Kinder wissen was sie wollen

Die UN-Kinderrechtskonvention und das Landesprogramm Kinderrechte

Die UN-Kinderrechtskonvention trat am 2. September 1990 in Kraft. Inzwischen sind alle UN-Mitgliedstaaten mit Ausnahme der USA der Konvention beigetreten, allerdings hatten einige, darunter auch Deutschland, zunächst Vorbehalte. Deutschland betonte den Vorrang des deutschen Ausländerrechts vor der Kinderrechtskonvention, nahm diesen Vorbehalt jedoch am 15. Juli 2010 zurück. Anlass des Vorbehalts war die in Deutschland übliche und auch längere Zeit mögliche Abschiebehaft gegen Kinder und Jugendliche.

Die Verankerung der UN-Kinderrechtskonvention im Grundgesetz lässt jedoch immer noch auf sich warten. Sie wurde zwar 2018 in der Koalitionsvereinbarung der „GroKo“ als Projekt benannt, doch ist es zurzeit – im Frühjahr 2020 – recht unwahrscheinlich, dass sich in Bundestag und Bundesrat die erforderliche Zwei-Drittel-Mehrheit finden wird. Den Grünen gehen die Vorschläge des Bundesjustizministeriums nicht weit genug, der CDU/CSU-Fraktion zu weit. Diese nunmehr seit über zehn Jahren währende Hängepartie erinnert an vergangene Debatten. Erst 1980 wurde in Deutschland das „Züchtigungsrecht“ von Eltern abgeschafft. § 1631 Abs. 2 BGB: „Kinder haben ein Recht auf gewaltfreie Erziehung. Körperliche Bestrafungen, seelische Verletzungen und andere entwürdigende Maßnahmen sind unzulässig.“ Bayern war 1980 das letzte Bundesland, das die Züchtigung durch Lehrkräfte verbot.

Doch warum ist es so schwer, die Rechte von Kindern gesetzlich festzuschreiben und durchzusetzen? Ein grundlegender Streitpunkt ist das Verhältnis zwischen Elternrechten und Kinderrechten. Manche befürchten sogar, durch die ausdrückliche Verankerung von Kinderrechten im Grundgesetz erhielte der Staat unmittelbaren Zugriff auf die Erziehung der Kinder, eine in sich widersprüchliche Annahme, da Eltern die Vertreter*innen der Rechte ihrer Kinder sind, wenn diese sie nicht selbst wahrnehmen können. Andere können nicht schnell genug betonen, dass wer Rechte wolle, auch Pflichten habe, als wenn dies jemand jeweils abgestritten hätte. Konkret werden die Gegner*innen nie. Sie belassen es bei vagen Vermutungen. Die UN-Kinderrechtskonvention hingegen formuliert konkrete Schutzrechte für Kinder vor jeglicher gesellschaftlicher Organisation, auch vor staatlichem Zugriff.

Education Y, eine zivilgesellschaftliche Organisation mit dem Motto „Bildung.Gemeinsam.Gestalten“, arbeitet in den drei Feldern Familie, Schule und Digitales. In Nordrhein-Westfalen organisiert Education Y das inzwischen in über 120 Grundschulen präsente Landesprogramm „Kinderrechteschulen“. Partner sind u.a. UNICEF und das Themennetzwerk Bildungslandschaften der National Coalition Deutschland, die sich die Umsetzung der UN-Kinderrechtskonvention zur Aufgabe gemacht hat.

Landeskoordinatorin des Landesprogramms ist Elisabeth Stroetmann, eine der beteiligten Schulen die Gottfried-Kinkel-Grundschule in Bonn-Oberkassel, deren Schulleiter, Christian Eberhard, diese Schule gemeinsam mit einem Träger der freien Jugendhilfe, dem Kinderwerk Baronsky als offene Ganztagsschule etabliert hat. In der Schule leben und lernen etwa 290 Kinder. Etwa 275 Kinder nehmen am offenen Ganztag teil. Am 28. Februar 2020 hatte ich Gelegenheit, mit beiden über ihre Erfahrungen und Perspektiven zu sprechen.

Die Kinder sind die Rechte-Inhaber, die Erwachsenen die Pflichtenträger

Norbert Reichel: Einer der wesentlichen Vorbehalte von Gegner*innen einer Verankerung der Kinderrechte im Grundgesetz ist die von diesen behauptete fehlende „Reife“ der Kinder. Sie wären gar nicht in der Lage zu erkennen, was Rechte sind.

Elisabeth Stroetmann: Der „General Comment“ zur UN-Kinderrechtskonvention  (deutsche Übersetzung ist verfügbar) stellt unmissverständlich fest: Jedes Kind darf und kann sich äußern. Es ist die Pflicht der Erwachsenen selbst dann, wenn man oder frau das Kind nicht versteht, zu erforschen, was Kinder wünschen. Partizipation heißt, ich muss als Erwachsene*r das Gespräch mit den Kindern suchen, gegebenenfalls auch mit nicht-sprachlichen Mitteln. Daraus ergibt sich dann Teilhabe. Teilhabe heißt natürlich nicht – wie von Gegner*innen behauptet – dass das Kind immer seinen Willen bekommt, aber es hat ein Recht darauf, dass es darüber verhandeln darf, ob sein Wille durchsetzbar ist und für den Fall, dass nicht, warum.

Ich darf aus der Einführung des Kommentars in der deutschen Übersetzung zitieren: „Das Recht aller Kinder, gehört und ernst genommen zu werden, begründet einen der grundlegenden Werte des Übereinkommens. Der Ausschuss für die Rechte des Kindes bezeichnet Artikel 12 als eines der vier Grundprinzipien des Übereinkommens, neben dem Recht auf Nichtdiskriminierung, dem Recht auf Leben und Entwicklung und dem Recht auf vorrangige Erwägung des Wohls des Kindes. Diese Einschätzung unterstreicht, dass Artikel 12 nicht nur ein Recht in sich formuliert, sondern auch bei der Interpretation und Umsetzung aller anderen Rechte zu berücksichtigen ist.“

„Wohl des Kindes“ – englisch: „best interests of the child“ – bedeutet, dass ich als Erwachsene*r herausbekommen muss, was das Kind will. Die UN-Kinderrechtskonvention adressiert alle Erwachsenen als Pflichtenträger: Sie sind verantwortlich dafür, dass Kinder und Jugendliche ihre Rechte kennen und ermutigt werden, diese auch einzufordern. Kinder und Jugendliche sind die Rechte-Inhaber und werden als eigenständige Subjekte in den Blick genommen. Damit sind sie nicht länger „Objekte“ von Bildung und Erziehung.

Norbert Reichel: Wie sieht der aktuelle Stand der Umsetzung der UN-Kinderrechtskonvention in Deutschland aus?

Elisabeth Stroetmann: In ihren Empfehlungen zur Menschenrechtsbildung in der Schule greift die Kultusministerkonferenz die Kinderrechte auf. (Beschluss der Kultusministerkonferenz vom 04.12.1980 i.d.F. vom 11.10.2018). Das Deutsche Institut für Menschenrechte hat auf seiner Internetseite sechs Karten veröffentlicht, aus denen leicht ersichtlich ist, was sich getan hat und was nicht. Hessen ist das einzige Bundesland, das die Kinderrechte bereits in seiner Verfassung verankert hat. Hauptamtliche Kinderbeauftragte gibt es nur in Sachsen-Anhalt, in Hessen immerhin ehrenamtliche, sonst Fehlanzeige. Bei diesen Fakten müssen wir es fast als Erfolg verbuchen, dass Jugendliche ab dem 16. Lebensjahr in vier Bundesländern den Landtag wählen dürfen, in Brandenburg, in Bremen, in Hamburg und in Schleswig-Holstein. Es gibt weitere Karten zu Besuchszeitregelungen für Kinder von inhaftierten Menschen, zum Zugang geflüchteter Kinder zu Schulen und Kitas.

Norbert Reichel: Die Verfassungskommission in Nordrhein-Westfalen ist 2017 u.a. daran gescheitert, dass die damalige Opposition nicht bereit war, das Wahlrecht für junge Menschen ab 16 zuzugestehen. Manchmal kommt mir die Debatte zu diesem Punkt recht schräg vor. Wenn es um jugendliche Intensivtäter*innen geht, sind manche auf der konservativen Seite – und nicht nur dort – schnell bereit, die Strafmündigkeit herabzusetzen und auch Unter14jährige in den Jugendstrafvollzug zu schicken. Man traut Unter18jährigen zwar die Verantwortlichkeit für kriminelle Taten zu, nicht jedoch für die Zusammensetzung eines Parlaments. Evaluiert jemand die Umsetzung der UN-Kinderrechtskommission in den Ländern?

Elisabeth Stroetmann: Eine kurze Anmerkung zum Strafrecht. Einschlägig ist Artikel 37 der UN-Kinderrechtskonvention. Gerade beim Strafrecht muss der erzieherische Aspekt im Vordergrund stehen. Es war wichtig festzuhalten, dass die in Strafverfahren für Erwachsene geltenden Rechte auch in Strafverfahren gegen Kinder gelten, beispielsweise das Recht auf eine*n Strafverteidiger*in. Dies sowie die Frage der Dauer einer Jugendstrafe sind in § 16 JGG (Jugendgerichtsgesetz) umgesetzt.

Allgemein: Der UN-Ausschuss für die Rechte des Kindes hat in seinen letzten an die Bundesregierung gerichteten Concluding Observations aus dem Jahr 2014 große Besorgnis darüber geäußert, dass „das Schulsystem in den meisten Bundesländern in ein dreigliedriges System mit Haupt- und Realschulen sowie Gymnasien unterteilt ist, (…), dass die entsprechende Wahl zu einem sehr frühen Zeitpunkt getroffen werden muss und es schwierig sein kann, die verschiedenen Schulzweige später zu wechseln (…) dass Kinder aus ethnischen Minderheiten deutlich schwächere schulische Leistungen erbringen und die Schule doppelt so häufig ohne Abschluss verlassen wie Schülerinnen und Schüler, die keiner ethnischen Minderheit angehören.“

Fünf Jahre später, kurz vor dem nächsten Berichtszyklus, hat sich wenig bewegt. Eine qualitätsvolle Reformierung des gegliederten Schulsystems konnte auch durch die Verpflichtung zur Realisierung eines inklusiven Bildungssystems entsprechend der UN-Behindertenrechtskonvention (UN-BRK) nicht vorangebracht werden.

Norbert Reichel: Ich habe eher den Eindruck, als fielen wir wieder in Zeiten zurück, in denen Exklusion als leistungsfördernd verkauft wurde. Kinder aus eher gut situierten Familien haben es nach wie vor leichter, sich in der Schule und in der Gesellschaft zurechtzufinden. Meines Erachtens nimmt Klassismus zurzeit deutlich zu.

Elisabeth Stroetmann: In den Concluding Observations weist der UN-Ausschuss die Bundesregierung auf den „unbefriedigenden Zustand des Zugangs von Kindern und Erwachsenen insbesondere jedoch von Kindern in prekären Lebenslagen – zu Informationen über Kinderrechte“ hin und „bekräftigt seine vorherige Sorge, dass der Vertragsstaat im Hinblick auf das Übereinkommen nicht angemessen auf systematische und gezielte Weise im Bereich der Verbreitung, Sensibilisierung und Fortbildung aktiv wird, insbesondere innerhalb des schulischen Umfelds und gegenüber Fachkräften, die mit Kindern arbeiten.“ 

Das Ziel: die „Kindfähigkeit“ der Schule

Norbert Reichel: Das sind deutliche Worte, die manche Akteur*innen im deutschen Streit um Schulstrukturen ins Schwitzen bringen sollten. Zum Begriff des „Kindeswohls“. „Kindeswohl“ wird in Deutschland – gerade auch angesichts der Missbrauchsfälle, die in den letzten Jahren publik wurden – in der Regel ausschließlich auf die körperliche Unversehrtheit und die sexuelle Selbstbestimmung bezogen. Aber in dem Begriff steckt offenbar mehr. Deshalb gefällt mir der englische Begriff „best interests of the child“ auch besser. Aber wie sollen Kinder wissen, welche Rechte sie haben? Die meisten Leser*innen der UN-Konvention dürften das Wort „Reife“ mit „Alter“ übersetzen.

Elisabeth Stroetmann: Das ist falsch. Ich zitiere aus dem Kommentar: „Der Grad des kindlichen Verstehens hängt nicht allein vom biologischen Alter ab. Untersuchungen haben gezeigt, dass Kenntnis, Erfahrung, Umwelt, soziale und kulturelle Erwartungen sowie das Ausmaß an Unterstützung zur Entwicklung der Fähigkeit des Kindes beitragen, sich eine Meinung zu bilden.“ Das „Recht auf Bildung“ verlangt, dass Kinder über ihre Rechte in Kenntnis gesetzt werden, dass sie informiert werden und vor allem, dass ihnen Räume eröffnet werden, diese Rechte wahrzunehmen. Mit der Ratifizierung der UN-Kinderrechtekonvention hat sich die Bundesrepublik zur Bekanntmachung der Konvention verpflichtet (Artikel 42 UN-KRK). Vor diesem Hintergrund stehen alle Erwachsenen in der Verpflichtung den Kindern und Jugendlichen ihre Rechte bekannt zu machen. Erwachsene werden als Pflichtenträger, die Kinder und Jugendliche als Rechteinhaber adressiert. Es gibt eine Bringschuld der Erwachsenen und damit auch der Schule.

Norbert Reichel: Diese Bringschuld fordert Räume für Beteiligung eröffnen, das heißt so viel wie Gelegenheiten ermöglichen?

Christian Eberhard: Genau das. Wir sprechen in unserer Schule bewusst nicht mehr von „Schulfähigkeit“, sondern von der „Kindfähigkeit des Systems Schule“. Schon ganz kleine Kinder haben Rechte und machen diese deutlich. Es geht dabei nicht um die Frage, dass ein Kind immer bekommt, was es will. Ich muss als Erwachsener mich selber reflektieren, an welcher Stelle ich gerade ein Recht des Kindes einschränke. Wir nehmen die Kinder ernst, das heißt für mich als Erwachsener: ich muss Macht abgeben, Macht teilen. Im pädagogischen Bereich ist das nicht einfach. Das Klischeebild einer Lehrkraft ist, ich habe recht, ich weiß. Von dieser Grundannahme müssen wir uns verabschieden. Wir müssen in der Schule Instrumente einführen, mit denen wir zeigen, dass und wie wir Kinder und ihre Rechte ernst nehmen und Räume dafür eröffnen. Das sind beispielsweise die Wahl von Sprecher*innen im Gegensatz zur Ernennung durch die Lehrer*innen oder die Einführung von Klassen- und Schulparlamenten, auf Klassenebene auch oft Klassenräte genannt, in denen offen und kontrovers debattiert werden kann und man demokratisch mitwirken kann. Dabei geht es um echte Partizipation.

Norbert Reichel: Das ist für manche Kolleg*innen sicherlich nicht einfach.

Christian Eberhard: Das ist richtig. Aber es ändert sich viel. Manche Lehrer*innen, auch Erzieher*innen und Sozialpädagog*innen haben zumindest unterschwellig noch den Wunsch ‚durchzuregieren‘. Sie haben ein Bild von ihrer Arbeit und von den Erfolgen, die sie sich wünschen oder die in Lehrplänen oder Schulprogrammen vereinbart worden sind, und diese Bilder müssen nicht mit dem übereinstimmen, was Kinder wollen und brauchen. In den Kollegien haben wir aber die gleichen Debatten wie in der Gesellschaft. Es ist eben in der Gesellschaft strittig, ob und wie ich Kinderrechte berücksichtige, ob und wie ich inklusiv arbeite. Es gibt immer noch und immer wieder viele Menschen, die Kinder als defizitäre Wesen betrachten.

Norbert Reichel: Eine solche Einstellung hat immer wieder Konjunktur. Frida Thurm hat dies in ihrem ZEIT-Artikel „Egal ob Fritzi flennt“ kürzlich am Beispiel einer Musikschulpädagogin beschrieben. Sie erinnert an die Debatten um Bernhard Bueb 2006 und Amy Chua 2011, in denen auch schon mal ein Talkshowgast meinte, „Qualität“ von „Quälen“ ableiten zu müssen, im Grunde ein Erziehungsstil älterer Fußballtrainer wie seinerzeit unter Felix Magath. Das ist ein Bild von Schulen wie es in der „Feuerzangenbowle“ der Professor Schnauz vertrat: „Die Schule ist wie eine bittere Medizin, sonst nötzt se nichts“.

Christian Eberhard: Ich bezweifele sehr, dass wir mit solchen Methoden Leistung erreichen. Wir wollen ja, dass jedes Kind das, was es leisten kann, auch leistet. Druck hilft nicht. Bildung und Lernen sind Recht der Kinder und sollten positiv besetzt sein. Im Zentrum stehen dabei die individuelle Entwicklung und Persönlichkeit des Kindes und seine unterschiedlichen Begabungen in den verschiedenen Bildungsbereichen. Kinder und Erwachsene wollen gleichermaßen wissen, wofür und warum sie sich für das Erreichen eines Ziels anstrengen müssen.

Mit Druck erreichen wir nur, dass das, was auf diese Art gelernt wird, mit äußerst unangenehmen Erfahrungen, in Teilen mit Demütigungen und zumindest psychischer Gewalt verbunden wird. Wir reden daher nicht von einem Kind als defizitärem Wesen, sondern ganz einfach von einem Menschen, der Rechte hat. Wir verabschieden uns vom Rotstiftdenken. Die Umsetzung war und ist bei uns natürlich ein lang andauernder und oft sehr schwieriger Ganztagsschulentwicklungsprozess, auch im Dialog mit den Eltern, die ihre eigenen Vorstellungen von Schule und von Fähigkeiten und Wünschen ihrer Kinder haben. Es kommt nicht darauf an, ob sich jemand anpasst, sondern wir brauchen in Zukunft kreative, selbstwirksame und empathische Kinder.

Elisabeth Stroetmann: Das ist eine Frage der Professionalität, des Verständnisses des eigenen Berufs und betrifft die pädagogische Ethik aller Pädagog*innen im Kern. Annedore Prengel hat viel über pädagogische Beziehungen geforscht (z.B. Pädagogische Beziehungen zwischen Anerkennung, Verletzung und Ambivalenz. Barbara Budrich, Opladen & Farmington Hills 2013). Es hat sich gezeigt, dass Kinder und Jugendliche auf allen Bildungsstufen Verletzungen durch Erwachsene, die sie betreuen und unterrichten, erfahren. Durchschnittlich haben sich (ihren Untersuchungen zur Folge) mehr als 5 Prozent aller pädagogischen Interaktionen als sehr verletzend und weitere 20 Prozent als leicht verletzend erwiesen. D.h., dass es sich bei seelischen Verletzungen um die Gewaltform handelt, von der Kinder und Jugendliche am häufigsten im Kontext Schule betroffen sind. Dies ist umso bemerkenswerter, als dass die Lehrer*innen, die sich an der Studie beteiligten, wussten, dass sie beobachtet wurden. Vieles läuft da im Un- und Vorbewussten ab.

Es wäre meines Erachtens eine grundlegende Aufgabe der Aus- und Fortbildung von Lehrkräften, Erzieher*innen, Sozialpädagog*innen, dies bewusst zu machen. Was wir dringend brauchen ist eine menschenrechtsbasierte strukturen- und machtsensible professionsethische Reflexivität. Sie sollte sich nicht nur auf die individuelle Gestaltung pädagogischer Beziehungen beschränken, sondern darüber hinaus auch die Machtbezogenheit des institutionellen Kontexts in den Blick nehmen. Denn wenn destruktive Normen, die auch historisch eng mit tradiertem und akzeptiertem Lehrer*innenverhalten verwoben sind, unhinterfragt bleiben, zeigt das doch nur bedenkliche Defizite an kinderrechtlich fundierten Normen im pädagogischen Mainstream. Nur dann können wir die beschriebenen „Verletzungen“ abstellen.

Norbert Reichel: Das hat viel mit Habitualisierung zu tun. Der Habitus der allwissenden Erwachsenen.

Elisabeth Stroetmann: Der Ansatz der Kinderrechte entspricht dem Menschenrechtsansatz. Gemäß Artikel 2 Absatz 2 der Erklärung der Vereinten Nationen für Menschenrechtsbildung und -training umfasst Menschenrechtsbildung Bildung über, durch und für Menschenrechte. Diese Trias müsste sich in Aus- und Fortbildung wiederfinden. Bildung über Kinderrechte braucht Wissen und Verstehen und die Information der Kinder und Jugendlichen über ihre Rechte; Bildung durch Kinderrechte erfordert die partizipative, inklusive und diversitätsbewusste Gestaltung der Lernumgebung und respektvolle pädagogische Beziehungen; Bildung für Kinderrechte erfordert demokratisches Handeln, Engagement und Empowerment für eine kindergerechte und menschengerechte Welt. Jörg Maywald, Deutsche Liga für das Kind, hat in diesem Sinne eine Ethik des pädagogischen Handelns formuliert.

Die UN-Konventionen gehen alle von der Verletzbarkeit, der „Vulnerability“ der Gruppen aus, für die sie geschrieben worden sind. Wir orientieren uns in unserem Landesprogramm an den „Rights Respecting Schools“ in Großbritannien, die von UNICEF, auch einer unserer Partner, begleitet werden.

Wir arbeiten nicht mit moralischen Appellen, sondern stellen das Recht auf Bildung in den Mittelpunkt. Dann stellt sich von selbst die Frage, was ich brauche, um meine Rechte wahrzunehmen. Dazu gehört beispielsweise, dass Kinder auf diese Weise lernen, dass und warum es wichtig ist, dass sie in der Klasse ihre Bücher, ihre Stifte, ihr Tablet – was auch immer erforderlich ist, um dem Unterricht zu folgen – dabeihaben sollten, oder auch dass es wichtig ist, sich in der Klasse zivilisiert miteinander auszutauschen, nicht dazwischenzureden, die Rechte der Anderen zu respektieren. Für die Erwachsenen heißt dies, dass ich mit den Kindern darüber sprechen muss, warum das so wichtig ist. Ohne Bücher keine Teilhabe, ohne Bücher kann ich mein Recht auf Bildung nicht wahrnehmen.

„Beziehungsreiches Lernen“

Norbert Reichel: Manchmal bin ich in Schulen und sehe an der Eingangstür eine Art Dekalog, beispielsweise mit Sätzen wie „Ich höre den anderen zu“. „Ich komme pünktlich in den Unterricht.“

Christian Eberhard: Solche Regeln können hilfreich sein, wenn die Gemeinschaft sich noch nicht gefunden hat. Wichtig ist die Frage, ob ich diese wenigen Regeln von oben verkünde oder ob ich sie mit den Schüler*innen gemeinsam erarbeite und der Sinn für alle deutlich wird. Mir war in unserer Bildungseinrichtung sehr schnell klar, dass wir auch ohne Regeln arbeiten können und müssen. Regeln benötigen Sanktionen und Konsequenz. Daran fehlt es oft im Alltag. In den letzten zwei Jahren hatten wir so gut wie keine Ordnungsmaßnahmen mehr.

Norbert Reichel: Hätten Sie Beispiele?

Christian Eberhard: Ein Kind hat ein anderes Kind geschlagen oder einen Stuhl geworfen. Der erste Reflex vieler Erwachsener in der Schule ist es, das Kind zu sanktionieren, eine Erziehungs- oder Ordnungsmaßnahme zu verhängen. Oft fühlen sich die Erwachsenen auch persönlich verletzt, da das Kind nicht so agiert wie gewünscht. Ob getroffene Maßnahmen das Kind beeindrucken und etwas bewirken, ist oft fraglich. Ich plädiere für andere Methoden: Zunächst ist ein Ortswechsel zur Klärung des Konfliktes hilfreich. Wir brauchen etwas Zeit, damit sich die Situation beruhigt. Das heißt, dass das Kind einmal zehn Minuten bei der Schulleitung oder an einem anderen Ort mit Beaufsichtigung bleibt, vielleicht auch Gelegenheit erhält, über den Vorfall zu sprechen. Das entspannt alle Beteiligten. Diese Entspannung erleichtert, zu einem späteren Zeitpunkt über die Angelegenheit zu sprechen, Gründe herauszubekommen und Vereinbarungen zu treffen.

Wir sind eine Offene Ganztagsschule und haben das Wort „Regeln“ weitgehend aus dem Schulleben abgeschafft. Wir sprechen jetzt von „Verfahrensabläufen“, die bei Störungen gelten. Wir trainieren das spielerisch und wenn etwas nicht funktioniert, üben wir erneut. Einmal im Monat erklären die Kinder solche Verfahrensabläufe anderen Kindern. Das ist erheblich wirksamer – oder wie man heute sagt – auch nachhaltig.

Norbert Reichel: Wie entstehen Vereinbarungen über solche Verfahrensabläufe? Es geht ja nicht um nur eine angemessene und deeskalierende Reaktion auf ad-hoc-Ereignisse.

Christian Eberhard: Die Kinder bringen selbst ein, was ihrer Ansicht nach geregelt werden sollte. Dann überlegen sie im Klassenrat, im Schulparlament, was die beste Lösung wäre. Das diskutieren alle miteinander. Wir haben dieses Konzept gemeinsam mit der Bonner Schulpsychologie konzipiert, die uns bei unserer Schulentwicklung gut unterstützt. Als Überschrift haben wir „Beziehungsreiches Lernen“ gewählt. Je mehr ich eine feste Beziehung zwischen den Pädagog*innen und den Kindern habe, umso weniger Reglementierungen brauche ich. Hinter der kindgerechten guten Atmosphäre stecken viele unsichtbare Strukturen wie die Verfahrensabläufe, die wir im Ganztag mit allen Erwachsenen und Kindern abgestimmt haben.

Ich nenne ein Beispiel: Kinder möchten in der Pause in der Eingangshalle bleiben. Das brachte Probleme mit sich. Kinder, die in Ruhe lesen wollten, fühlten sich durch andere, die andere Vorstellungen von ihrer Pause hatten, gestört und auch die Aufsichtsfrage stellte sich. Das Ergebnis der demokratischen Prozesse in unserer Schule: Es wurde vereinbart, dass jeweils zwei Kinder einer Klasse in der Pause drinbleiben dürfen. Es gibt grüne Schärpen, die die Kinder tragen, um sichtbar zu machen, dass dies abgesprochen ist.

Wir haben natürlich einen Vorteil, denn wir haben über unseren Ganztag ab 11.30 Uhr auch Doppelbesetzungen, Tandems, nicht rund um die Uhr, aber wir haben die Möglichkeit dazu, dass eine Lehrer*in und eine Erzieher*in des Kinderwerks Baronsky gemeinsam als Ansprechpersonen für eine bestimmte Gruppe zur Verfügung stehen.

Norbert Reichel: Wie regeln Sie Streitigkeiten zwischen den Kindern oder besser formuliert: welche Verfahren vereinbaren Sie für solche Fälle?

Christian Eberhard: Wir haben Streitschlichtungsverfahren eingeübt. Interessant war, dass es dabei auch einen Streit um Fake-Streits gab. Kinder meldeten Streitigkeiten, die es gar nicht gab. Das wurde dann im Kinderparlament diskutiert und konnte auf diese Weise erledigt werden. Wichtig ist einerseits die Haltung aller Erwachsenen den Kindern gegenüber und andererseits die gute Zusammenarbeit von Jugendhilfe und Schule. Wir haben dieselben Kinder im Ganztag und gehen einheitlich vor, das entlastet die Beziehung. Die Kinder nehmen ihre Rolle als Streitschlichter*innen sehr ernst, schreiben Protokolle und werden von vielen Kindern aufgesucht. Sie sind in Teilen bessere Streitschlichter*innen als die Erwachsenen, da sie näher dran sind.

Norbert Reichel: Es geht also auch um die Klärung der Verfahren für die Beziehungen der Kinder untereinander.

Christian Eberhard: Es gibt in Bonn einen wunderbaren Qualitätszirkel mit dem Titel „Herausforderung Schülerverhalten“. Ich beteilige mich aktiv, aber ich muss gestehen, dass ich immer die Gefahr sehe bei uns Schulen und auch bei der Jugendhilfe, zu schnell auf die Regel- und Sanktionsebene zu gehen. Ich glaube, wir sind bei uns schon ein paar Schritte weiter, auch im Hinblick auf die Klärung der Beziehungen der Kinder untereinander.

Elisabeth Stroetmann: Wichtig ist immer die Bezugsnorm Kinderrechte. Art. 31 der Kinderrechtskonvention normiert ein Recht auf Spiel und Freizeit. Ein Beispiel: auf dem Schulhof einer Schule gibt es eine Bank, auf die kann sich ein Kind setzen, das niemanden zum Spielen gefunden hat. Setzt sich das Kind dahin, wissen alle Bescheid, und es kommt fast immer sehr schnell ein anderes Kind, und das Problem ist gelöst.

Es geht darum, die Rechte der Kinder sichtbar zu machen, um „Visibilität“. Dann ist das nicht mehr abstrakt, sondern wird auch konkret. Das geht bis zum Verhalten auf den Toiletten, dort um das Recht auf Privatheit. Aus gegenseitigem Respekt, aus gegenseitiger Aufmerksamkeit entsteht Solidarität. Kinder lernen zu respektieren, dass andere Rechte haben, genau wie sie. Dazu brauchen wir keine Regeln, wir brauchen Vereinbarungen, deren Umsetzbarkeit daran zu messen ist, wie sie sichtbar sind.

Inklusive Bildung – Problemen auf den Grund gehen

Norbert Reichel: Der sehr populäre Film „Systemsprenger“, der 2019 in Berlin Premiere hatte und inzwischen auf Netflix verfügbar ist, scheint mir die Grenzen von Konzepten zu zeigen, die auf Vereinbarungen setzen.

Christian Eberhard: Viele Konflikte in Schulen sind m.E. oft hausgemachte Probleme, betreffen den Punkt der Kindfähigkeit unseres Systems. Ich nenne drei Elemente, die eng miteinander zusammenhängen: Kinderrechte – guter Unterricht nach Hilbert Meyer – Nähe und Freiheit. Es kann sogar gut sein, wenn mal ein Kind das „System sprengt“ und damit darauf aufmerksam macht, dass wir auf etwas nicht ausreichend geachtet haben. Wir brauchen Räume und Zeiten, die wir auch diesem Kind eröffnen können, um eine Ganztagsbildung erfolgreich zu ermöglichen. Gerade hier ist der Ganztag hilfreich, mit seinem Mehr an Zeit, seinem differenzierten Raumkonzept, der Mitarbeit von Lehrer*innen, Erzieher*innen und Schulassistent*innen. Wie lernen wir Erwachsene und warum übertragen wir davon nicht ganz viel auf die Kinder!

Ich erinnere mich an einen Jungen, dessen Verhalten für uns eine große Herausforderung war. Der Kollegin und dem Team ist es gelungen, ihn zu integrieren, indem wir ihm Gelegenheit gaben, erst einmal etwas anderes zu tun, seiner Wut Raum zu geben. Sie haben Ausnahmen erlaubt und den Jungen vor der Gruppe immer wieder positiv in die Gemeinschaft geholt. Mit der Zeit löste sich das Problem, am Ende von Klasse 4 hielt sich dieser vielfältig begabte Junge an Verfahrensabläufe. Die Klassenlehrerin machte in ihrer Klasse auch immer klar, dass dieses Kind dazugehörte, auch wenn es gerade einmal nicht da war. Wir hatten auch andere Beispiele, ein Kind, das gegen sich selbst und andere gewalttätig wurde. Die Kinder waren von der Lehrkraft so begleitet worden, dass sie diesen Jungen immer wieder als Teil der Gruppe einforderten und viele Kind zu Kind Gespräche führten. Wir geben den Kindern viele Freiheiten und Räume. Nicht alle können damit umgehen und benötigen engere Begleitung, aber das heißt nicht, dass wir es für alle enger ziehen müssen.

Elisabeth Stroetmann: Diese Kinder machen nicht Probleme. Sie haben Probleme. Das liegt durchaus auch am System Schule. Es geht um die Zugewandtheit der Lehrkräfte, es geht um die Spielräume, die Lehrer*innen den Kindern lassen, sich selbst zu entdecken. Schule wird von vielen Beteiligten als ein selektives segregierendes System verstanden. Dies hat die UN-Kommission in ihrem ersten Bericht über die Kinderrechtskonvention in Deutschland festgestellt und moniert. Das System wurde als nicht kindgerecht, als in vielen Punkten zumindest informell diskriminierend bewertet.

Christian Eberhard: Ein weiteres Beispiel: Wir hatten ein Kind, dessen Vater schwer krank war. Das Kind war völlig von der Rolle. Das Klassenteam aus Lehrkraft und Erzieherin hat versucht, den Ursachen der Probleme, die ich diesem Kind zuschreibe, nachzugehen und dadurch erfahren, was dahintersteckt. Und dann gibt es Lösungen. Ich muss das System nicht für alle ändern, sondern das System so flexibel halten, dass es sich immer an die Bedürfnisse eines einzelnen Kindes anpassen kann.

Ein neues Berufsverständnis „in the best interests of the child“

Norbert Reichel: Ordnungsmaßnahmen sind dann immer der falsche Weg. Gerade bei dem Kind, dessen Vater im Sterben lag, hätte das die seelische und sicher auch körperliche Belastung dieses Kindes nur noch gesteigert. Ein wichtiger Punkt ist meines Erachtens hier auch der ganzheitliche – noch so ein pädagogischer Begriff, der viel zu selten mit Leben gefüllt wird – Zugang zu dem, was Kinder bewegt.

Christian Eberhard: Ich nenne immer wieder Bereitschaft, Zeiten und Räume zu erschließen und zuzulassen.

Elisabeth Stroetmann: Das lässt sich als Grundeinstellung in einem Kollegium erleichtern, wenn das Lehrerzimmer nicht mehr Lehrerzimmer, sondern Personalraum heißt. Dann schließt dies auch alle ein, Lehrer*innen, Erzieher*innen, Schulassistent*innen werden zum Team. All dies ist Gegenstand der von uns angebotenen Fortbildungen. Wir haben ein eigenes Trainingsangebot für Lehrer*innen, Erzieher*innen und Sozialpädagog*innen, die sich in unserem Landesprogramm engagieren möchten.

Christian Eberhard: Ich spreche mit den Kolleg*innen immer wieder darüber, dass es zuerst einmal wichtig ist, dass sich das Kind wohl fühlt. Wenn das Kind sich wohlfühlt, werden auch die Leistungen da sein.

Norbert Reichel: In the best interests of the child.

Christian Eberhard: Dazu müssen sich Kinder auch beschweren können. Der Umgang mit Beschwerden der Kinder ist eine kostenlose Evaluation unserer Arbeit.

Wir haben in der Schule Lerngespräche eingeführt. Eine ehemalige Kollegin meinte vor der Einführung, diese Zeit ginge vom Unterricht ab, dazu hätten sie als Lehrer*innen eigentlich keine Zeit. Jetzt haben wir u.a. ein „Walk and Talk“. Ohne jedes Material. Lehrer*in und Kind gehen miteinander irgendwo auf dem Schulgelände spazieren und sprechen darüber, was los ist. Es gibt natürlich einen Anlass, den das Kind einfordern kann. Für die Lehrer*in ist das einfach umzusetzen, weil ich bewusst mit dem Stundenplan flexibel arbeite und damit Spielräume für Doppelbesetzungen erhalte, auch mit den Mitarbeiter*innen im offenen Ganztag in der Lernzeit. Wir erwirtschaften die Zeit. Inzwischen funktioniert das in manchen Konstellationen sogar ohne Doppelbesetzung.

Elisabeth Stroetmann: Unabhängig davon wäre es sicherlich schulpolitisch gut, wenn im Stundenplan jeder Klasse eine Stunde für den Klassenrat reserviert werden könnte.

Norbert Reichel: Das wäre nicht zuletzt ein wichtiges Signal der Wertschätzung der Kinderrechte in der Schule.

Christian Eberhard: Zur Wertschätzung in einer Schule gehört auch die Wertschätzung von Hausmeister*in und Sekretär*in. Bei unserem Goki Rat zweimal im Jahr sind die immer dabei.

Elisabeth Stroetmann: Das ist dann so eine Art Pädagogischer Tag zum Thema Kinderrechte mit allen Erwachsenen.

Christian Eberhard: Die Kinder sind oft offener in solchen neuen partizipativen Formaten als die Erwachsenen. Manche Erwachsene haben Angst, ins Offene zu gehen und das Ergebnis zu wissen, und denken in Teilen sie würden den Ansprüchen nicht genügen. Daraus entsteht dann gelegentlich die Frage, ob die Kinder jetzt alles bestimmen könnten, und das sagen dann manche auch offen. Aber es geht nicht um Bestimmen, sondern um Mitbestimmen. Ich nenne ein weiteres Beispiel: Musik beim Mittagessen. Das mögen nicht alle. Das musste ausgehandelt werden, das Ob und das Wann, aber auch die Frage, welche Musik gespielt werden kann. Das betrifft Erwachsene und Kinder gleichermaßen.

Ein weiteres Beispiel war die Frage, welche Projektwoche wir in der Schule wollten. Aus dem Kollegium kam die Idee Beethoven, 2020 in Bonn nicht ganz unerwartet. Das kam bei den Kindern nicht so gut an. Jetzt fragten die Kinder: haben die Erwachsenen genauso eine Stimme wie wir oder bekommen die wieder alles? Ergebnis war eine Projektwoche zum Thema „Bewegung und Technik“. Alle hatten eine Stimme.

Kinderrechte in der Schule – das heißt Demokratiebildung

Norbert Reichel: Mein Eindruck: Kein Thema ist tabu.

Elisabeth Stroetmann: Das Deutsche Institut für Menschenrechte hat für die Partizipation der Kinder und Jugendlichen an Themen und Formaten in der Schule Niedrigschwelligkeit als Kriterium formuliert. Das heißt letztendlich, dass Kinder und Erwachsene gleichermaßen die Möglichkeiten haben müssen, ihre Themen zur Diskussion zu stellen, damit Entscheidungen auf demokratischem Wege getroffen, die Interessen von Minderheiten berücksichtigt und die Mehrheitsentscheidung dann von allen respektiert und akzeptiert werden können.

Norbert Reichel: Letztlich geht es um Demokratiebildung.

Elisabeth Stroetmann: Menschenrechtsbildung und Demokratie sind eng miteinander verbunden: die Menschenrechte sind der wesentliche und unveränderliche Kern der Verfassung der Bundesrepublik Deutschland (Art. 1-19). Demokratie ist Staats-, Gesellschafts- und Lebensform, die früh gelernt und gelebt werden muss.

Die UN-Kinderrechtskonvention stärkt demokratische Prozesse durch das Recht auf Anerkennung und Aushandlung von Interessen, auf wirksame Beteiligung und auf ermöglichte Selbst- und Mitverantwortung für die Erfüllung von Menschenrechten. Politische Bildung sorgt für das notwendige systematische und praktisch erfahrbare Wissen.

Kinderrechte in der Schule sorgen damit auch von Anfang an für politische Bildung in der Schule, völlig unabhängig von der fachlichen Zuordnung. Demokratie, Kinder- und Menschenrechte bestimmen den gesamten Schulalltag. Dies bedeutet, dass wir uns immer fragen müssen, ob das, was wir in der und für die Schule tun, den Ansprüchen der UN-Kinderrechtskonvention und des Grundgesetzes entspricht. Wenn nicht, müssen wir etwas ändern, und das alle gemeinsam in demokratischen Aushandlungsprozessen.

Norbert Reichel: Das Landesprogramm Kinderrechte soll auch in Schulen der Sekundarstufe I implementiert werden.

Elisabeth Stroetmann: Das ist schwieriger als in der Grundschule. Wir brauchen dort andere Formate. Das Problem liegt hier auch in der Konkurrenz der Schulen untereinander um Schüler*innen und um Ansehen in ihrer Stadt, in ihrer Gemeinde. Umso wichtiger ist ein verlässliches Feedback, auch in der Öffentlichkeit, und immer wieder Klarheit darüber, dass es nicht um Beurteilungen geht, beispielsweise wie gut Kinder eine Schule akzeptieren, wie wohl sie sich dort fühlen, sondern um Schulentwicklung, die nur gelingen kann, wenn alle offen darüber diskutieren, wie die Rechte aller Beteiligten angemessen berücksichtigt werden können. Bei den Lehrkräften sind wir da wieder bei dem Thema Rollenverständnis.

Norbert Reichel: Lehrer*innen müssen lernen, dass ihre Schüler*innen sich noch lange nicht für das interessieren müssen, für das sie sich interessieren, und dass die eigene Begeisterung für das Fach und für bestimmte Inhalte nicht ausreicht, anderen diese Begeisterung nahezubringen. Mitunter ist das sogar kontraproduktiv. Es gibt Generationen von Lehrer*innen, die mit ihrer Begeisterung Ablehnung und Abneigung erreichten. Ich habe das selbst erlebt. Ich habe nach meiner Schulzeit zehn Jahre gebraucht, bis ich wieder einen Roman von Theodor Fontane zu lesen bereit war.

Christian Eberhard: Ich habe dazu das Beispiel einer Lehrerin, die vieles mit Musik in ihrer Klasse gestaltete. Nicht alle Kinder waren davon auf Dauer begeistert und brachten eine Petition gegen das nächste Konzert ein. Hinter dem Rücken der Lehrerin, für die das sehr schwer war. Im Klassenrat wurde das alles besprochen. Das war ein demokratischer Prozess, in dem die Kinder lernten, dass auch ihre Lehrerin ein Recht hat, das gut zu finden, was sie gut findet, ein Recht auf ihre Begeisterung. Es wurde besprochen, wie die Kinder ihre Anliegen einbringen können, ohne andere zu verletzten und wie sichergestellt werden konnte, dass alle Anliegen ernst genommen werden.

Norbert Reichel: Viele Erwachsene denken über Schule nach, wie sie sein sollte, nicht wem sie nützen sollte. Und wenn sie über den Nutzen sprechen, reden sie von Abschlussprüfungen, Ausbildungszielen und Studiengängen oder noch allgemeiner vom Wohlergehen des Wirtschaftssystems. Kinderrechte, Demokratie geraten da mitunter in den Hintergrund, auch wenn die KMK mit ihren Beschlüssen zur Demokratie erheblich weiterdenkt. Ein hervorragendes Dokument aus Nordrhein-Westfalen, dem Land des Kinderrechteprogramms von Education Y sind die Bildungsgrundsätze 0 – 10 in Kindertagesbetreuung und Schulen im Primarbereich. Eines der Kapitel trägt die Überschrift: „Das Kind steht im Mittelpunkt“.

Christian Eberhard: Die Dokumente sprechen eine eindeutige Sprache. Aber wir wollen uns nichts vormachen. Die Umsetzung ist anspruchsvoll und wir müssen darauf achten, dass wir die Rechte aller, die der Erwachsenen wie die der Kinder, berücksichtigen und uns von der Auffassung verabschieden, Kinder, die Pädagogen, die Schulen immer nur als defizitär zu denken. Mit einer solchen Einstellung kommen wir nicht weiter. Wir brauchen Offenheit und Mut, unsere Spielräume zu nutzen. Dann wird eine Schule eine inklusive ganztägige Bildungseinrichtung. In den Worten Erich Kästners in seiner Rede an die Schulanfänger: „Da sitzt ihr nun, alphabetisch oder nach der Größe sortiert, zum ersten Mal auf diesen harten Bänken, und hoffentlich liegt es nur an der Jahreszeit, wenn ihr mich an braune und blonde, zum Dörren aufgefädelte Steinpilze erinnert. Statt an Glückspilze, wie sich’s eigentlich gehört.“

Elisabeth Stroetmann: Und vielleicht gibt es bald auch noch andere Länder, die das Landesprogramm Kinderrechte umsetzen möchten. Education Y ist bereit dazu, natürlich auch zu einem Ausbau in Nordrhein-Westfalen selbst!

Elisabeth Stroetmann ist ausgebildete Lehrerin für die Sekundarstufe I und II und hat lange Zeit die Fächer Deutsch und Philosophie in verschiedenen Schulen unterrichtet. Nach einer mehrjährigen Tätigkeit im Schulministerium Nordrhein-Westfalens entschied sie sich für die Aufgabe der Landeskoordinatorin des Landesprogramms Kinderrechte in enger Zusammenarbeit mit UNICEF Deutschland und Education-Y. Sie nimmt diese Aufgabe seit 2015 wahr und führt das Programm auf der Grundlage eines Vertrags zwischen Education Y und dem nordrhein-westfälischen Schulministerium durch. Der aktuelle Vertrag hat eine Laufzeit bis 2023. Lesenswert auch ihr Essay „Nur wer seine Rechte kennt, kann diese einfordern“.

Christian Eberhard ist seit 2005 ausgebildeter Grundschullehrer und seit 2011 Leiter der Gottfried-Kinkel-Grundschule in Bonn-Oberkassel. Er unterstützt die landesweite Qualitätsentwicklung im offenen Ganztag gemeinsam mit der Serviceagentur Ganztägig lernen in Nordrhein-Westfalen und der Bezirksregierung Köln. Eine ausführliche Darstellung der Umsetzung der Kinderrechte in der Gottfried-Kinkel-Grundschule findet sich in der Zeitschrift des Grundschulverbandes, Ausgabe 147 vom September 2019 unter dem Titel „Individuelles Lernen in der Gemeinschaft – Inklusive ganztägige Bildungseinrichtung“

(Anmerkungen: Erstveröffentlichung im März 2020, alle Internetlinks wurden am 18. September 2022 auf Richtigkeit überprüft. Die Graphiken zu den Kinderrechten wurden von Elisabeth Stroetmann zur Verfügung gestellt. Das Foto mit den Händen stammt aus einem Kooperationsprojekt der Gottfried-Kinkel-Schule mit Kindern in Kenia, Fotografin war Caroline Herzog.)