Lebensfilme

Ein Gespräch mit der Regisseurin Sharon Ryba-Kahn

„Ich würde mir wünschen, dass mehr Menschen in Deutschland verstehen wollen. Ich vermisse bei nichtjüdischen Deutschen oft die Bereitschaft, selbst Familienforschung zu betreiben und genauer wissen zu wollen, wer ihre Großväter waren. Die Beschäftigung mit der NS-Zeit darf nicht aufhören, wir brauchen den Austausch darüber.“ (Sharon Ryba-Kahn, in: Jüdische Allgemeine 5. November 2020),

Sharon Ryba-Kahn © Sharon Ryba-Kahn

Sharon Ryba-Kahn wurde am 7. Mai 1983 in München geboren. Sie hat die israelische und die französische Staatsangehörigkeit. Ihr Vater Moritz Ryba, der 1947 in München geboren wurde, lebt seit 2016 in Tel Aviv, ihre 1959 in Paris geborene Mutter Anna-Patricia Kahn wieder in München, Sharon wohnt im Berliner Stadtteil Prenzlauer Berg. 1997 zog ihre Mutter als Nahost-Korrespondentin mit ihr nach Israel, das Sharon dann 2001 verließ, weil sie nicht zur israelischen Armee einberufen werden wollte. Die Familie Ryba kommt aus dem polnischen Będzin, einem kleinen Städtchen in der Nähe von Katowice. Ihr Großvater Chaim Ryba überlebte das Konzentrations- und Vernichtungslager Auschwitz, er war der einzige Überlebende der Familie.

In dem Portrait, das die Jüdische Allgemeine in ihrer Ausgabe vom 5. November 2020 Sharon Ryba-Kahn gewidmet hat, bezeichnet Sharon sich als „Weltbürgerin“, die viel unterwegs ist, in Israel, in Paris und New York City gelebt und gearbeitet hat: „Ein spezifisches Zuhause habe ich nicht.“ Sharon hat zwei Dokumentarfilme abgedreht und veröffentlicht, 2015 den Film „Recognition“, 2020 den Film „Displaced“. Am 9. November 2020 sollte in Berlin die Kinopremiere von „Displaced“ stattfinden. Der sogenannte „Lockdown light“ verhinderte es. Sharon arbeitet zurzeit am Schnitt ihres dritten Films mit dem Titel „Liebe bis 120“. Außerdem promoviert sie an der Filmuniversität Konrad Wolf in Babelsberg zum Thema „Visualisierung von Traumata in Dokumentarfilmen“.

Kennengelernt habe ich Sharon im Jahr 2014, wir hatten seit dieser Zeit viele intensive und sehr bereichernde Gespräche. Zum 17. November 2020 hatten wir uns per Zoom zu einem weiteren ausführlichen Gespräch verabredet, das wir hier dokumentieren und das vielleicht auch Inhalte und Atmosphäre vorangegangener Gespräche spiegelt.

Norbert Reichel: Als ich deinen Film „Displaced“ vor wenigen Tagen zum zweiten Mal angeschaut habe, fiel mir etwas auf, das mir beim ersten Mal nicht aufgefallen war. Es ist der Ortsname Będzin. Du suchst dort nach den Vorfahren der Familie Ryba. Dein Großvater kam von Auschwitz nach München, weil niemand in der ursprünglichen Heimat überlebt hatte. Będzin liegt nicht weit entfernt von Katowice / Kattowitz. Dies ist eine Stadt und eine Region, die auch in meiner Vergangenheit eine Rolle spielt.

Es gibt eine Verbindung der Leben unserer Großväter. Mein Großvater wurde nach dem Überfall der Nazis auf Polen von seiner bisherigen Dienststelle im damaligen deutschen Oberschlesien zum Bahnhof Kattowitz-Idaweiche, polnisch Ligota, versetzt, das zu Polen gehörte. Er war somit Teil der deutschen Besatzungsmacht im sogenannten „Generalgouvernement“. An diesem Bahnhof wurden nicht nur Güterzüge mit Kohle und Stahl abgefertigt. Dass mein Großvater in Kattowitz war, wusste ich schon lange, aber warum, das ist mir erst im letzten Jahr klargeworden. Ich verdanke diese Einsicht Dr. Magdalena Gebala vom Deutschen Kulturforum Osteuropa in Potsdam, der ich auch viele weitere Hinweise und Einsichten verdanke, die dann in meinen Essay „Das Trauma der anderen“ einflossen.

Ob es eine persönliche Verbindung welcher Art auch immer zwischen unseren Großvätern gab, vielleicht eine bewusste oder unbewusste persönliche Begegnung, werden wir nie erfahren. Für mich ist die historische Verbindung in dieser Region ein Zeichen für unser gemeinsames Erbe, ein Erbe das verbindet und trennt, in all seinem Schrecken.

Sharon Ryba-Kahn: Es ist gut, dass wir unser Gespräch so beginnen. Dies ist entscheidend. „Displaced“ ist ein Film, von dem ich bereits zu Beginn wusste, dass viele in Deutschland – damit meine ich nicht all die Menschen, die ihn unterstützt haben – es lieber gehabt hätten, wenn ich nur die Geschichte mit meinem Vater gezeigt hätte und nicht die Bezüge zu Deutschland. In deutschen Filmen sind Jüdinnen*Juden immer die Opfer. Ich wurde auch schon oft gefragt, wie ich mich als Opfer fühle.

Bei unserem Gespräch ist es wichtig, dass du als mein Gesprächspartner drei Hüte trägst. Der erste Hut ist die Bereitschaft zu einem Dialog auf sehr offenem Niveau. Deshalb ist für mich dein Hinweis auf deinen Großvater so wichtig. Der zweite Hut ist der Blick auf die Mehrheitsgesellschaft, der dritte ist der Hut, der zwischen mir und dir den Dialog ermöglicht. Alle drei Ebenen sind miteinander verwoben. Wir müssen sie gleichzeitig auseinanderhalten. Ich sehe dich als jemanden, mit dem das möglich ist.

Norbert Reichel: Für dieses Vertrauen und deine Offenheit, die ich in unseren Gesprächen immer wieder erlebe, darf ich dir ebenso danken wie für deine Bereitschaft, dich meinem Teil der Geschichte zu nähern. Aber könntest du vielleicht den zweiten Hut noch etwas näher beschreiben?

Sharon Ryba-Kahn: Der zweite Hut, das ist die Mehrheitsgesellschaft, die macht, dass ich in Deutschland eine Jüdin bin und nicht nur einfach Sharon, die macht, dass sich Menschen mit ihrer eigenen Unwissenheit und mit ihrer eigenen psychologischen Spaltung, ihrem unverantwortlichen Umgang mit ihrer Vergangenheit von den Themen Schoah und Antisemitismus distanzieren und diese ausschließlich zu meinem Thema machen und nicht zu ihrem.

Norbert Reichel: Das ist eine der gängigen Abwehrstrategien bei Antisemitismus und Rassismus. Immer wieder heißt es, dass antisemitisch oder rassistisch Angegriffene doch selbst schuld wären, weil sie zu empfindlich wären.

Displaced – Szenenfoto: Am Grab des Großvaters © www.tondowskifilms.de

Sharon Ryba-Kahn: Diese Sicht wird oft von Filmen bedient, die immer nur die eine Geschichte erzählen, als ob es da keinen Zusammenhang gäbe. Diesen Zusammenhang belegt schon die Entstehung von „Displaced“: Die Geschichte mit meinem Vater hatte einen emotionalen Ausgangspunkt. Wir hatten sieben Jahre lang keinen Kontakt. Das war ein Faktor, warum ich diesen Film gemacht habe. Der andere Faktor: Würde ich heute nicht mehr in Deutschland leben, wäre es nicht zu „Displaced“ gekommen. Weil mich die Auseinandersetzung mit Deutschland dazu bringt, dass ich eine klare Beziehung zu Deutschland haben muss und dass ich auch – vom Kompetenzzentrum weiß ich inzwischen, welche Zusammenhänge es da gibt – Gewalterfahrungen als Jüdin erlebe, immer wieder, die mich dazu zwingen, mich als Jüdin zu identifizieren.

Kurz gesagt: die Entnazifizierung hat in gewisser Weise in Deutschland nicht funktioniert. Es ist sehr schwer, den Antisemitismus zu fassen und zu erklären. Einer der Orte, an dem ich das schon in meiner Kindheit merkte, in der ich gefühlt habe, wie es war, nicht blond zu sein. Heute ist dieses Thema abgeschlossen, weil sich Deutschland zu einer Migrationsgesellschaft verwandelt hat. Das ist nicht überall so, zum Beispiel bin ich jetzt eingeladen, in einer Schule über jüdische Religion zu sprechen, von der mir gesagt wurde, dass es dort keine Kinder mit Migrationshintergrund gebe. Dort wird der Erfahrungshintergrund ein anderer sein, ganz anders, als ich das jetzt in Köln erlebt habe, wo 90 bis 95 Prozent der Kinder Migrationshintergrund hatten, einige davon gleich mehrere, geradezu hybrid. Das hat sich in Deutschland verändert.

Der Antisemitismus in Deutschland ist schwer greifbar, er ist komplex, es ist ein Kuddelmuddel mit vielen Begriffen, eine Überforderung. Das verstehen die wenigsten, du kannst aber nicht allen ständig erklären, was Antisemitismus ist. Du weißt das besser als jeder andere, manche können etwas Antisemitisches sagen ohne es zu merken, aus Ignoranz, sie verstehen es einfach nicht…

Norbert Reichel: … oder wollen es nicht verstehen …

Sharon Ryba-Kahn: Das hat auch etwas mit Bildung zu tun. Wirfst du jemandem vor, etwas Antisemitisches gesagt zu haben, ist das schon ein sehr heftiger Vorwurf. Wenn man wirklich anfängt, der Komplexität nachzugehen, wird es schwer. Ich nenne als Beispiel die linke Position, darüber zu sprechen, ob jemand Jude oder Israeli ist, ob das identisch ist oder nicht. Das schon allein zeigt, wie schwierig die Auseinandersetzung mit dem Antisemitismus ist.

Nichtsdestotrotz ist der Antisemitismus nicht mein Problem, sondern unser Problem. Und ich bleibe dabei. Ich ziehe mir diesen Schuh auch nicht mehr an, sondern ich sage zu jeder*jedem, mit der*dem ich spreche: das ist auch dein Problem, und wenn du das nicht checkst, hast du es nicht verstanden. Und das ist auch das Problem, von dem „Displaced“ spricht. Die Schoah ist mein Problem, weil sie meine Familie traumatisierte, wie wir das auch in „Displaced“ sehen. Man sieht es ja auch in „Recognition“, als Moran, die Religiöse, über den Brief des Familienteils spricht, der Auschwitz überlebt hatte und ihre Familie in Israel um Hilfe bittet, weil er sonst niemanden mehr hat. Da geht es um Israel, hier sprechen wir aber über Deutschland, und dennoch ist auch da Kontinuität drin. Und deshalb sage ich das so deutlich: die Schoah, der Umgang mit dem Erbe der Schoah, der Antisemitismus, das ist mein und dein, das ist unser aller Problem.

Norbert Reichel: Du hast eben gesagt, dass eine Motivation deines Filmes die Geschichte mit deinem Vater ist …

Sharon Ryba-Kahn: … und Deutschland…

Norbert Reichel: …und Deutschland. Du hast mir einmal gesagt – und es ist auch Thema in deinem Portrait in der Jüdischen Allgemeinen – dass du mit der deutschen Sprache Probleme hast. Es ist ein Thema, das du nicht alleine benennst, ein Thema, über das viele Jüdinnen*Juden sprechen. Du sagtest mir, dass du deine Texte auf Englisch schreibst und nicht auf Deutsch. Du sprichst Deutsch, Englisch, Französisch, Hebräisch und Spanisch, diese fünf Sprachen – ich habe sie jetzt alphabetisch aufgezählt.

Sharon Ryba Kahn lacht.

Norbert Reichel: Ja, ist doch immer die einfachste Methode. Und Englisch und Spanisch hast du studiert.

Sharon Ryba Kahn: Ja, an der Humboldt-Universität in Berlin.

Norbert Reichel: Und du hast in New York studiert.

Sharon Ryba Kahn: In New York habe ich nur Schauspiel und Filmproduktion studiert, das war ein nicht-akademisches Studium.

Norbert Reichel: Darf ich fragen, wo du in New York City gewohnt hast?

Sharon Ryba Kahn: Das darfst du, erst im East Village, dann in Brooklyn, in Bushwick.

Norbert Reichel: Dein Vater sagt an einer Stelle in „Displaced“, in der dritten Generation wäre das Leben mit der Vergangenheit der Schoah „eigentlich relativ normal“. Du antwortest auf Englisch: „the connection point in all of it is Germany“. Das Gespräch mit deinem Vater dreht sich ja immer wieder um diese Frage, gibt es ein ‚normales‘ Leben nach der Schoah? Du möchtest mit deinem Vater sprechen, er hat aber keine Zeit, weil er gerade Bridge spielt oder mit seinem Bridge-Partner unterwegs ist. Du bist aber so hartnäckig, dass er sich dann auf das Gespräch mit dir einlässt.

Sharon Ryba-Kahn: Ja, ich bin unmöglich.

Norbert Reichel: Du bist nicht unmöglich, du bist hartnäckig, das müssen Dokumentarfilmer*innen so machen, und Leute, die Leute interviewen, müssen das auch. Immer wieder nachfragen.

Sharon Ryba-Kahn: Weißt du, mein Vater ist ja der Experte dafür, bestimmte emotionale Prozesse nicht zuzulassen.

Norbert Reichel: Er ist sehr reflektiert, auch wenn es immer etwas dauert, bis du ihn motivieren kannst offen zu reden. Oder vielleicht dauert es auch gerade deshalb etwas länger, weil er viel reflektiert?

Sharon Ryba-Kahn: Ich frage mich, wie kann er emotional das so hinbekommen? Du kannst auf der einen Seite einen intellektuellen Prozess haben, der reflektiert ist, auf der anderen Seite kannst du wunderbar abschalten, und das konnte er, weil es seine Überlebensstrategie ist. Das ist eine superspannende psychologische Frage, aber auch eine Genderfrage. Ich habe mit vielen Frauen darüber gesprochen, und viele Frauen haben mir gesagt, letztlich sind es die Mütter, die die Kinder erziehen, das ist sehr selten, dass sich ein Vater emotional einlässt. Das ist zumindest meine Erfahrung.

Norbert Reichel: Vielleicht sprechen wir über deine Gespräche im Mittelteil von „Displaced“ mit deinen Freund*innen. Dort fand ich vieles wieder, was in dem Buch von Samuel Salzborn, Kollektive Unschuld (Leipzig, Hentrich & Hentrich, 2020) zu finden ist.

Ich lese dir einfach mal vor, was ich in dem Text, den ich über deine Filme schreiben wollte, geschrieben habe, alles natürlich nur Entwurf. Als Arbeitstitel dieser Passage habe ich „Sprechen und Ausweichen“ vorgesehen. Hier der Textentwurf:

„Sharon leitet ihre Gespräche mit den besagten Freund*innen und Bekannten mit für diese provokativ wirkenden Fragen ein. Sie fragt, wann sich eine Freundin jemals gefragt hätte, ob eine Äußerung antisemitisch sei, was aus nicht-jüdischer beziehungsweise deutscher Perspektive „nicht funktioniert“ habe, nach den Gefühlen nach der Thematisierung des II. Weltkriegs in der Schule. Die befragten Freund*innen weichen aus. Eine Freundin sagt zu Sharon, sie nähme sie „nicht als Jüdin wahr“. Ein Paar gibt Erklärungen, warum die Schoah so wenig präsent wäre, indem es auf die Schwarz-Weiß-Fotos im Geschichtsbuch verweist und letztlich die Ächtung von Antisemitismus in Deutschland zu einer Art „Benimmregel“ erklärt. Das wäre „wie so ‚ne Benimmregel, die unausgesprochen aufgestellt wurde.“ Es wurde „den Deutschen beigebracht, äußert euch nicht mehr antisemitisch“. Die Frau ist Österreicherin und verweist darauf, dass sie immer den Eindruck gehabt habe, dass Deutschland die Schoah besser aufgearbeitet hätte als Österreich, dann in Berlin jedoch überrascht gewesen wäre.“

Sharon Ryba-Kahn: Und sie ist jüdisch.

Norbert Reichel: Ach, das habe ich nicht gemerkt.

Sharon Ryba-Kahn: Wir sprechen zu Beginn darüber. Sie sagt, wir haben darüber gesprochen, wer deine Großeltern sind, und du darüber wer deine sind.

Norbert Reichel: Darüber haben wir beide auch gesprochen, und ich bin nicht Jude. Es ergab sich für mich nicht aus dem Zusammenhang. Das ist aber eine wichtige Information, denn sie relativiert, was ich eben gesagt habe. Danach kommt eine interessante Variante des „Othering“, als sie sagt, dass es in Ostdeutschland schlimmer ist als in Westdeutschland. Das sagen viele „Westdeutsche“ sehr gerne, auch eine Art kollektiver Schuldverschiebung.

Sharon Ryba-Kahn: Aber er kommt aus Ostdeutschland.

Norbert Reichel: Das war das zweite Gespräch. Im dritten Gespräch geht es um die Frage, welche Gefühle das Thema „Zweiter Weltkrieg“ in der Schule ausgelöst hätte. Die Antwort lautet „Scham“, die Eltern und Großeltern werden von jeder Schuld freigesprochen. Der Großvater hätte nicht zur SS gewollt, obwohl diese ihn wegen seines Aussehens hätte rekrutieren wollen. Er wäre dann zu einem Himmelfahrtskommando auf dem Balkan geschickt worden. Außerdem hätten die Großeltern „Leute versteckt“. Aber das erzählen sie ja alle. Entschuldige, wenn ich das so pauschal sage.

Sharon Ryba-Kahn: Aber es stimmt.

Norbert Reichel: Gesprochen hätte die Großmutter nur über Nebensächlichkeiten, zum Beispiel, dass sie im BDM mit dem Fahrrad unterwegs sein konnte. Aber in dem Kontext der Identität deiner Gesprächspartner*innen muss ich das zweite Gespräch anders sehen.

Sharon Ryba-Kahn: Das ist interessant, dass das für dich nicht so rübergekommen ist. Das zweite Gespräch ist für mich eine Identifikation. Ich identifiziere mich ja auch mit Romina. Und sie redet auch darüber, dass sie das Privileg nicht hat, die Schoah vergessen zu können. Du solltest dir die Szene noch mal anschauen.

Norbert Reichel: Ich schaue mir den ganzen Film noch mal an.

Sharon Ryba-Kahn: Der Film ist ja auch sehr dicht.

Norbert Reichel: Ich bin ohnehin der Meinung, dass wir uns Filme mehrfach anschauen sollten. Ein Film hat ja gegenüber einem Buch den Nachteil, dass wir nicht so einfach hin- und her blättern können.

Sharon Ryba-Kahn: Soll man auch nicht.

Norbert Reichel: Warum nicht?

Sharon Ryba-Kahn: Weil man einen Film aus der Perspektive als Gesamtwerk sehen sollte. Wenn du nachher eine einzelne Szene noch mal sehen möchtest, ist das eine andere Sache. Aber das Davor und das Danach ist so essenziell. Es gibt ja einen Grund, warum die Zeitlichkeit im Schauen so wichtig ist.

Displaced – Szenenfoto: Sharon raucht © www.tondowskifilms.de

Norbert Reichel: Zeitlichkeit in deinen Filmen ist wichtig. Mir ist aufgefallen, dass sehr viele Übergänge zwischen den Szenen sehr langsam inszeniert sind, Szenen, in denen nicht gesprochen wird: Treppen, Landschaften, Fahrten in einer S-Bahn, das Meer. Das sind zeitlich Eins-zu-Eins-Situationen. Das hast du auch in „Recognition“ so gemacht. Da wird auch dauernd gekocht. Oder es wird geraucht. Diese Übergänge sind wichtig für die Betrachter*innen. Für das Innehalten, mit dem unausgesprochenen Appell: lass das doch einmal wirken, und das wird sehr dezent gemacht. Dazu kann ich dir nur gratulieren, wie du das gemacht hast.

Sharon Ryba-Kahn: Danke.

Norbert Reichel: Ich bin kein Spezialist für Dokumentarfilme, aber ich traue mich zu sagen, deine Filme haben eine sehr hohe Qualität.

Sharon Ryba-Kahn: Was wichtig ist, ist das, was du darin siehst, was du darin liest. Ich kann dir als Filmemacherin nur sagen, dass die Übergänge eine Funktion haben, was sie für mich als Regisseurin bedeuten, auch was der Ton dazu beiträgt. Ich wünsche mir sehr, dass du „Displaced“ auch einmal im Kino siehst, damit du siehst, wie wirkmächtig der Film im Kino ist. Ich sage dir, das Kino ist ein heiliger Ort!

Norbert Reichel: Ich hoffe, dass der Tag kommt. Der Tag wird kommen. Diese Pandemie wird nicht ewig dauern.

Sharon Ryba-Kahn (etwas resigniert): Irgendwann.

Norbert Reichel: Aber lass uns noch einmal über das mittlere Paar sprechen, ich frage mich, warum ich zu meiner falschen Einschätzung kam. Sie sind in deinem Alter, wie du dritte Generation, aber die Tiefe, die du zeigst, zeigen sie beide nicht. Liegt das daran, dass sie nur eine kurze Zeit erscheinen? Vielleicht fünf Minuten? Du hast sicher noch sehr viel mehr Filmmaterial dazu.

Sharon Ryba-Kahn: Ich halte dir mal einen Spiegel vor. Ich glaube, das liegt an deiner Rezeption. Die Szene war für andere die wirkmächtigste Szene im Film.

Norbert Reichel: Das will ich nicht ausschließen. Im Gegenteil, das wird so sein.

Sharon Ryba-Kahn: Das hat was mit Sehverhalten zu tun. Ich glaube, das ist von der Dramaturgie her eine erstaunliche Szene, denn man geht davon aus, dass es noch mal so eine Szene gibt. Aber das kommt nicht.

Norbert Reichel: Aber ist meine Einschätzung des ersten und dritten Gesprächs richtig oder ist die auch falsch?

Sharon Ryba-Kahn: Zum ersten Gespräch habe ich noch etwas Interessantes zu sagen. Im Hinblick auf die Hüte, über die wir sprachen. Das, was du hörst und siehst, was das Jüdische betrifft, da gibt es viele andere in der Mehrheitsgesellschaft, die würden sagen, was ist hier überhaupt das Problem? Ich sehe dich als Mensch und nicht als Jüdin*Jude. Sie spricht mir meine Identität ab. Und sie kann mir nur den Raum lassen, den sie kennt, denn nur damit kann sie etwas anfangen.

Norbert Reichel: Und da sie dich nicht als Jüdin sieht, gibt es für sie auch keinen Antisemitismus.

Sharon Ryba-Kahn: Aber parallel dazu, ich muss den Mut anerkennen, dass diese Menschen sich mir für „Displaced“ gestellt haben. Die meisten würden das gar nicht tun. Wer mich ein wenig kennt, weiß, dass ich nicht einfach bin. Ich möchte anerkennen, dass sie diesen Mut hatten und mir ihr Vertrauen geschenkt haben. Es war klar, dass es aus der jüdischen Perspektive eine Auseinandersetzung geben würde. Nichtsdestotrotz zeigt es – und das sieht man an den drei Gesprächen – das ist der Ist-Zustand.

Norbert Reichel: Zu Beginn unseres Gesprächs hast du gesagt, dass du die Geschichte mit meinem Großvater gerne zu Anfang unserer Dokumentation lesen wolltest. Es war ja auch der Anfang unseres Gesprächs. Wir haben in der Dokumentation dieses Gesprächs nichts redaktionell umgestellt. Ich möchte mit dir darüber sprechen, wie das auf dich gewirkt hat, als ich dir das erzählt habe. Dazu gebe ich dir noch einige weitere Informationen, wenn ich darf.

Sharon Ryba-Kahn: Du darfst.

Norbert Reichel: In dem Essay, in dem ich über meinen Großvater geschrieben habe, habe ich auch über Fehleinschätzungen meines Vaters geschrieben. Ich erzähle dir eine merkwürdige Geschichte. Mein Vater war ein sehr religiöser Mensch, katholisch, der auch im Alter, so lange er konnte, gerne mehrfach an einem Sonntag einen (katholischen) Gottesdienst besuchte. Er erzählte mir, dass er als Junge – und das muss auf dem Gymnasium, also nach 1934 gewesen sein – am jüdischen Religionsunterricht teilgenommen habe, weil ihn das mehr interessiert habe als die nachmittägliche Veranstaltung der „Leibesübungen“, wie der Sportunterricht damals und noch bis in die 1970er Jahre hieß. Ob die Geschichte mit dem jüdischen Religionsunterricht so stimmt, weiß ich natürlich nicht. Sie erscheint mir jedoch nicht unwahrscheinlich.

Mein Vater erzählte gelegentlich von seinen vier jüdischen Mitschülern, deren Namen er jedes Mal, wenn er davon sprach, aufzählte. Allen vieren gelang 1938 nach dem Novemberpogrom die Flucht, alle vier überlebten. Mein Vater erzählte, dass es in Oberschlesien wegen des konservativen Katholizismus kaum Antisemitismus gegeben habe. Ich weiß inzwischen, dass das nicht stimmt. Meine Schwester und ich haben 2013 im Nachlass einen Brief von einem der Mitschüler gefunden. Der vierseitige Brief – er stammt aus dem Jahr 1993 – erzählt etwas anderes. Nehemia (vormals Hans) Markowitz schreibt, er wolle der Einladung zum Abiturjubiläum nicht folgen. Er beginnt seinen Brief nach dem Hinweis, dass er (1943) in Deutschland „nicht abiturierte“ und fährt fort: „Der Hauptgrund jedoch ist, daß die in den Jahren nach 33 herrschende Atmosphäre es für jüdische Schüler unmöglich machte, ein Gefühl der Kameradschaft mit den arischen Schülern der gleichen Klasse aufkommen zu lassen.“ Er beschreibt im Detail die Ereignisse des 10. November 1938, seine Flucht, dass er seine Mutter am Bahnhof das letzte Mal gesehen habe, dass sie in Auschwitz ermordet wurde, und seinen weiteren Lebensweg. Den Brief habe ich in dem oben genannten Essay über das „Trauma der anderen“ zitiert und auch abgebildet.

Das kann mir ohnehin niemand erzählen, er*sie hätte nichts mitbekommen. Die Straßen waren doch voll von den Nazi-Fahnen, die Geschäfte waren beschmiert, auf den Bänken gab es die Hinweise, dass Jüdinnen*Juden dort nicht sitzen durften und und und. Meine Mutter hat mir einmal von einer Deportation erzählt, die sie erlebte. Sie war mit ihren Eltern in der Eifel. Es gab viele Menschen am Bahnhof, dann kam die Durchsage, alle, die keine Jüdinnen*Juden wären, möchten sich in den Wartesaal Erster Klasse begeben. Sie sagte, sie hätten sich geschämt, dass sie die einzige Familie waren, die dort hindurften. Das, was dort geschah, war eine Deportation. Die Leute haben alles mitbekommen, was geschah.

Das habe ich so im Zusammenhang noch nie erzählt.

(Längeres Schweigen)

Sharon Ryba-Kahn: Ich werde dir auch etwas sagen, was ich so noch nie gesagt habe. Es gibt einen Anteil in mir, in meinem Inneren, der einen ganz bestimmten Anteil auch von dem Grausamen nicht hören möchte. Das ist so, dass ich dann, wenn ich noch etwas Grausames sehe oder höre, nicht mehr an die Menschheit glauben kann. Das ist wie ein Selbstschutz. Ich kann mir auch keine Kriegsfilme anschauen.

Norbert Reichel: Darüber haben wir schon einmal gesprochen, dass du dir keine Filme von den Coen Brothers oder von Tarantino anschauen kannst.

Sharon Ryba-Kahn: Genau so. Ich kann mir die Gewaltgeschichten nicht geben, weil das so eine Wucht in mir auslöst. Wenn ich das sehe und höre, dann fühle ich sehr viele verschiedene Sachen. Ich fühle mich sehr traurig. Das ist eine ganz tiefe Trauer, die hochkommt. Ich habe dann immer ein Bild von Menschen, die weggucken.

Norbert Reichel: Bist du mit deinen Produkten zufrieden, mit „Recognition“ und mit „Displaced“?

Sharon Ryba-Kahn: Ja, bin ich. Ich bin mit beiden Filmen zufrieden.

Filmplakat Recognition @ Sharon Ryba-Kahn

Norbert Reichel: „Recognition“ erklärt Vieles, was in Israel und in den Palästinensischen Autonomiegebieten geschieht. Ich fand die Szene sehr berührend, als du deiner Freundin das palästinensische Fähnchen gibst und sagst: „You are independent… I have given you independence“. Wäre schön, wenn das so einfach wäre. Es kommt in dem Film auch das Gefühl vor, das du hast, weil du nicht zum Militär gegangen bist. Du sagst an einer Stelle: „I felt guilty all along.“ Du hast auch einmal meiner Vermutung zugestimmt, dass du, die du Israel für zwölf Jahre verlassen hast, um nicht zum Militär zu gehen, und Noga, die Kampfpilotin werden möchte, irgendwie zwei Seiten einer Medaille seid.

Sharon Ryba-Kahn: Noga hat gemacht, was ich mir nie hätte verzeihen können, aber ich wollte nachspüren, was es bedeutet, es zu tun. Wie sieht so eine Achtzehnjährige aus, die zu einer Kampfeinheit möchte?

Norbert Reichel: Vor allem eine Brillenträgerin, die Pilotin werden möchte. Ein unerfüllbares Unterfangen. Aber die Art, wie sie das verfolgt hat, hat mich sehr beeindruckt.

Sharon Ryba-Kahn: Sie ist eine ganz süße Person. Aber die sind alle toll, alle drei.

Norbert Reichel: Was macht Noga jetzt?

Sharon Ryba-Kahn: Das weiß ich nicht. Wir haben Jahre nicht mehr miteinander gesprochen.

Norbert Reichel: Aber das mit dem Militär hat Noga ja geschafft, nur anders, als sie es sich vorgestellt hatte. In Israel ist es ja auch eine andere Sache, zum Militär zu gehen als in Deutschland, wo es keine Bedrohung gibt. Du hast in „Recognition“ auch Sderot gezeigt, ich weiß nicht, wie viele Raketen im Monat auf Sderot abgeschossen werden.

Sharon Ryba-Kahn: Das hängt von den Monaten ab. Manchmal keine.

Norbert Reichel: Und dann manchmal Hunderte.

Sharon Ryba-Kahn: Am Tag.

Norbert Reichel: In einer solchen Situation zu leben, ist schon bedrohlich. Das sieht man*frau auch an den Gebäuden, die du filmst und die in Sderot anders aussehen als an Orten, in denen es diese Bedrohung nicht gibt. Aber du hast dich entschieden, nicht zum Militär zu gehen. War das ein längerer Prozess, dich so zu entscheiden?

Sharon Ryba-Kahn: Nein. Nein, das war kein längerer Prozess. Ich hätte das nicht gemacht. Es war ganz klar, dass ich das nicht machen wollte.

Norbert Reichel: Warum war das so klar?

Sharon Ryba-Kahn: Ich war in dem französischen Lycée. Da waren 70 Prozent Palästinenser*innen. Das war eine andere Realität. Die meisten Israelis bekommen diese Realität gar nicht mit. Sie erfahren die politische Realität nur wenn es Bomben gibt. Oder Raketen, im Süden ist das eine andere Geschichte. In Tel Aviv – ganz ohne geht es nicht, aber als Kind? In Jerusalem ist das anders: Da gibt es Religiöse, Ultrareligiöse, Ost- und Westjerusalem. Ich war nun in einer Schule, in der 70 Prozent der Schüler*innen Palästinenser*innen waren, nicht nur aus Israel, sondern auch aus den Autonomiegebieten, aus Bethlehem, Ramallah, Nablus, wo sie alle herkamen und nach Jerusalem hineingefahren waren.

Norbert Reichel: Die Schule war in West-Jerusalem?

Sharon Ryba-Kahn: Ja, und meine Lehrer*innen waren zum größten Teil ultrareligiös.

Norbert Reichel: Das sind ja eine Menge Widersprüche?

Sharon Ryba-Kahn: Das ist es ja gerade in diesem Konflikt. Es wäre schön, wenn wir alle kategorisieren könnten. Ja und nein, es ist alles komplizierter.

Norbert Reichel: Von Israel bist du als Achtzehnjährige nach Paris gegangen. Was hat du dort gemacht? Du musstest dich ja erst einmal zurechtfinden.

Sharon Ryba-Kahn: Ich habe versucht, Schauspiel und Arabisch zu studieren, und mit beidem bin ich gescheitert.

Norbert Reichel: Und jetzt bist du Regisseurin. Liebe Sharon, wir werden das Gespräch fortsetzen. Vielleicht mit der Präsentation deines neuen Films „Liebe bis 120“ und den Ergebnissen deiner Doktorarbeit? Aber vielleicht auch früher?

(Anmerkungen: Erstveröffentlichung im Dezember 2020, Internetlinks wurden am 15. September 2022 auf Richtigkeit überprüft.)