Dynamische Religiosität

Ein Gespräch mit Harry Harun Behr

„Im Abendland ist solche Unwandelbarkeit kaum denkbar, denn dort gehört ja Vieltönigkeit nicht nur zur Musik, sondern zu allem menschlichem Streben und Verlangen. Kühles Klima, fließendes Wasser, der Wechsel der vier Jahreszeiten: diese Elemente geben dem Leben eine so vielschichtige Bedeutsamkeit und so viele widerstreitende Willensrichtungen, dass der Abendländer notwendiger weise von vielen Sehnsüchten und deshalb auch von rastlosem Tatendrang getrieben ist. (…) Denn des Abendländers Welt ist eine geschichtliche Welt: ewiges Werden, Geschehen, Vergehen. Ihr mangelt jene Ruhe, die nur von der Stille und vom Stillstehen kommen kann; die Zeit ist ein Feind, dem man immer mit Verdacht begegnet; und niemals hallt im Jetzt ein Klang der Ewigkeit.“ (Muhammad Asad, Der Weg nach Mekka, Ostfildern, Patmos Verlag, 1997, amerikanische Originalausgabe: The Road to Mecca, New York, Simon & Schuster, 1954)

Wenige Menschen kennen alle drei monotheistischen Religionen aus eigenem Erleben, wenige kennen darüber hinaus die Spielarten einer säkularen Erziehung, in der die Künste, die Literatur, die Musik spirituelle Welten schaffen, die mitunter vielleicht sogar religiöser konnotiert sind als gedacht. Einer dieser Menschen ist Harry Harun Behr, geboren im Jahr 1962 in Koblenz, Professor für Erziehungswissenschaft mit dem Schwerpunkt Islam an der Universität Frankfurt am Main. Er forscht und lehrt zum Islamischen Religionsunterricht, zur Anthropologie und Bildungslehre des Korans sowie zu intersektionalen Aspekten des Islam. Er ist Mitglied im Rat für Migration, in der Indonesia Germany Advisory Group sowie der Deutschen Gesellschaft für Islamisch-Theologische Studien. Der Demokratische Salon hat kürzlich einen von ihm gemeinsam mit Meltem Kulaçatan herausgegebenen Sammelband empfohlen. Titel des Essays: „Die Sehnsucht recht zu haben“.

Kasseler, Sauerkraut und eine zweite Geburt

Norbert Reichel: Vielleicht beginnen wir mit einigen persönlichen Daten. Sie kommen aus einer Familie mit jüdischen und mit christlichen Vorfahren, Sie selbst sind zum Islam konvertiert.

Harry Harun Behr

Harry Harun Behr: Die Familie meiner Mutter ist jüdischer Herkunft. Einige der Verwandten sind aber in der Weimarer Zeit, wie viele damals, aus Gründen der beruflichen Karriere zum Protestantismus konvertiert. Konversionen interessieren das halachische Gesetz eigentlich wenig. Man bleibt Jüdin oder Jude. Mein Großvater hat als Textilingenieur in der BASF gearbeitet. Sein Schwerpunkt waren Kunststofffasern. Das war ein kriegswichtiges Produkt. Als das Kautschuk-Embargo gegen das NS-Regime erhoben wurde und DuPont in den USA das Patent auf Nylon anmeldete, bekamen die Deutschen Probleme bei der Herstellung von U-Boot-Dichtungen, von Zündwatte, die auch noch bei Feuchtigkeit in den Gewehren funktioniert. Das war ein Grund für diese seltsame Mischung von Affiliation und Vertreibung. Dieser jüdische Zweig hatte eine Zeit in Kanada und in der Schweiz, nachher aber auch wieder in Deutschland. Später ist mein Großvater nach Israel in den Negev gegangen und hat dort in der Nitrozellulose-Industrie, einem Zweig der Rüstungsindustrie, Buße für seine Kollaboration getan. Wenn man das so bezeichnen kann.

Meine Mutter ist also nominell evangelisch, kommt aber aus einem jüdischen Haus. Ich kann mich noch gut daran erinnern – die Familie war prominent, die Großeltern wohnten in Ludwigshafen – dass aus Worms ein reformierter Rabbiner zu ihnen kam, um den Schabbat einzuleiten. Der Schabbat wurde nicht gehalten, er wurde nur gefeiert. Wie sich das gehört, mit Kasseler, Sauerkraut und Kartoffelbrei.

Norbert Reichel: Das ist eine interessante Kombination.

Harry Harun Behr: Ja genau. Immer wenn ich das meinen jüdischen Freunden und Kollegen erzähle, sagen sie, sie wissen genau, was das für Familien waren, wir kennen unsere Leute. Mein Vater stammt aus Oberfranken, aus der Region zwischen Hollfeld und Bayreuth, Schönfeld, Lichtenfels, Rehau, katholisches Oberfranken, das war dieser Minoritätenkatholizismus. Daher kommt auch diese Doppelung. Ich wurde erst beschnitten, dann katholisch getauft. Aber erzogen wurde ich so nicht – naja wir haben diese Kasualien, Ostern, Weihnachten, auch Kommunion gefeiert – aber katholisch erzogen? Nein, bei uns stand anderes im Vordergrund. Meine Mutter war Tänzerin am Koblenzer Staatsballett, mein Vater Redakteur im Feuilleton der Rheinzeitung. Das war meine Sozialisation: Kunst, Philosophie, Kultur, Journalismus, Literatur, Theater.

Norbert Reichel: Irgendwann haben Sie sich dann für den Islam entschieden.

Harry Harun Behr 1979 in Jakarta

Harry Harun Behr: Ich hatte als Jugendlicher Gelegenheit, nach Indonesien zu gehen, dort bei einer Gastfamilie zwei Jahre zuzubringen, dort auch die 11. und 12. Klasse besucht. Die 13. Klasse musste ich dann in Deutschland, in Münster in Westfalen, nachholen. Das war schon nicht mehr Koblenz. Ich bin im Alter von 16 Jahren mit dem in Indonesien praktizierten Islam in Kontakt gekommen. Das hat mich schon interessiert. Mich hat die Art und Weise interessiert, wie Religiosität, man könnte auch sagen Spiritualität, verwoben war in einen säkular durchstrukturiertem Alltag. Das war in der Suharto-Ära im Übergang von einer harten zu einer weichen Diktatur …

Norbert Reichel: Haji Mohamed Suharto (1921-2008) regierte von bis 1967 bis 1998 und war vor seiner Amtszeit verantwortlich für die Massaker an Kommunisten und regierungskritische Studierende in den Jahren 1965 und 1966. Sie waren etwa 15 Jahre nach diesen Massakern in Indonesien, von 1979 bis 1981.

Harry Harun Behr: Er wurde zum „Smiling General“ – so auch der Titel eines Buches von O.G. Roeder über ihn (erschienen 1970 mit dem Untertitel „President Soeharto of Indonesia“ und auch noch lieferbar) – mit seiner New-Order-Policy, die dazu da war, den pazifischen Raum neu zu strukturieren, eine Politik, die von den fünf Mitgliedstaaten – heute sind es zehn –der 1967 gegründeten ASEAN (Association of Southeast Asian Nations), ausging, die dann auch von Ronald Reagan aufgegriffen wurde. Die fünf Mitgliedstaaten waren die vormaligen Verbündeten der USA im Zweiten Weltkrieg, das waren Indonesien, Malaysia, die Philippinen, Singapur und Thailand. Eine Erweiterung erfolgte erst schrittweise ab 1984.

In diese Zeit kam ich hinein. Es war so etwas wie meine zweite soziologische Geburt – so würden Religionswissenschaftler sagen. Ich habe zunächst eine neue Sprache gelernt, Bahasa, die ich heute wie meine Muttersprache spreche. Wenn ich eine Radiosendung in Indonesien spreche, hört niemand, dass Bahasa nicht meine Muttersprache ist. Sie denken, ich käme aus Sumatra. Das zweite war die Begegnung mit Religion, mit praktizierter Religion. Das war keine Abkehr vom Katholizismus meines Vaters, der eigentlich gar nicht vorhanden war, oder dem Judentum meiner Mutter. Ich hatte aus Indonesien auch nur Briefkontakt mit meinen Eltern. Internet gab es noch nicht, Telefonieren war unbezahlbar teuer. Wir haben Luftpostbriefe geschrieben, die aber auch nur sieben Tage unterwegs waren. Ich habe damals ein Luftposttagebuch geschrieben.

Ich weiß noch, als ich meiner Mutter im März 1980 schrieb, dass ich mich für die praktizierte Religion interessierte, schrieb sie mir zurück, typisch meine Mutter, auch typisch jüdisch: „Lass dich nicht mit Gott ein, ich kenn‘ mich da aus.“ Mein Vater sagte: „Schön, dass der Junge eine Religion hat.“ Damit haben Sie die beiden Temperamente meiner Eltern ganz gut umrissen.

Der plötzliche Tod eines Amerikaners

Norbert Reichel: Was hat Sie nach Indonesien gebracht?

Harry Harun Behr: Der plötzliche Tod eines Amerikaners. Das wäre doch ein schöner Buchtitel! Ich wollte mit dem American Field Service (AFS) in die USA. Der AFS gibt Stipendien für noch nicht volljährige Jugendliche, die ein Gastland für in der Regel ein Jahr besuchen wollen, dort in einer Gastfamilie unterkommen. Traumziel aller deutschen Jugendlichen war damals die USA. Da wollte ich auch hin und mir wurde eine Gastfamilie zugeteilt. Ich hätte im August fliegen sollen, aber im Juni starb der Gastvater in spe an einem Schlaganfall. Die Familie sah sich daher außerstande, einen deutschen pubertierenden High-School-Schüler zu beherbergen.

Bei uns in Münster war ein amerikanischer Luftwaffenoberst stationiert, ein sogenannter „Returnee“, um den herum wir uns gruppierten. Man muss wissen, dass der AFS ursprünglich aus den amerikanischen Streitkräften entstanden ist. Der American Field Service – das waren die Sanitäter, die die Verwundeten im Feld versorgten. Der AFS sah sich im Dienst der Völkerverständigung. Der Luftwaffenoberst sagte, die Zentrale in New York City lege ein neues Programm auf, ein Multinational Program, darin ein Spezialprogramm, das nicht englisch, nicht französisch orientiert war, für das Ausland in sogenannten „Schwellenländern“, Ländern aus der Sicht des globalen Nordens im globalen Süden, an denen die USA ein strategisches Interesse im Sinne einer Vernetzung hatten.

Norbert Reichel: Einige kamen aus dem Kreis der nach wie vor vorhandenen „Bewegung der Blockfreien Staaten“, des „Non-Aligned Movements“, das sich erstmals 1955 in Bandung (Indonesien) traf, bevor es sich dann 1961 in Belgrad (Jugoslawien) gründete. Suhartos Vorgänger Sukarno war einer der Initiatoren.

Harry Harun Behr: Aber es war nicht nur dieser Kreis. Es waren auch Uganda, Südafrika, auch Russland in diesem Programm des AFS. Man darf nicht unterschätzen, was dahintersteckte. Da bekam ich das Angebot, nach Indonesien zu gehen. Meine Eltern haben erst mal geschnauft, mein Schulleiter am Gymnasium sagte, mach das, du kannst jederzeit zurückkommen. Bei diesem Programm durchläufst du ein fast einjähriges Prüfverfahren, in dem du Credits sammeln musst. Das geht los, wenn du 15 Jahre alt bist. Ich hatte sehr hohe Credits und bekam daher dieses Angebot.

Ich war dann ein „Little Ambassador“. Ich hatte die Aufgabe, im Gastland das zukünftige AFS-Programm mit aufzubauen. Das hat mich gereizt. Der AFS ließ mich weitgehend in Ruhe, aber ich hatte auch bestimmte Pflichten, beispielsweise Fundraising-Aktivitäten, Vorträge vor Botschafterfrauen – damals habe ich nur männliche Botschafter kennengelernt –, öffentliche Auftritte in den Medien. Da habe ich über Jugendkultur in Europa erzählt, über das deutsche Schulsystem, das demokratische System. Das war sehr klug eingefädelt, weil ich als Jugendlicher ganz andere Zielgruppen erreichte. Vielleicht erinnern Sie sich an die „Lindenstraße“.?

Norbert Reichel: Nur wenig, eigentlich nur an Harry Rowohlt.

Harry Harun Behr: Harry Rowohlt und seine schöne Stimme. Ich habe alle Hörbücher, die er bespricht. In Indonesien gab es ein indonesisches Eastenders-Format im ersten Fernsehprogramm, es gab nur zwei davon. Das nannte sich „Keluarga Marlia Hardi“ (deutsch: „Die Familie Marlia Hardi“), das ist ein ähnliches Format. Die sehr berühmte Schauspielerin Marlia Hardi, mit der ich da zusammen war, wurde 1984 in ihrem Haus ermordet, es sollte wie ein Selbstmord aussehen. Die Polizei ging damals von einer Tötung aus, die mutmaßlich im Zusammenhang mit ihrem Vermögen stand, geklärt ist der Fall bis heute nicht. Das hat uns damals sehr angefasst, weil es sich um einen völlig unerklärlichen Zusammenhang handelt. Das Viertel, in dem sie lebte, war ein sehr armes Viertel, in dem sie aus Solidarität wohnen blieb. Wir konnten, wenn wir sie zu Hause besuchten, nach Einbruch der Dunkelheit nur in einer Gruppe durch das Viertel gehen, und ich selbst wurde dort in die einzige Schlägerei verwickelt, mit der ich es jemals in meinem Leben zu tun hatte: mein Schulkamerad Imam Budi Prasodjo wurde mit Steinen beworfen, und ich habe mal kurz meine körperliche Überlegenheit ausgespielt – dann sind wir gerannt wie die Hasen.

Es gab ein Storyboard, eingespielte Charaktere, es wird sehr viel improvisiert, man weiß eben nicht, wie es weitergeht und schaut deshalb immer weiter zu. Ich spielte dort das, was man fernsehintern den „Quoten-Bimbo“ nennt. Das, was in der „Lindenstraße“ der Grieche oder der Shisha-Bar-Besitzer war, war ich dort als „Londo“. Der „Londo“ ist einer, der aus dem Westen kommt, der eine helle Hautfarbe hat. Das war eine wunderbare Rolle, in der ich Tabus brechen sollte. Das wurde erwartet, dass ich mich mit den Feinheiten der Etikette nicht so gut auskenne, und ich wurde geradezu ermutigt, gegen die soziale Grammatik mit Tolpatschigkeit, Rüpelhaftigkeit und Jugendlichkeit zu verstoßen, aber auch mit westlicher Arroganz. Das wurde mir auf den Leib geschrieben. Das habe ich zwei Mal gemacht. Es war vom American Field Service sehr erwünscht, dass man ein solches Angebot annimmt.

Abrahamitische Vielfalt

Norbert Reichel: Dann sind Sie irgendwie in Indonesien hängengeblieben.

Harry Harun Behr: Nicht ganz. Ich bin dort während meiner Schulzeit konvertiert. Das ist eigentlich eine schöne Geschichte. Ich hatte nicht die Absicht zu konvertieren, es entwickelte sich so. Ich hatte mich in der Zeit auch verliebt, bin dann nach Deutschland zurück, habe die 13. Klasse abgeschlossen, im Münsterland mit einem agrarischen Praktikum begonnen, weil ich Agrarbiologie in Hohenheim studieren wollte. Ich habe eine ganze Vegetationsperiode mit Gesellenprüfung in Warendorf absolviert. Bevor ich das angefangen habe, bin ich nach Indonesien zurück und habe meine Liebe geheiratet. Wir sind seit 2004 geschieden, haben vier erwachsene Kinder, auch vier Enkel*innen, die alle in München leben. Mit meiner jetzigen Frau habe ich zwei weitere Kinder. Das sind so gewisse abrahamitische Familienverhältnisse. Diese Bindung, diese Doppelung von familiärer Bindung und religiöser Bindung, diese doppelte Herzensbindung führte mich immer wieder nach Indonesien. Längere Aufenthalte hatte ich noch in Saudi-Arabien, in Medina, und in Pakistan. In der Türkei bin ich in meinem ganzen Leben nur einmal gewesen, und das nur für acht Tage.

Norbert Reichel: Wie würden Sie den Islam in Indonesien beschreiben, auch im Vergleich mit dem Islam in den anderen Ländern, in denen Sie waren? In der Türkei waren Sie zwar nur kurz, aber den türkischen Islam erleben Sie ja auch in Deutschland, in allen seinen Spielarten.

Harry Harun Behr: Für den indonesischen Islam würde ich sagen: Vielfalt und Dynamik. Der heutige Islam in Indonesien hat allerdings nur wenig mit dem zu tun, was ich in meiner Schulzeit erlebt habe. Der Wandel über die Dekaden, die Politisierung, die Radikalisierung, auch das Terrorismusproblem – all dies ist genau so dynamisch in der indonesischen Gesellschaft wie beispielsweise in Kasan oder in Kairo. Das Besondere am indonesischen Islam ist seine ethnische Verteilung über die Vielfalt der Inseln. Wir reden von einem Land, das größer ist als die USA, aber zu zwei Dritteln aus Meer besteht, aus vielen Inseln, zum Teil auch sehr große Inseln. Dort werden etwa 300 Sprachen gesprochen, alleine in Jakarta werden sechs oder sieben Sprachen gesprochen. Ich selbst spreche neben Bahasa noch Javanisch und Sundanesisch.

Norbert Reichel: Wie verwandt sind diese Sprachen miteinander?

Harry Harun Behr: Überhaupt nicht. Natürlich gehören sie zur austronesischen Sprachengruppe. Die Unterschiede sind aber viel größer als beispielsweise zwischen Deutsch und Niederländisch oder Flämisch. Sie müssen die jeweilige Sprache richtig lernen. Sie können nicht einfach mal rüberfahren und denken, Sie verstehen schon irgendetwas. Es sind ganz eigenständige Sprachen, weil es auch Sprachen bedeutender Dynastien waren, mit einer Geschichte, die bis ins 10. Jahrhundert zurückgeht. Dazu gehören natürlich auch Habitualisierungen, kulturelle und territoriale, geographische Unterschiede, wie die Leute arbeiten, ob sie Fischer sind oder Bauern, oder ob es eine Art Silicon Valley ist wie in Surabaya. So unterscheidet sich dann auch der Islam in den verschiedenen Regionen.

Islam und Zivilgesellschaft

Norbert Reichel: Und was für einen Islam erlebten Sie in Ihrer Jugend, damals um 1980?

Harry Harun Behr: Wir sprechen vom Gegenwartsislam. Es gibt so etwas wie den bürgerlichen Moralislam mit einer Art Anständigkeitsgrammatik, den wir überall in der Welt finden, mit einer gewissen Verwurzelung in der islamischen Tradition, aber doch mit einer gewissen Distanz zu Politik oder Gesellschaftsordnung. In meiner Jugend gab es zwei islamische Jugendbewegungen, in die ich damals auch hineingekommen bin. Das eine war so eine Art Green Movement, Umweltschutz- und Nachhaltigkeitsfragen, unterfüttert durch den Islam, islamische Umweltethik. Das ging schon in den 1970er Jahren los. Indonesien war schon sehr früh von all den Themen betroffen, die damals der Club of Rome aufgeschrieben hatte. Man wundert sich manchmal, wie alt die Diskurse sind, die wir heute führen. Es ging um sauberes Trinkwasser, Müllvermeidung und Überfischung. Die andere Schiene waren Fragen sozialer Gerechtigkeit, zum Beispiel Demonstrationen gegen Preiserhöhungen bei den öffentlichen Verkehrsmitteln, gegen die Abschaffung von Subventionen für Reis. Da gab es eine ganz starke islamisch motivierte Bewegung.

Sie haben dort unter den Studierenden übrigens kein einziges Kopftuch gesehen. Danach kam mit dieser Islamisierung der Zivilgesellschaft auch eine Art wahhabitischer Exportschlager der Rabita ins Gespräch, die dann von Dschidda ihre Funktionäre in die islamische Welt hinausschickten, um dort ihre Lesart des Islam zu propagieren, mit sehr viel Geld, mit Schulen und Krankenhäusern, die sie bauten. Aber das ist im Grunde die Vorstellung einer islamistisch-hegemonialen Kolonisierung der ansonsten friedliebenden asiatischen Welt. Das ist eine sehr lückenhafte Wahrnehmung. Solche Prozesse wären auch ohne die Einwirkung Saudi-Arabiens abgelaufen. Ganz im Gegenteil: es kam geradezu aus der postkolonialen Kritik in der arabischen Welt der Impetus, aus Indonesien so eine Art islamisches Disneyland zu machen. Aber das wurde auch ganz kritisch abgewehrt. Das war in den 1980er Jahren eine sehr differenzierte Diskurslage.

Norbert Reichel: Sie haben dann mit demonstriert.

Becak mit James Bond (Mister Kiss Kiss Bang Bang)

Harry Harun Behr: Ich war sehr jung, ich war unter Schulkamerad*innen. Da wirst du getriggert mit zu demonstrieren. Damals hat einer der Präsidentensöhne, Tommy Suharto, sich in Jakarta das Taxi-Monopol gekauft und wollte auf einen Schlag die Betschaks verbieten – das sind Fahrräder, bei denen hinten einer sitzt und radelt und vorne dann die beiden Fahrgäste. Die fahren dann mit den Betschaks in die kleinen Straßen hinein. Da sollten dann nur noch die Taxis hinein. Er dachte nicht daran, dass die Taxis in die kleinen Straßen in den dicht besiedelten innenstädtischen Gebieten gar nicht hineinpassten. Die Betschak-Fahrer haben demonstriert, dann fuhr Militär auf, es gab Ausgangssperre, dann hat ein Panzer kurzerhand fünfzig Betschaks plattgefahren, die Fahrer mussten schauen, dass sie wegkamen, sonst wären sie auch plattgefahren worden. Da bist du als Siebzehnjähriger dabei – das ist irgendwie wie Star Wars, du kämpfst gegen die dunkle Macht.

Dazu wurde auch an den Hochschulen, auch an den theologischen Hochschulen gearbeitet. Umwelt und soziale Gerechtigkeit, politische Themen waren zu schwierig, denn da wurde man einfach getötet. Das hat sich aber geändert, durch eine Verfassungsänderung, sodass auch die Zivilgesellschaft für ihre Kritik Luft und Raum bekam. Das wäre ein Pluspunkt für Indonesien, sodass dieses Kippen in den nationalistischen und ethnisierten Islam, wie wir es in Malaysia erlebt haben, nicht stattfand. Ich wurde 2014 vom Auswärtigen Amt nach Kuala Lumpur geschickt, um dort im Auftrag des Auswärtigen Amtes Debatten zu führen, gerade weil ich kein Diplomat bin, sondern Wissenschaftler. Es ging um religiöse Minderheitenrechte. Die gesamte Human Rights Working Group konnte von Kuala Lumpur aus nicht arbeiten, sie musste von Jakarta aus arbeiten, weil das sicherer war.

Das alles gehört zum indonesischen Islam dazu. Schon zu meiner Zeit gab es so etwas wie eine bürgerlich-liberale Mittelschicht, die im Grunde verhinderte, dass die Kommunikation zwischen Palast und Straße abgerissen ist. Heute ist die Situation des indonesischen Islam sehr differenziert zu sehen. Man muss auch beachten, von welchem Funktionssystem wir sprechen, von der Schule, von der Wirtschaft oder vom Militär. Das geht genauso wie mit der indonesischen Küche. Die gibt es nur auf holländischen Speisekarten, aber nicht im Lande.

Nicht ohne (m)eine Religion

Norbert Reichel: Wie erlebten Sie damals – in den Jahren 1979 und 1980 – das Verhältnis von Politik, Alltag und Religion in Indonesien?

Harry Harun Behr: Es gibt immer noch eine Art bürgerlichen Konsens eines auf Harmonie ausgerichteten Islam, der einen Beitrag zum sozialen Frieden leistet. So steht es fast wörtlich in der indonesischen Verfassung von 1945. Man muss sicherlich einrechnen, dass der Islam als mitverantwortlich für den erfolgreichen Aufbau des Landes nach der Unabhängigkeit gesehen wird. Das nenne ich republikanische Identität. Das ist eine Art Basis allgemeiner Sittlichkeit. Ich nenne Ihnen ein Beispiel. Die Schule begann am Montagmorgen mit dem Fahnenappell. Wir standen in Schuluniform in Reih und Glied auf dem Schulhof. Die indonesische Fahne, sie heißt Merah Putih, in Deutsch ganz einfach Rot Weiß, wurde gehisst, die Nationalhymne wurde gesungen, der Schulleiter hielt eine kurze Ansprache mit dem Wochenmotto.

Dann gingen wir in die Klassenzimmer. Die Woche begann nach dem Fahnenappell – egal in welchem Fach – mit einem Gebet. Wer in den ersten beiden Stunden Unterricht hatte, machte ein Klassengebet. Es wurde nach dem Alphabet ein*e Schüler*in aufgerufen, ein Gebet aus ihrer Tradition zu sprechen, egal, welcher Religion, hörbar und sichtbar für die anderen. Wer betete, stand auf, die anderen blieben sitzen. Danach wurde ein kleiner Gong geschlagen und wir hatten alle noch etwa zwei Minuten Gelegenheit, das Gebet in unserer eigenen Tradition zu ergänzen. Es gab Muslime, Buddhisten, Hindus, Katholiken, Sieben-Tags-Adventisten, auch Kebatinan (auf Bahasa: oder Kejawèn), das sind indigene Natur-Religionen auf Jawa.

Und ich saß dabei. Mit „B“ kam ich früh dran. Ich hatte aber schon gesagt, dass ich nicht bete. Ich hatte keine Gebetskultur. Der Lehrer sagte, das kann nicht sein. Es muss doch irgendein Gebet auf deutsch geben, dass ich vortragen könnte. Das Vaterunser hätte ich noch hinbekommen, aber ich fand die Situation übergriffig. Deshalb habe ich mir gesagt, ich wische denen eins aus, und habe dann ein Gedicht von Joachim Ringelnatz auf Deutsch vorgetragen: „War einmal ein Bumerang, / war ein weniges zu lang, / Bumerang flog ein Stück, / aber kam nicht mehr zurück, / Publikum noch stundenlang / wartete auf Bumerang. / Amen.“

Imam Budi Prasodjo (rechts) im Gespräch, 1979

Er schlug dann seinen Gong. Ich war ganz hinten, weil ich so groß war. In der Pause kam dann ein Klassenkamerad, Imam Budi Prasodjo (Imam ist hier Vorname, nicht Berufsbezeichnung), der später mein bester Freund wurde, auf mich zu – heute ist er Vorsitzender des Anti-Korruptions-Ausschusses des indonesischen Parlaments. Er ist kein Imam, Imam ist der Vorname, er ist Soziologe an der Universitas Indonesia und Leiter der Stiftung Yayasan Nurani Dunia und Friedensforscher. Er hat für die ehemalige Präsidentin Megawati Soekarno die Friedensverhandlungen mit der Provinz Maluku (Molukken) geleitet.

Damals war sein Vater stellvertretender indonesischer Erziehungsminister und stand wegen unliebsamer politischer Äußerungen unter Hausarrest. Mein Klassenkamerad sagte zu mir, das war doch kein Gebet, was du da aufgesagt hast, erzähl doch keinen Unsinn. Ich habe ihm meine Situation erklärt, er sagte, das finde er nicht gut, er könne verstehen, dass Leute keine Religion praktizieren, aber als Basis allgemeiner Sittlichkeit ist Religionslosigkeit kein guter Zustand. Das war damals ein ganz starkes Fundament der Gesellschaft: Religionslosigkeit – das ging gar nicht – irgendeine, egal welche. Das habe ich ernst genommen. Ich fühlte mich auch durch die Ästhetik des gelebten Islam angesprochen, den Gebetsruf beispielsweise. Über diese Schiene kam ich zur Religion, kam mit meinen Schulkameraden ins Gespräch. Damals, 1979 war dann auch die Besetzung der Moschee in Mekka. Ich habe das im Fernsehen gesehen, war oft bei meinem Freund zu Hause.

Sein Vater war ein mäzenatisch orientierter, sehr weltgewandter Mann, der mich ein wenig unter seine Fittiche genommen hat. Wir haben viel über Religion diskutiert. Damals bahnte sich auch die Islamische Revolution im Iran an. Dies und die Besetzung der Moschee in Mekka waren einschneidende Ereignisse für die Geschichte des Islam. Es dauerte nur wenige Wochen, dass mein Freund und ich sowie drei weitere Klassenkameraden zum Fahnenappell mit weißen T-Shirts erschienen, die wir hatten bedrucken lassen, mit der Aufschrift: „The 15th Century of Hidschra – Revival of Islam“. Wir wurden dann vom Schulleiter kaltgestellt und erhielten einen Tadel wegen Verstoßes gegen die Schuluniform. Das war der Beginn der Aufmüpfigkeit, das was man arabisch „nahḍa“ nennt, „Erweckung“, nicht zu verwechseln mit der Partei An-Nahda. Damals – im März 1980 – kam die erste Schülerin mit einem weißen Kopftuch. Sie wurde nicht in die Klasse gelassen, sondern nach Hause geschickt. Dagegen haben wir mit den T-Shirts rebelliert. Das Ganze kochte zu einem kleinen Djihad im Südosten von Jakarta hoch, der dann von der Polizei sehr schnell in Schach gehalten wurde, mit etlichen Rügen, mit Verweisen, auch mit einer körperlichen Züchtigung, sodass wir dann zwar die Helden des Tages waren, aber wir hatten doch nachher die Hosen voll – und das war es dann erst einmal.

White-Collar-Islam

Norbert Reichel: Wie entwickelte sich der Islam in Indonesien in den Folgejahren?

Harry Harun Behr: Es gibt unterschiedliche Faktoren. Das eine ist das wirtschaftliche Erfolgsmodell. Indonesien ist weitgehend schuldenfrei, hat einen unfassbar hohen Devisenüberschuss. Sie investieren viel in die Modernisierung, die Infrastruktur des Landes. Das gehört zu diesem bürgerlichen Konsens. Ein anderer Effekt war die Verfassungsreform 1991/1992, in der den Medien, auch kritischen Medien, die volle Freiheit zugesichert wurde. Einer der Minister war damals Jussuf Habibie (1936-2019), einige Jahre später Staatspräsident. Mit seinem Sohn studierte ich in München, er Strömungstechnologie, ich Lehramt. Jussuf Habibie gründete in den 1990er Jahren den Muslimischen IntellektuellenverbandIndonesian Assocation of Muslim Intellectuals (ICMI).

Das war eine Zeit, in der eine Art White-Collar-Islam entstand. Da wurden private Universitäten gegründet, die bekannteste ist die Universitas Paramadina, angeboten wurden Philosophie, Wirtschaftsethik und Islamische Theologie, auch für Start-Up-Entrepeneurs, die Wirtschaft und Islam miteinander verbinden wollten. Es gab damals so ähnliche Formate wie in Deutschland der „Internationale Frühschoppen“ – der Nachfolger ist heute der Presseclub. Dort diskutierten Menschen aus den verschiedenen Disziplinen, auch aus dem Militär. Dazu muss man wissen, dass das Militär gemäß Verfassung eine zivile Gestaltungsaufgabe hat, Aufbau nach innen und Verteidigung nach außen. Der Fachbegriff lautet „Dwifungsi“: Ob es diese Aufgabe in dieser Form noch gibt, ist eine Streitfrage zwischen Selbst- und Fremdwahrnehmung des Militärs.

Parade vor dem Präsidentenpalast in Jakarta

Diese Entwicklung ist dem postkolonialen Regime geschuldet. Das fand in der Hotellobby statt, wo man nur mit Krawatte Zutritt hatte. Es bildete sich ein großbürgerliches Element der Erweckung heraus, sehr intellektuell unterwegs. Es gab Zeitschriften, zum Beispiel „Res Publica“, eine Tageszeitung, die von diesem Intellektuellenverband aufgelegt wurde, die sich auch islamisch verstand. Das war vorher nicht möglich. Vorher konnte man sich nur zum Staatsziel der Republik Indonesien verhalten, aber nicht zu einer der Religionen.

Diese Liberalisierung betraf alle Religionen und führte zu einer Differenzierung in allen Religionsgemeinschaften. Es gab nicht nur katholische Universitäten, sondern dann auch katholische Medien, Zeitungen, Jugendgruppen. Es gab nicht nur den diktatorischen Staatsislam, es gab tatsächlich eine Freigabe der Predigten in den Moscheen. Das war vorher nicht möglich, alle Predigten – ich habe in den 1980er Jahren selbst Freitagspredigten gehalten – mussten vorher durch ein Screening-Verfahren. Das wurde dann oft gekippt. Ich habe meine Predigten trotzdem gehalten, musste dann aber vor der Polizei weglaufen. Die waren schneller als ich und warteten in Zivilkleidung, in so Batik-Hemden, vor der Haustür. Ich musste dann ein Belehrungsgespräch über mich ergehen lassen. Man hatte zueinander schon eine Art kollegiales Verhältnis.

Norbert Reichel: Das hatte ja schon fast etwas Ritualisiertes.

Harry Harun Behr: Ja, so eine Art offene Kontrolle, nicht verdeckt, ganz offen. Gar nicht mehr so angsteinflößend wie zu meiner Schulzeit. Das gibt es übrigens heute noch.

Norbert Reichel: Aber die Belehrungsgespräche hatten keine Konsequenzen für Sie?

Harry Harun Behr: Mir wurde einmal mit Ausweisung bedroht. Aber ich war damals schon mit einer Indonesierin verheiratet, was mir einen anderen Status gab. Ich habe allerdings keine indonesische Staatsbürgerschaft.

Ich war auch einige Male in Indonesien in einer Delegation von Politiker*innen und konnte dann mit verschiedenen Minister*innen sprechen, die ich noch aus meiner Schul- und Studienzeit kannte. Ich habe heute noch sehr gute Zugänge. Ich war 2012 mit Frank-Walter Steinmeier, in seiner Zeit als Außenminister, in Indonesien, kurz vorher auch mit dem damaligen Bundespräsidenten, Christian Wulff.

Bei diesen Besuchen wurde auch nach der islamistischen Radikalisierung gefragt. Der Religionsminister sagte, das bleibt jetzt mal unter uns, etwas witzig, wenn die BILD-Zeitung dabeisitzt, es gebe viel mehr Probleme mit den diversen christlichen Gruppierungen, es wäre schwierig, mit den muslimischen Organisationen, wenn man sie an einen Tisch rufe, einen Konsens zu erreichen, aber die christlichen Gruppierungen bekämpften sich untereinander bis aufs Blut. Sie seien auch sehr drastisch in ihrer Systemfeindlichkeit, weil sich viele christliche Erweckungsbewegungen, gemeint war nicht die katholische Kirche, es ging um die pentekostalen und evangelikalen Bewegungen, in der Peripherie der Republik, auf kleinen Inseln betätigten, wo es auch zahlreiche separatistische Bewegungen gibt, Timor ist ja nur der Elephant in the Room, den wir hier in Europa so gerade noch wahrnehmen. Auf diesen Inseln gebe es – so sagte der Religionsminister – ein „Mushrooming“ solcher sich christlich verstehender Bewegungen, das destablisiere.

Norbert Reichel: Wie anderswo auch, in den USA, in Afrika, in Brasilien.

Harry Harun Behr: Wir können uns einen Bolsonaro nicht ohne diese Bewegungen vorstellen. Das zeigt sich ja auch in der Corona-Krise. Das ist eine Problemanzeige – weltweit – auch in Indonesien.

Wir haben auch jüdische Gemeinden besucht, die es in Surabaya und in Mando gibt. Das sind Nachfahren von irakisch-jüdischen Männern, die im Dienste der holländischen Kolonialverwaltung standen und Indonesierinnen geheiratet hatten, Vaterjuden. Die Juden*Jüdinnen in diesen Gemeinden fühlen sich sehr abgehängt, einmal als sehr kleine Minderheit in Indonesien, aber auch, weil sie von den jüdischen Weltorganisationen nicht wahrgenommen werden. Sie kleiden sich allerdings sehr chassidisch, tragen Schläfenlocken. Religiöse Kostümierung – so nenne ich das mal – wird von den indonesischen Gouverneuren gerne in ihren Provinzen bedient. Das ist etwa so wie in der Sternenflottenakademie bei Star Trek, wo sich dann neben den dominierenden Erdenbürger*innen auch immer wieder einzelne Vertreter*innen der anderen Planeten der Föderation einfinden, um zu zeigen, wie tolerant alles ist.   

Zukunftsszenario – liberal oder illiberal?

Norbert Reichel: Wie schätzen Sie die weitere Entwicklung in Indonesien ein? Ich möchte die Frage noch ein wenig konkretisieren und wage folgende These: Wenn wir in Westeuropa von Demokratie sprechen, sollten wir sehr vorsichtig sein, wenn wir über Demokratien in anderen Regionen dieser Welt sprechen. Klar bleibt, dass der Iran – ich nenne ihn als Beispiel – zwar scheinbar demokratische Wahlen pflegt, aber deshalb noch lange keine Demokratie ist. Problematisch sind Entwicklungen wie in den USA, in Ungarn, wo über das Wahlrecht Mehrheiten gesichert werden sollen. In Italien gab es ja auch einmal einen Versuch von Matteo Renzi, der aber scheiterte. Ich lasse das alles einmal beiseite, sondern frage grundsätzlich und sicherlich auch vereinfachend: haben wir in Indonesien ein eher liberales oder ein eher illiberales Klima zu erwarten?

Harry Harun Behr: Ich denke eher liberal. Ich mache ja nach wie vor Lehrveranstaltungen für und in Indonesien, dank Corona sogar mehr als früher, da digital möglich. Ich habe Kontakt mit einem eher jungen Publikum. Mit Meltem Kulaçatan forsche ich zu Einstellungen und Verhalten von Jugendlichen. Wir haben eben eine Studie zu Jugendlichen bei DITIB gemacht, die demnächst veröffentlicht wird. Wir forschen zu dem, was gerne als Generation X, Y oder Z etikettiert wird. Das sind im Grunde soziologische Cluster, die inzwischen auch durch Theoriebildung erfasst werden. Generation Z in Bezug auf die Türkei, das sind die jungen Leute, die 2023 erstmals zur Wahl gehen werden. Die Friedrich-Ebert-Stiftung ist da sehr aktiv, sodass wir zur Generation Z in Südostasien, in den arabischen Ländern forschen. Wir haben gesicherte Erkenntnisse.

Ein Ergebnis: die Frage nach der Zukunft lässt sich nicht über Wahlrechts- und Parteiensysteme beantworten. Das sind andere Dynamiken, die allerdings noch sehr volatil sind. Das zweite: das Anwachsen der Jugend. In Indonesien liegt das Durchschnittsalter etwa um die 25. Das sind ganz andere Verhältnisse als bei uns in Geriatristan. Aus Sicht der Ordnungs- und Regelpolitik muss man mit ein bisschen Sorge auf die Entwicklungen schauen. Nur entspringen die Kategorien der diversen Generationsbezeichnungen aus der Sicht des globalen Nordens. Die Kriterien dieser Einteilungen korrelieren mit Konsumverhalten.

Jetzt haben wir in der Generation Z erstmals eine Generation, die ihr eigenes Konsumverhalten ganz kritisch betrachtet. Fridays for Future gehört dazu, und Fridays for Future gab es in Indonesien schon bevor es das hier gab. Wir haben hier eine umgekehrte Proportionalität. Wir haben dort viel weiter fortgeschrittene Dynamiken. Diese jungen Menschen orientieren sich nicht mehr an den überkommenden Loyalitäten, an Gruppenzugehörigkeiten, Statusgruppenzugehörigkeiten, bürgerlichen Schichten. Sie sind die erste Generation, die sich an transnationalen ethischen Standards orientiert.

Das Besorgniserregende daran ist, dass das nicht mit dem korreliert, was Sie und ich als politisches Bewusstsein verstehen würden. Da gibt es die Tendenz, auch ein illiberales System in Kauf zu nehmen, um die Ziele der Transformation der Gesellschaft zu erreichen, viel höher als in den Generationen davor. Es besteht das Risiko einer totalisierenden oder feindlichen Übernahme der Zielkoordinaten der jungen Generation, formuliert mit einer gewissen Unschuld, motiviert durch politisches Kalkül, damit einhergehend das Außerkraftsetzen von Minderheiten- und Freiheitsrechten, immer mit der Begründung, es wäre notwendig, um den Umbruch zu gestalten. Dieses Risiko ist verdammt hoch und macht mir sehr große Sorgen. Diese feindliche Übernahme bedient sich auch sehr gerne der Religionen, um ihr Auftreten zu plausibilisieren.

Die jakobinische Formel der Generation Z

Norbert Reichel: Ihre Einschätzung passt zu einem Essay von Wolfgang Merkel, den ich gerade gelesen habe. Er wurde in „Aus Politik und Zeitgeschichte“ vom 28. Juni 2021 veröffentlicht. Er sprach unter anderem von der Gefahr der „Szientifizierung“ der Politik. Natürlich sind wissenschaftliche Erkenntnisse wichtig, aber sie setzen damit politische Willensbildungsprozesse nicht außer Kraft. Das gilt für die Corona-Krise genauso wie für die Klimakrise. Wolfgang Merkel verbindet den Begriff der „Szientifizierung“ mit den Begriffen der „Moralisierung“ und der „Polarisierung“.

Ein Beispiel für eine zukünftige Debatte, die in dieser Art laufen könnte, wäre der Wiedereinstieg in die Atomenergie. Ich glaube zwar nicht, dass in Deutschland in den nächsten Dekaden wieder Atomkraftwerke gebaut werden, aber weltweit wird es eine Renaissance der Atomenergie geben. Auch hier haben wir das Prinzip der Inkaufnahme, der Austreibung des Teufels „Klimakrise“ durch den Beelzebub „Atomkraft“. Es kann in diesem Kontext – ich formuliere das mal ganz böse – durchaus krypto-faschistische Entwicklungen geben. Ich möchte das niemandem unterstellen, aber politische Bewegungen entsprechen in ihrer Entwicklung nicht unbedingt dem individuellen Denken einzelner Aktivist*innen.

Harry Harun Behr: Unbedingt. Mikrotechnologie ist unbezahlbar, so werden Alternativen gesucht. Das ist eine jakobinische Formel.

Norbert Reichel: Robespierre kämpfte als Anwalt gegen die Todesstrafe. Bekannt wurde er als einer der zentralen Akteure der „Terreur“.

Harry Harun Behr: Die Verfügbarmachung des vorhandenen Kapitals ist eine jakobinische Formel. Das ist eine große Bedrohung. Ich habe da ein Unbehagen. Ich diskutiere das oft auch mit Jugendlichen. Eine Tochter, Kind Nummer 5, jetzt 16 Jahre alt, es ist sehr schwierig, in den Debatten mit den jungen Leuten die Frage einzuflechten, wie sie sich zu Fragen der sozialen Gerechtigkeit stellen, wenn man eine Gesellschaft umbricht. Hat man das im Blick? Das ist auch eine Frage, die sich bei den Grünen stellt. Sie bewegen sich in Richtung einer „Volkspartei“, aber müssen sich auch die Frage stellen, was es überhaupt bedeutet, eine „Volkspartei“ zu sein, dass daher die soziale Frage diskutiert werden muss.

Norbert Reichel: In der Tat. Es gibt in der Partei immer noch einige Leute, die es lieber hätten, bei 6 Prozent zu liegen, da sie dann in aller Radikalität ihre Forderungen stellen können, sich aber nicht um die Auswirkungen kümmern müssen. Das ändert sich zurzeit, aber es ist auch ein Diskussionsprozess, der ernst genommen werden muss.

Harry Harun Behr: Meltem Kulaçatan und ich haben uns vor sechs Jahren mit der Radikalisierung von jungen Frauen im Islam beschäftigt. Wir haben damals gesagt, das Problem des IS, über das damals gesprochen wurde, wird sich in sechs Jahren ganz anders darstellen, auf ganz andere Problematiken verschieben. Wir haben damals schon gesagt, wir müssen stärker auf völkisch-identitäre Strukturen achten, die religionsähnlich formuliert werden und funktionieren. Heute haben wir diese Situation. Es könnte sich Folgendes entwickeln, gerade im Hinblick auf Religion. Es könnte sein, dass sich politisches Handeln in zehn Jahren auch unter Rückgriff auf religiöse Narrative ein Prozess der Illiberalisierung des demokratischen Systems legitimiert wird.

Norbert Reichel: Der IS als Grundmuster auch für völkisch-nationale Aktivist*innen? Nicht unrealistisch. Die lesen ja nicht nur Carl Schmitt, sondern auch Antonio Gramsci. Das ist schon eine wilde Mischung. Religiöse und nationale Narrative erscheinen manchen Politiker*innen und ihren Wähler*innen äußerst attraktiv, verbunden mit einer Anti-Szientifizierung, die dann von Anhänger*innen wissenschaftlicher Erkenntnisse ebenfalls quasi-religiös inszeniert werden. Und wir dürfen nicht vergessen: es gibt eine stark ökologisch orientierte Rechte.

Harry Harun Behr: Das verschmilzt. Die Konvergenz von nationalen und religiösen Motiven haben wir vor einigen Jahren schon bei PEGIDA beobachtet. Wenn ich diese Tendenz der Konvergenz in der Theologie entdecke – und das tue ich –, rede ich nicht nur von irgendeiner wissenschaftlichen Entgleisung, ich rede ganz generell von Diskursentwicklungen in den Kirchen und in der akademischen Theologie. Dort stelle ich fest, dass die Akteure diese Entwicklung gar nicht auf dem Schirm haben, dass einerseits die akademische Theologie, die eigene Disziplin, weitestgehend als irrelevant für die Lösung der heutigen Probleme betrachtet wird, auf der anderen Seite jedoch Religion als hochrelevant, als Agens in der Umbruchsituation betrachtet wird, nur dummerweise von Soziolog*innen und nicht von Theolog*innen.

Diesen Kontext beziehe ich nicht nur auf Länder wie Indonesien und denke darüber nach, was dort noch geschehen kann. Ich nenne zwei Punkte: Gewaltenteilung und Parlamentarismus, die parlamentarische Kontrolle und die Offenheit des Rechtswegs. Das sind die beiden Punkte, in denen wir die stärksten Beschneidungen haben. Schauen Sie nach Ungarn, nach Polen, nach Russland, in die Türkei. Da haben wir auch diese religiöse Verbrämung. Die Aussagen, die wir in den dortigen Medien lesen könnten, nehmen wir hier nicht wahr. Die dortigen Staatschefs inszenieren sich als Verteidiger der Religion, des Islam in der Türkei, des Christentums in Russland, in Ungarn und in Polen. Das geht einher mit Dämonisierung, Diabolisierung der politischen Opposition als Staatsfeinde.

Die transnationale Perspektive

Norbert Reichel: Die 1976 von der CDU / CSU im Wahlkampf verkündete Parole „Freiheit oder Sozialismus“ klingt bei aller Infamie angesichts der aktuellen Entwicklungen harmlos. Politische Gegner*innen werden kriminalisiert. Vor zwanzig Jahren schrieb Gilles Kepel das Buch „La revanche de Dieu“ (deutsch: „Die Rache Gottes“). Das war prophetisch. Der beschriebene Aufschwung sich religiös verstehender radikaler politischer Bewegungen hat stattgefunden. Darf ich vielleicht als Fazit Ihrer Analyse formulieren: Gewaltenteilung und Rechtsstaat stehen in der Generation Z nicht auf Platz 1 der Prioritätenliste ihrer politischen Agenda. So weit weg ist Indonesien von hier nicht.

Harry Harun Behr: Bei der Generation Z sprechen wir immer von transnationalen Effekten. Man könnte vielleicht auch von Ansteckung sprechen. Das hat auch was mit Kommunikationsformaten zu tun. Dazu gehört der verzweifelte Versuch von Staaten, die Kontrolle über jede Kommunikation zu gewinnen, siehe China, siehe die Debatte um die PEGASUS-Software.

Norbert Reichel: Das hat auch etwas mit Sicherheitspolitik zu tun. Sicherheit vor Freiheitsrechten.

Harry Harun Behr: Die transnationale Perspektive war schon immer Teil der islamischen Bewegungen. Ich habe eben Jussuf Habibie genannt. Er war Absolvent der RWTH Aachen, kommt aus dem deutschen Flugzeugbau, spricht fließend Deutsch, ist ein alter Kumpel von Otto Graf Lambsdorff sel. A. Ich traf beide 1979 in Indonesien auf der Indo-Germa-Messe in Jakarta, wo ich damals ausgeholfen habe. Ich habe beide dolmetschend durch das Messegelände geleitet. Es gab einen Dritten im Bunde, Necmettin Erbakan, der auch kurze Zeit Staatspräsident der Türkei war, heute manchen noch ein Begriff als Vorsitzender einer religiös-nationalistischen Partei, aus der zum Teil die heutige AKP hervorging, und als Promotor der Grauen Wölfe. Er war überzeugt von einer muslimischen Meta-Identität, die transnational angelegt ist. Das Programm „Malaysia 2020“, das in den 1990er Jahren aufgelegt wurde, spricht genau die gleiche Sprache. Es ist kein Zufall, dass in diesen Ländern, die dieser Idee folgten, heute illiberale Staatssysteme herrschen.

Norbert Reichel: Dazu passen auch die antisemitischen Äußerungen von Erdoğan, die ja so etwas sind wie Zeichen eines pan-islamischen Anspruchs, mit dem er sich als Führer der gesamten muslimischen Welt – durchaus auch in Konkurrenz zum Iran – in Szene setzen will. Ob die arabischen Staaten in Erinnerung an das Osmanische Reich ihm folgen werden, ist natürlich eine andere Frage.

Harry Harun Behr: Sie erinnern sich noch daran, als manche glaubten, mit der AKP käme eine Art türkischer CDU? Damals habe ich schon davor gewarnt, dass das eine Fehlwahrnehmung ist, aber damit drang man nicht durch. Wenn man Nationalität und Religion aufeinander bezieht, dann ist die dahinterstehende Denkfigur immer eine transnationale. So entsteht eine seltsame Hybridität von Öffnung und Schließung. Das ist aus politologischer Sicht äußerst spannend, weil niemand weiß, in welche Richtung sich das entwickelt. Die Dynamiken sind schwer kalkulierbar und mit den klassischen Instrumentarien der politologischen Analyse nicht greifbar. Wir brauchen auch ein neues Analysebesteck.   

Norbert Reichel: Die klassischen Vergleiche helfen in der Tat nicht. Ich kann die AKP nicht mit der CDU vergleichen, die CHP nicht mit der SPD und auch nicht – obwohl das manche gerne hätten – die HDP mit den Grünen.

Harry Harun Behr: Super, aber da ist immerhin ein Blatt im Emblem!

Wissenschaft wider die drei Erblindungen

Norbert Reichel: Wie könnte das neue Besteck, von dem Sie sprechen, aussehen?

Harry Harun Behr: Auf jeden Fall gehört theologische Expertise dazu. Ich spreche jetzt von der islamischen Theologie. Diese hat nicht das, was man von einer Wissenschaft verlangen müsste, damit sie eine Wissenschaft ist, nämlich Theorie und Modellbildung. Da gibt es Grundlagenforschung, aber zu dem, was wir intersektionale Analyse nennen, bekommen wir sehr oft die Rückmeldung, was macht ihr in Frankfurt eigentlich anders? Wir bekommen aus Frankfurt die Sprache, die wir brauchen, um unsere Probleme zu verstehen, aber von anderen theologischen Standorten bekommen wir das nicht.

Das deutet auf etwas hin, was die Wissenssoziologie unter Peter L. Berger (1929-2017) vor etwa 20 Jahren sehr gut beschrieben hat, zum Beispiel in „Die gesellschaftliche Konstruktion der wirklichkeit – Eine Theorie der Wissenssoziologie, Frankfurt am Main, Fischer, 2003), englischer Titel: „The Sacred Canopy – Elements of a Sociological Theory of Religion“, 1967 erschienen): Religionsdynamiken sind für gesellschaftliche Dynamiken ganz entscheidend. Dazu zählen Pluralisierung, Individualisierung, Säkularisierung. Peter L. Berger, mit dem ich noch publiziert habe, sprach von „mehrfach gelagerter Pluralisierung“. Er sprach davon, dass sich Gesellschaften religiös pluralisieren, durch Migration, durch Umwälzung in sozialen Schichten, in der Möglichkeit von Laien, sich religiös virtuos zu informieren und auch selbst religiös aktiv zu sein. Ganz anders als die etablierten religiösen Institutionen.

Dazu gehört eben auch ein binnenreligiöser Pluralisierungseffekt. Dem liegen als Referenzhorizont immer Veränderungen in der Theologie zugrunde, im Menschenbild, in der Morallehre, in der Art und Weise, wie Menschen Gesellschaft verstehen, was sie meinen, wenn sie von Solidarität sprechen. Wir müssen es schaffen, diese religiösen Dynamiken auch über die Theologie und ihre analytischen Fähigkeiten zu verstehen, aber auch zu adressieren, um Steuerimpulse setzen zu können. Ich wurde zu Beginn meiner akademischen Laufbahn gefragt, worin ich die Aufgabe der akademischen Theologie sehe. Meine Antwort lautet nach wie vor: Ihre Aufgabe liegt darin, die Religion vor der feindlichen Übernahme durch ihre eigenen Anhänger*innen zu beschützen, als Korrektiv der Lehre, der Traditionen, der Schriftkultur, der Thesen, der ethischen Imperative.

Manchmal werde ich nach einem Beispiel gefragt. Eine meiner Studentinnen fragte mich einmal, was die Theologie zum Rassismus zu sagen hätte. Ich denke an die Psalmen, Psalm 36. Ich zitiere sinngemäß: „Der Frevler, der Unheil stiftet, tut das Böse, weil er sich entschlossen hat, das Böse zu tun. Er wähnt sich ungesehen von G‘‘tt und er gefällt sich darin zu hassen und das Gesetz zu brechen.“ Hier wird ein bedrohliches Szenario, Unfrieden, Destabilisierung, Blutvergießen und Krieg, zurückgeworfen auf das Dispositiv des Einzelnen, des Subjekts, und auf eine Dynamik, die keine kausale Begründungslogik braucht, sondern aus der Ästhetik des Unheils schöpft und aus dem Entschluss des Subjekts, das Böse zu tun.

Wenn ich heute in die Präventionslandschaft zu Rechts- und Linksradikalismus, Islamismus, Rassismus schaue und danach suche, ob es irgendwelche Theorien oder Modelle oder Projekte gibt, die diese Ebene adressieren, finde ich nichts, weil es in den entsprechenden Wissenschaften, in der Psychologie, der Soziologie, den Bildungswissenschaften religionsbezogene Erblindung gibt. Sie verfügen nicht über analytische Kriterien, Religionsbezüge zu erfassen und zu benennen. Das sieht man beispielsweise auch an der Shell-Jugendstudie. Wie hirnrissig und primitiv geht die Studie mit Religionsfragen um? Hattet ihr keine Beratung?

Norbert Reichel: Das gilt meines Erachtens nicht nur für die Shell-Studie.

Harry Harun Behr: Das ist für mich der springende Punkt: neues Besteck bedeutet, wir müssen die Kommunikation, in dieser Art auf den Menschen zu blicken und anderen Weisen, auf den Menschen zu blicken, herstellen und vielleicht tatsächlich etwas neu zu entdecken, das wir nur wissen, wenn und weil wir über die religiösen Narrative verfügen. Die sind ja nicht einfach nur altmodisch, das ist geronnener Diskurs aus Jahrtausenden Geschichte. Es wäre einfach dumm, an diesem Diskurs vorbeizugehen, als wären die heutigen Diskurse alle aus der Moderne entwachsen und hätten mit den alten Geschichten nichts zu tun.

Norbert Reichel: Das wäre auch ahistorisches Denken. Ich mache das immer gerne an dem Satz „Auge um Auge, Zahn um Zahn“ fest. Das verstehen viele als drakonische Strafe, so ähnlich wie Handabhacken. In Wirklichkeit handelt es sich um ein Übermaßverbot im Strafrecht, was damals, als dieser Satz geschrieben wurde, ein enormer Fortschritt war. Untat und Sühne wurden in ein Verhältnis zueinander gebracht. Das ist ja auch kein Endpunkt. Das ist ein bestimmter Punkt in der historischen Entwicklung. Ich möchte zusätzlich zur Religionsblindheit eine weitere Blindheit nennen, die Geschichtsblindheit.

Harry Harun Behr: Da stimme ich Ihnen zu. Und ein dritter Punkt kommt hinzu: die Unfähigkeit, Narrative, Narration zu dekodieren. Ich nenne das einmal literarische Erblindung. Manchmal verzweifele ich an den Studierenden, weil damit ein ganz wichtiger didaktischer Zugang fehlt. Es ist so eine Art Wirklichkeitsbefangenheit, die es erschwert, sich spielerisch in Denkwelten zu begeben und diese auszukosten. Diese Kompetenzen vermisse ich. Offensichtlich ist das bei den Verhandlungen über die Kompetenzen in den Lehrplänen unter die Serviette gerutscht.

(Anmerkungen: Erstveröffentlichung im August 2021, Internetzugriffe zuletzt am 24. Juli 2022, die Rechte der Bilder liegen bei Harry Harun Behr. Der Anfang von Psalm 36 in der Übersetzung von Martin Buber und Franz Rosenzweig: „Ein Erlauten der Abtrünnigkeit, vom Frevler: ‚Drinnen in meinem Herzen gibt’s keinen Schrecken Gottes – ihm in die Augen!‘ denn glattgemacht hat der es ihm – in seinen Augen –: um seinen Fehl zu befinden, den hassenswerten! Die Reden seines Mundes, Arg ists und Trug, er hat aufgehört zu begreifen, gutzutun, Arg plant er noch auf seinem Lager, er stellt sich auf den unguten Weg, nicht überdrüssig wird er des Bösen.“)