Im Treibhaus Bonn

Wolfgang Koeppen und die Anfänge der bundesdeutschen Demokratie

Wie schauten die Deutschen, wie schaute die Öffentlichkeit Anfang der 1950er Jahre auf den parlamentarischen Neubeginn in Bonn? Abstrakt gesprochen geht es um das Verhältnis von Volk und Volksvertretung, um Politik und Medien, um Kritik und Skepsis, Vertrauen und Zweifel, kurz: um Nähe und Distanz. Wenn ich Nähe und Distanz sage, meine ich erstens eine grundsätzliche Frage, ein Grundproblem der repräsentativen Demokratie: Eine arbeitsteilige Gesellschaft beauftragt, legitimiert durch Wahlen, Fachleute, Repräsentant*innen, die dann in ihrem Namen politische Entscheidungen treffen. Doch wie bei jedem Auftrag, jedem Mandat, das man vergibt, scheint es sinnvoll, die Beauftragten im Auge zu behalten – nicht zuletzt, um das Risiko aller Fach- und Expertensysteme zu verringern, die Gefahr der Abschottung und Eigenlogik, in der Politik: der Machtlogik. Wenn aktuell kritisch-besorgt über „Blasen“ gesprochen wird, über die vermeintlich große Blase im fernen Berliner Politikbetrieb, aber auch die unzähligen kleinen Bubbles und Echokammern in den Medien, bei Facebook und Twitter, dann ist im Kern dasselbe gemeint und dann wäre das Treibhaus Bonn ein historischer Spiegel aktueller Probleme, ein schwer durchschaubarer Raum mit wenig Transparenz.

Hinzu kommt ein spezifisch geschichtswissenschaftliches Interesse: Wie war es möglich, dass in Deutschland nach Nationalsozialismus und Zweitem Weltkrieg in relativ kurzer Zeit eine parlamentarische Demokratie wieder heimisch wurde? Nach den Verbrechen des nationalsozialistischen Deutschlands stellte sich die Frage: Wie kommt man von A nach B, wenn Punkt A das „Dritte Reich“ ist und Punkt B eine Demokratie mit freiheitlichen Grundrechten, einem Parlament und einer Öffentlichkeit, die über Politik und Kultur diskutiert, ja streitet? Wie entstand eine liberal-pluralistische Öffentlichkeit, wo kurz zuvor Verführung und Gewalt, Zensur und Propaganda, Angst, Not und Elend geherrscht hatten?

Die Bonner Republik aus der Sicht eines Nicht-Bonners

Bei der Suche nach möglichen Antworten ist mir ein Roman in Hände gefallen, das „Treibhaus“ von Wolfgang Koeppen. Das „Treibhaus“ gilt heute zu Recht als einer der zentralen Romane der deutschsprachigen Nachkriegsliteratur, als eines der wichtigsten Werke der politischen Literatur, als der mit Abstand beste deutschsprachige Roman, der vom Parlamentarismus handelt. Erzählt wird im „Treibhaus“ das fiktive Schicksal eines todunglücklichen Abgeordneten, der einer großen linken Partei angehört.

Felix Keetenheuve, so der Name dieses schwierigen Helden, befindet sich in der Opposition; das haben die Wähler so entschieden. Aber auch das Leben oder die Umstände scheinen ihm einen Platz im Abseits reserviert zu haben. Zunächst versucht sich der Abgeordnete noch zu wehren: gegen die Politik, die von der Bundesregierung bestimmt wird; gegen seine Mitmenschen, in deren Gegenwart er sich verloren, isoliert und an den Rand gedrängt fühlt. Nicht zuletzt stemmt er sich gegen sein privates Unglück nach dem Tod seiner Frau. Doch am Ende stürzt sich Keetenheuve von der Beueler Brücke in den Rhein.

Apropos Nähe und Distanz: Der Autor, Wolfgang Koeppen, hat sein „Treibhaus“ bewusst aus der Position eines Beobachters, eines Außenseiters geschrieben. Er sah sich als Fremden, der abseits der Politik steht. Aber auch Bonn, der Ort des politischen Geschehens, war für Koeppen ein ferner Ort – und das, obwohl er sich seinen Ruhm mit drei kritischen Romanen aus den frühen 50er Jahren erworben hat, “Tauben im Gras“ (1951), „Das Treibhaus“ (1953), „Der Tod in Rom“ (1954).

Zur Situation des Jahres 1953 gehört daher auch, dass Koeppen, als er seinen Parlamentsroman schrieb, ein dem breiten Publikum unbekannter Schriftsteller Mitte vierzig war, der in München lebte. Geboren in Greifswald, prägende Kinderjahre in Ostpreußen, wirklich zuhause war er wohl nur im „Babylon Berlin“ der späten 1920er, frühen 1930er Jahre, vielleicht im „Romanischen Café“ – so der Titel eines 1972 veröffentlichen Bandes mit Erzählungen aus 35 Jahren.

Mit einem Wort: Koeppen war der Antityp eines Rheinländers. Doch von Bonn fühlte er sich herausgefordert, provoziert, sowohl politisch als auch kulturell und lebensweltlich. Deshalb hat er sich mit dem „Treibhaus“ literarisch in einen unglücklichen Abgeordneten hineinversetzt. In Koeppens Worten klang das so: „Ich finde Bonn ein Problem“, erklärte er 1953 in einem Radiointerview – ein Problem, „das uns alle angeht und uns alle berührt. Und da es mich etwas bedrückt, unsere ganze gegenwärtige Politik, fand ich eines Tages ein Thema für einen Roman da drin.“ Herausgefordert sah sich Koeppen also nicht so sehr von Bonn als der „small town in Germany“, wie es bei John Le Carré heißt, einem anderen Schriftsteller, der Bonn nicht mochte. Koeppens „Treibhaus“ ist die Bundeshauptstadt Bonn, der Sitz von Parlament und Regierung. Bemerkenswert am „Treibhaus“-Roman ist – seine sprachlich-ästhetischen Aspekte, den vielgelobten Koeppen-Sound lasse ich einmal außen vor – ist eine Eigenschaft, die ihn wiederum als Quelle so wertvoll macht. Geschrieben hat Koeppen das „Treibhaus“ quasi in Echtzeit zum politischen Tagesgeschehen.

Erschienen ist der Roman im November 1953, wenige Wochen nach der zweiten Bundestagswahl, aus der die von Bundeskanzler Adenauer angeführte CDU als großer Sieger hervorgegangen ist. Fertiggestellt wurde das „Treibhaus“ ein halbes Jahr zuvor, im Juni 1953. Aus den Briefen, die zwischen Koeppen und seinem Verleger Henry Goverts hin- und hergingen, wird deutlich, dass sowohl der Scherz & Goverts-Verlag als auch Rowohlt, zwei renommierte Verlage, vor der Bundestagswahl 1953 einen Roman nicht publizieren wollten, der eben den ersten Bundestag und seine politischen Entscheidungen scharf ins Visier nahm.

Das „Treibhaus“ – eine Art Realfiktion?

Die realhistorischen Personen, aber auch die politischen Themen, von denen das „Treibhaus“ in düsteren Farben handelt, stammen aus der ersten Wahlperiode. Da wäre zunächst die Frage der sogenannten Wiederbewaffnung, also die Entscheidung, dass westdeutsche Soldaten sich gemeinsam mit Amerikanern, Briten und Franzosen sowie gegen einen befürchteten Angriff seitens der Sowjetunion rüsten sollten. Wenige Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg und in einer Hochphase des Kalten Krieges war die Wiederbewaffnung ein Politikum allerersten Ranges, eine der umstrittensten politischen Entscheidungen in der Geschichte der Bundesrepublik.

Zu den Niederlagen der pazifistischen Romanfigur im „Treibhaus“ gehört es, dass Keetenheuve die Wiederbewaffnung nicht verhindern kann – und das obwohl er doch Mitglied des Parlaments ist, dort Reden hält und durch das politische Engagement seine Ehe ruiniert. Über die Wiederbewaffnung hinaus handelt der „Treibhaus“-Roman von konkreten politischen Entscheidungen der ersten Wahlperiode, und zwar jeweils nicht etwa zustimmend, sondern in einer Mischung aus Widerspruch und Verzweiflung. Zu nennen wären die Anfänge der Europäischen Union, an deren Friedfertigkeit nicht glaubt wird, oder der Städte- und Wohnungsbau der 1950er Jahre.

Koeppens fiktiver Parlamentarier ist Mitglied des Ausschusses für Wohnungsbau, also ein Fachpolitiker für Fragen der Architektur und der Immobilienwirtschaft. Schon der Zeitpunkt der Publikation verweist darauf, wie stark der Nachkriegsroman mit Politik aufgeladen war. Das „Treibhaus“ ist ein Speicher für vergangene Bewusstseinslagen, ein ferner Spiegel für die frühe Bonner Republik, für ihre Selbstzweifel und Skepsis, denn während wir heute die Geschichte der Bundesrepublik – bei aller Kritik – als Erfolgsgeschichte von Frieden, Wohlstand und Demokratie bilanzieren, ist das definitiv nicht die pessimistische Sicht aus dem „Treibhaus“.

Das „Treibhaus“ – und das ist von Feuilletons und Germanistik lange übersehen worden – ist über seine literarische Qualität hinaus ein politischer Zeitroman, der ein spezifisches Bild vom Parlamentarismus zeichnet, der an die Lebensfähigkeit der Demokratie in Deutschland nicht glaubt. Das „Treibhaus“ ist außerdem eine bittere Satire auf Politik und Personal des ersten Bundestages. Das wichtigste Stilmittel, um diese Kritik zu formulieren, ist die Metapher vom Treibhaus. Der Roman bezieht sich dabei auf die Parlamentsarchitektur des gläsernen Plenarsaals, den der Architekt Hans Schwippert 1949 der Pädagogischen Akademie in der Gronau hinzugefügt hatte. In Verbindung mit dem typischen Bonner Stadtwetter wurde aus diesem gläsernen Plenarsaal das Treibhaus der frühen Bundesrepublik. Dem politischen Neubeginn in Bonn folgten Satire und Polemik, das Muster kennen wir von der Nationalversammlung in der Frankfurter Paulskirche oder natürlich aus der Weimarer Republik.

Heftige Kritik und Beifall von der falschen Seite

Angesichts des politischen Gehalts des Romans und seiner Titelmetapher ist es daher kein Wunder, dass sich im Herbst 1953 eine Debatte über das „Treibhaus“ entwickelte, in der es nicht zuerst um Geschmacksfragen ging. In den Zeitungen und Zeitschriften der frühen Bundesrepublik, im „Spiegel“, in der „Welt“ und vielen anderen, erschienen binnen eines Jahres 80 Rezensionen. Darin wurde über ein Buch gestritten, zugleich wurde aber auch die politische Qualität der Bonner Republik verhandelt.

Während Alfred Andersch Koeppen in die Gemeinschaft linker Intellektueller aufnahm, erfreuten sich alt gewordene Rechtsradikale der Weimarer Republik wie Ernst von Salomon an der wüsten Polemik gegen „die da oben“. Kulturkonservative wie der FAZ-Herausgeber Karl Korn schätzten Koeppens Mischung aus Zeitkritik und Melancholie. Die Bonner Journalisten Fritz René Allemann und Klaus Harpprecht schrieben ihrerseits polemische Verrisse; Allemann entwickelte sogar seine berühmte These „Bonn ist nicht Weimar“ direkt aus einer Rezension des Treibhaus-Romans.

Die Rezeption war widersprüchlich und konflikthaft, so widersprüchlich und konflikthaft wie das Bonner Klima, das der Roman literarisch verewigt hat. Als historische Quellen gelesen, zeigen das „Treibhaus“ und seine Gegner, wie unwahrscheinlich, ja unglaubwürdig die Erfolgsgeschichte der Bundesrepublik ihren Zeitgenossen 1953 erschien – und dass ihre politische Kultur von Kritik und Selbstkritik wesentlich zu diesem Erfolg beigetragen haben.

Benedikt Wintgens, Berlin

(Anmerkungen: Der Autor arbeitet bei der Kommission für Geschichte des Parlamentarismus und der politischen Parteien e.V. (KGParl). Der Essay entspricht weitgehend einem Vortrag am 4. September 2019 im „Haus der Geschichte“ in Bonn anlässlich eines Kolloquiums zum Thema „70 Jahre Deutscher Bundestag“, Erstveröffentlichung im Demokratischen Salon im September 2019. Der Vortrag bezieht sich auf die Dissertation des Autors: Treibhaus Bonn. Die politische Kulturgeschichte eines Romans, Düsseldorf, Droste 2019.)