Sicht, dass das Judentum – im Unterschied zu anderen Religionen – gleichzeitig die Spielräume des Zweifels auslotet.

Einerseits: Die Erinnerung an den gelungenen Auszug aus Ägypten, die Erinnerung an die Rettung der jüdischen Gemeinde im Buch Esther, an den Aufstand der Makkabäer, die Zerstörung des Zweiten Tempels, die Personifizierung der mit Vernichtung drohenden Gegner in Amalek und Haman – all diese in wiederkehrenden und regelmäßigen Ritualen und Feiertagen vergegenwärtigten Erinnerungen könnten jedem zeitgenössischen Menschen, nicht nur Jüdinnen*Juden, vor Augen führen, was es bedeutet, mit Vernichtung bedroht zu werden, zu flüchten, sich zu wehren und sich die Freiheit zu erkämpfen.

Andererseits: die jüdische Religion ist auch eine Geschichte des Zweifels, der Ungeduld, des Abfalls, der Auszug aus Ägypten ist die eine Seite, die 40 Jahre in der Wüste sind die andere, und – hier möchte ich Salomon Korns Analyse zuspitzen – sie dokumentiert auch eine Geschichte von Erpressung, Vergeltung und Rache, die zehnte Plage ist Mord der Erstgeborenen, Haman wird gehängt.

Salomon Korn: „Weil darüber stets berechtigte Zweifel bestanden, hat die ‚Kultur der Erinnerung‘ eine Fülle von Hilfsmitteln zur Stützung von Erinnerung hervorgebracht: sakrale und profane, sinnliche und unsinnliche, materielle und immaterielle, figurative und abstrakte. Ihre Geschichte ist so alt wie die des Menschen. Die entscheidende Wende in der Geschichte der Erinnerung und ihrer unterschiedlichen Erscheinungsformen vollzieht sich in der Wüste.“ Es ist die Wende zum Monotheismus, zukünftige Zweifel inklusive. Vielleicht ist die Gestalt Davids eines der eindrucksvollsten literarisch fixierten Beispiele der Zerrissenheit und Ambivalenz eines Menschen: sein Heldentum und seine Verfehlungen sind gleichermaßen Teil seiner Persönlichkeit und ständiger Anlass zu konstruktivem Streit.

Was in der religiös gepflegten jüdischen Erinnerungskultur gelingt und in immer wieder neuen und endlosen Debatten über die Bewertung der in den Büchern des Tanach geschilderten Geschehnisse zu neuem Leben erwacht, gelingt in der deutschen Erinnerungskultur nicht und wird ihr wegen der „Dimension des Verbrechens“, für das „Auschwitz“ steht, nie gelingen. Noch einmal Salomon Korn: „Die ‚Nachfahren der Täter‘ können nicht in gleicher Intensität um die ihnen ferner stehenden Opfer des Völkermordes trauern wie die unmittelbar betroffenen Nachfahren der Ermordeten oder Überlebenden. Während Letztere im Gedenken vorwiegend die Erinnerung an die Ermordeten der eigenen Familie, des eigenen Volkes bewahren, müsste das Gedenken der ‚Täter-Abkömmlinge‘ an die Opfer des nationalsozialistischen Massenmordes immer auch die Erinnerung an Verbrechen des eigenen Volkes sowie Fragen nach deren Ursachen und Folgen einschließen.“

Denkmäler, Mahnmale, Gedenkstätten

Denkmäler, Mahnmale, Gedenkstätten sind Elemente des offiziell-offiziösen Modus der Erinnerung. Sie gelten als Stätten kollektiver Erinnerung. Sie richten sich jedoch nicht unbedingt an die Opfer und ihre Nachfahren, sondern an die Nachfahren der Täter*innen. Dies gilt beispielsweise für offizielle Denkmäler wie das in Berlin errichtete „Denkmal für die ermordeten Juden Europas“ oder auch die von Gunter Demmig konzipierten „Stolpersteine“. Miriam Victory Spiegel nennt zahlreiche weitere Beispiele, die aus ihrer Sicht belegen, dass es in Deutschland eine Dimension der Anerkennung der Shoah gibt, die sie in anderen Ländern vermisst. Sie zitiert Susan Neimann („Von den Deutschen lernen – wie Gesellschaften mit dem Bösen in ihrer Geschichte umgehen können“, München 2020), die die deutsche Erinnerungskultur als Vorbild für die USA nennt.

Miriam Victory Spiegel konstatiert die positive Seite der in Denkmälern und Mahnmalen fixierten Erinnerung, nennt aber auch die Defizite. Denkmäler „spenden Überlebenden und ihren Nachkommen nicht unbedingt Trost, eher dienen sie als Metapher zur Ehrung der Toten, der Brutalität, der sie ausgesetzt waren, des irreparablen Verlustes, den ihre Familien, die Überlebenden und Gemeinschaften erlitten haben, ohne auf deren individuelle Bedürfnisse, zu trauern, und zu einem emotional weniger belasteten Leben zurückzukehren, einzugehen. Ironischerweise trägt in diesem Sinne, selbst wenn die Trauernden emotional nicht aufgefangen werden, die Existenz dieser Gedenkstätten wesentlich dazu bei, dass die Trauernden sich in der Welt irgendwie sicherer fühlen.“

Das ist die eine Seite, die andere ist ein Grundproblem deutscher Erinnerungskultur. Salomon Korn legt den Finger in die grundlegende deutsche Wunde, die eigentlich gar keine Wunde ist, sondern eher ein diffuses Bedürfnis nach internationaler Anerkennung, die Sehnsucht, eine Nation, ein Land zu sein wie alle anderen auch. Und solange diese Sehnsucht nicht erfüllt wird, zieht man*frau sich in den Kokon privater Unschuld zurück, die beispielsweise über die Vertreibungserfahrung der Großeltern bestätigt werden soll. Denkmäler und Mahnmale wirken möglicherweise kontraproduktiv, kompensieren nicht geleistete Auseinandersetzung, indem sie sie verhindern, sie ästhetisieren das nicht Ästhetisierbare und schaffen auf diese Weise Distanz. Es wäre aber auch „die falsche Alternative, abstrakt-verinnerlichtes Gedenken nach monotheistischem Vorbild gegen ein in Denkmälern versinnlichtes Gedenken nach künstlerisch-ästhetischen Prinzipien auszuspielen.“

Salomon Korn diskutiert die Errichtung und Existenz von Denkmälern und Mahnmalen im Zusammenhang mit dem „Abbildungsverbot“ der Gesetzestafeln des Sinaï. Er schreibt, es sei „eine Anmaßung der jeweils denkmalschaffenden Generation zu glauben, ihre Denkmäler und Mahnmale könnten wesentlich über die eigene Lebensspanne hinaus nachhaltig Wirkung auf zukünftige Generationen entfalten. (…) Erst der Verzicht auf fragwürdig ‚dauerhafte‘ Monumente eröffnet die Möglichkeit, Denkmäler und Mahnmale als transitorisch begriffene Gebilde stärker mit unserer alltäglich gelebten Gegenwart zu verknüpfen.“

Insofern sind Denkmäler und Mahnmale nur eine unvollkommene Übergangslösung. Sie bleiben vorläufig, solange es nicht gelingt, eine reflektierte Verbindung zwischen Opfern und Täter*innen zu schaffen: „Die deutschen und jüdischen Erfahrungen haben es gezeigt: Die nicht geheilten Wunden müssen sowohl von den Opfern als auch von den Tätern und ihren Nachkommen betrauert werden, um Raum für eine alle Menschen umfassende und von ihrer Last befreite Gesellschaft zu schaffen, um Tikun Olam zu ermöglichen, um die Welt endlich zu heilen.“

Wissenslücken

Es gibt keine nennenswerten empirischen Studien zur Wirksamkeit von Erinnerungskultur, Gedenkstättenpädagogik oder einem die Shoah thematisierenden Schulunterricht. Es gibt nur Erfahrungen. Solche Erfahrungen referieren mehrere Autor*innen in „Erinnern und Vergessen“. Vielleicht ist die Schlussfolgerung erlaubt, dass die Begegnung mit Zeitzeug*innen und der Besuch von Gedenkstätten die Zuhörer*innen und Besucher*innen emotional beeindrucken. Das ist durchaus ein erster Schritt, aber die Frage der Nachhaltigkeit bleibt offen. Und vor allem bleibt die Einbeziehung der Perspektive der Opfer in der Regel eher zufällig.

Julia Bernstein und Katja von Auer referieren verschiedene Studien zum Antisemitismus in Schule und Gesellschaft. Die Perspektive der Betroffenen spielte bis etwa 2017 in diesen Studien so gut wie keine Rolle. Sie wurde systematisch vernachlässigt. Lehrkräfte verschieben die eigene Schuldgeschichte auf eine Gruppe, die sie ohnehin in ihrem Unterricht als problematisch klassifizieren: „Doch im Gegensatz zum Antisemitismus unter muslimischen Jugendlichen, über den die Lehrkräfte oft und gerne sprechen, wird die eigene familiäre institutionelle und kollektive Tradierung des Antisemitismus tabuisiert bzw. aktiv abgewehrt.“

Marina Chernivsky und Friederike Lorenz bestätigen diese Analyse in ihrer im November 2020 erschienenen Studie zum Antisemitismus. Lehrkräfte sprechen auf abstrakter Ebene sehr wohl über die Shoah, benennen auch antisemitische Denk- und Sprachmuster, beziehen diese jedoch in der Regel nie auf sich selbst oder auf die Vergangenheit ihrer Familie, ihrer Eltern oder Großeltern. Es bleibt abstraktes Bekenntnis.

Doch was müsste geschehen? „Die ‚Nachfahren der Täter‘ können nicht in gleicher Intensität um die ihnen ferner stehenden Opfer des Völkermordes trauern wie die unmittelbar betroffenen Nachfahren der Ermordeten oder Überlebenden. Während Letztere im Gedenken vorwiegend die Erinnerung an die Ermordeten der eigenen Familie, des eigenen Volkes bewahren, müsste das Gedenken der ‚Täter-Abkömmlinge an die Opfer des nationalsozialistischen Massenmordes immer auch die Erinnerung an Verbrechen des eigenen Volkes sowie Fragen nach deren Ursachen und Folgen einschließen.“

Können sie nicht oder wollen sie nicht? Oder beides? Anna-Patrizia Kahn bringt es in „Die Sache zwischen uns“ auf den Punkt: „Doch der Teufel muss mich geritten haben, als ich mich plötzlich fragte, was diese Erzieher, Seelen- und Vergangenheitspfleger eigentlich wirklich wollen: anderen etwas beibringen? Aber was? Verständnis fördern? Warum? Fühlen sie sich dazu gezwungen? Gehört es zum guten Ton, ein minimales, aber korrektes Schnell- und Fertigwissen über sechs Millionen ermordete Juden zu ‚haben‘? Muss man sich die passende Stimme, die angemessenen Wörter und die dazugehörige Miene eigens zurechtlegen? Wünschen sie möglicherweise deshalb die Anwesenheit von Überlebenden, weil sie selbst nichts glauben, nichts fühlen können?“

Erforsche dich selbst

Erinnerung verlangt Selbsterforschung. Das biblische „Sachor! – Erinnere dich!“ wäre der Auftrag an alle, nicht nur an Jüdinnen*Juden. Gabriel Strenger schreibt in seinem Beitrag zur jüdischen Tradition des „Sachor“, es gehe um „Vergegenwärtigung“: „‚Er-Innerung‘ ist also im wahrsten Sinn des Wortes das ‚Verbinden mit der Innerlichkeit‘, um sein Leben daran auszurichten.“ Es geht um Selbsterkenntnis, Selbst-Erkenntnis, um Selbst-Erforschung, um einen „Prozess“, eine Entwicklung, die durchaus auch – im Sinne Immanuel Kants – als „Ausgang des Menschen aus seiner selbst verschuldeten Unmündigkeit“ gestaltet werden könnte, nur mit dem Unterschied, dass stets Reste dieser „Unmündigkeit“ bleiben werden und bewusst bleiben müssen.

Das Selbst, das Ich ist Subjekt und Objekt jeder Erinnerung und jeder „Erinnerungskultur“ zugleich. Für das Verhältnis zwischen den Opfern der Shoah und ihren Nachfahren auf der einen Seite und den Nachfahren der Täter*innen auf der anderen bedeutet dies schließlich das Bewusstsein des auf immer Trennenden. Wer sich dieser „Sache zwischen uns“ – das sind drei Wörter, die jedes für sich genommen wie im Zusammenhang gleichermaßen irritieren mögen und sollten – nicht bewusst wird, wird scheitern.

Begriffe wie „Versöhnung“, „Verständnis“ oder „Empathie“ verbieten sich dann von selbst. Sie bleiben an der Oberfläche, sie bagatellisieren. Julia Bernstein und Katja von Auer wagen sich an eine meines Erachtens treffende Beschreibung der Gründe des sogenannten „Post-Holocaust-Antisemitism“, der nicht nur das Leid der Opfer ignoriert, sondern auch den eigentlichen Grund der jeweiligen Ignoranz entlarvt: „Das öffentliche ungenierte Spektakel der Opferinszenierung ist nur vor der Folie einer selbstkritischen nationalen Identität möglich, die sich der Schuld und der Notwendigkeit der Erinnerung bewusst ist und durch die vollzogene und als erfolgreich erachtete Aufarbeitung nun einen Schlussstrich gezogen hat.“

Beispiele für dieses „Spektakel“ sind Legion. Julia Bernstein und Katja von Auer zitieren Werbeplakate der Bundeswehr, die Werbung eines Optikunternehmens mit dem Slogan „Six Million Glasses“, Aktionen der Tierschutzorganisation PETA und von Abtreibungsgegner*innen, alltagssprachliche Entgleisungen, Vergleiche von Christian Drosten mit Josef Mengele oder auch die Bezeichnung der „Ärzte ohne Grenzen“ durch eine populäre deutsche Schauspielerin als „Reverse-Mengele“, wenn sie entschieden, dass jemand eines der griechischen Lager für Geflüchtete verlassen könne. „Eine solche Aneignung und plakative Verwendung nationalsozialistischer Symbolik sowie deren mediale Reproduktion maximieren nicht nur das Maß der Banalisierung millionenfachen Mordes, sondern perpetuieren auch die Nichtanerkennung der Existenz jüdischen Lebens in Deutschland.“

Ulrike Jureit fasst die Botschaften des Sammelbandes „Erinnern und Vergessen“ zusammen. Ihr Fazit wird in der Doppelformel „gelebt“ und „erlebt“ deutlich. Die Vokabel „erleben“ ließe sich – so möchte ich es formulieren – auch als „er-leben“ verstehen, ein Prozess, in dem sich das „Erlebte“ ständig verändert: „Tradierung von Vergangenheit ist kein magisches Zauberwerk, sondern die gelebte und erlebte Beziehung dessen, was historisch gewesen ist.“ Es ist letztlich die Frage, wie „Gelebtes“ zu „Erlebtem“ wird, wie sich Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft aufeinander beziehen. Und dazu gehört auch das „Vergessen“. Ulrike Jureit zitiert einen Brief von Theodor W. Adorno vom 29. Februar 1940 an Walter Benjamin: „Ob ein Mensch Erfahrungen machen kann oder nicht, ist in letzter Instanz davon abhängig, wie er vergisst.“ Wohlgemerkt: sie schreibt „wie“, nicht „ob“! Anna-Patrizia Kahns Buch hat kein Fazit, keinen Abschluss: „Weil es kein Ende geben kann. Vielleicht nur den Wunsch nach einem neuen Anfang // Und deshalb endet dieser Satz ohne Punkt.“

Norbert Reichel, Bonn

(Anmerkungen: Erstveröffentlichung im Januar 2021, alle Internetlinks wurden am 15. September 2022 auf ihre Richtigkeit überprüft. Das Titelbild ist ein Ausschnitt aus dem Bild „Treat Me Like A Fool, Treat Me Like I’m Evil“ von Sandra del Pilar, 2017, Öl und Acryl auf Leinwand und transparenter Synthetikfaser, © Carlo Sintermann. Ich darf mich bei Sandra del Pilar bedanken, dass ich dieses Bild mehrfach als Titelbild von thematisch miteinander verwandten Texten verwenden darf.)