Nie wieder Marmelade

oder von der Re-Maskulinisierung des Alltags

‚Ich will dich gerne anstellen‘, sagt die weiße Schachkönigin in ‚Alice hinter den Spiegeln‘ zu ihr, ‚für zwei Pfennig die Woche und jeden zweiten Tag Marmelade‘. Sie habe heute keine Lust auf Marmelade, sagt Alice. ‚Auch wenn du Lust hättest, bekämst du keine‘, sagt die Königin: ‚Die Regel ist, morgen Marmelade und gestern Marmelade, aber niemals heute Marmelade.‘ Es ist ein Sprachspiel, aber auch das wahre Zeitregime einer Krise, in der wir fragen, wann wir die Normalität wieder bekommen, und uns gesagt wird: Normalität war vor der Krise und wird nach der Krise sein, aber heute gibt es niemals Normalität. So sei die ‚neue Normalität‘. ‚Das verstehe ich nicht‘, sagt Alice, ‚es ist furchtbar verwirrend‘.“ (Marie Schmidt, Alice hinter den Masken, Süddeutsche Zeitung, 12. Mai 2020)

„Lockerungen“ ist ein Wort, das ebenso wie „Lockdown“ und „systemrelevant“ gute Chancen auf die Wahl zum Wort oder Unwort des Jahres haben dürfte. Doch was bedeuten diese Worte eigentlich? Alice würde vielleicht sagen „furchtbar verwirrend“. Aber manche Tendenzen zeichnen sich durchaus ab.

Bereits bestehende Ungleichheiten drohen sich zu verschärfen. Und es gibt mehr als deutliche Hinweise, dass viele Frauen angesichts der Doppelbelastung von Home und Office ihren Beruf aufgeben und wieder zu Hausfrauen werden, Kinder in Schule und KiTa nur noch Sitzpädagogik erleben, ältere Menschen aus der Öffentlichkeit verschwinden, zivilgesellschaftliche Organisationen, Kultureinrichtungen und Sportvereine Insolvenz anmelden müssen. Bereits jetzt sind gesellschaftliche Traumatisierungen absehbar, die uns nachhaltig belasten werden. Nie mehr Normalität?

Ich möchte keine Panik verbreiten und glaube auch nicht, dass jemand die Aufforderung „sanitize“ mit „satanize“ verwechseln könnte (das Wortspiel fand ich im Missy Magazine). Und damit keine Missverstände aufkommen: ich halte die meisten Maßnahmen der Bundesregierung und der Landesregierungen für richtig. Ich kritisiere jedoch die Ungleichgewichte und die Inkohärenz einiger Maßnahmen und vor allem die fehlenden langfristig ausgerichteten Perspektiven, die eben nicht nur ein Best-Case-Szenario, sondern auch ein Worst-Case-Szenario in Betracht ziehen müssten. Meines Erachtens ist dies jedoch eine Grundvoraussetzung, um denen, die es sich gerne einfach machen und krude Verschwörungstheorien verbreiten, Paroli bieten zu können.

Fußball oder KiTa?

In fast allen Kommentaren zur Debatte um die „Lockerungen“ wird die Fußballbundesliga genannt. Mit Recht. Damit meine ich jedoch nicht die Frage, ob die Fußballbundesliga ihren Betrieb wieder aufnehmen sollte. Die Ausübung des Berufs von Profisportler*innen in Stadien ohne Zuschauer*innen unterscheidet sich nicht unbedingt von den Arbeitsbedingungen mancher Produktionsstätten. Es gibt sicher einige Betriebe, in denen erheblich schlechtere Bedingungen herrschen als in einem leeren Fußballstadion, nicht nur Schlachthöfe. Ich meine die Frage, warum vom Tag 1 des Lockdowns an die Fußballbundesligaclubs in der Lage waren, ein Wiedereröffnungskonzept zu erarbeiten, das sie dann Politik und Öffentlichkeit präsentierten, die für Schule und Kindertageseinrichtungen zuständigen Ministerien jedoch nicht.

Ich vermag das Konzept der Fußballbundesligisten nicht im Einzelnen zu bewerten, kann aber bewerten, was es bedeutete, als Kultusministerien drei bis vier Tage vor der teilweisen Freigabe der Schulen Schulträger und Schulleitungen die gesamte Verantwortung für alle weiteren Maßnahmen übergaben. „Eigenverantwortliche Schule“ hatten sich die Schulen etwas anders vorgestellt. Jugendministerien agierten gegenüber Kindertageseinrichtungen nicht anders.

Um das Abitur stritten sich die Kultusminister*innen, zum Teil in einem ihrem intellektuellen Anspruch nicht angemessenen Ton, und wischten den bedenkenswerten Vorschlag von Karin Prien, der Schulministerin aus Schleswig-Holstein, vom Tisch, ein Abitur auf der Grundlage der bisherigen Vorleistungen zu vergeben. Dies wäre den Schulen ebenso vermittelbar gewesen wie die Erkenntnis, dass das aktuelle Schuljahr wie ein Kurzschuljahr zu behandeln wäre, wie es das in den 1960er Jahren zur Zeit der Umstellung des Schuljahresbeginns von Ostern auf den Sommer gleich zweifach gab.

Auf Seiten der für die Kindertageseinrichtungen zuständigen Minister*innen sah es nicht anders aus. Es wurde als großer Erfolg verkauft, dass alle Kinder bis zur Sommerpause 2020 zwei Tage – nicht zwei Tage in der Woche, sondern zwei Tage in sechs Wochen – ihre Kindertageseinrichtung besuchen dürften und dass den Eltern erlaubt wurde, die Kinderbetreuung gemeinsam mit Nachbar*innen selbst zu organisieren. Der Besuch der KiTa ist dann so etwas Besonderes wie ein Zoobesuch, mit dem Unterschied, dass die Kinder sich im Zoo erheblich freier bewegen können. Der Rechtsanspruch auf Kindertagesbetreuung für Kinder über 3 Jahren wurde 1996 eingeführt, der Rechtsanspruch für Kinder unter 3 Jahren 2013. Die Beratungen über einen Rechtsanspruch für Grundschulkinder liegen vorerst einmal auf Eis.

Äußerst problematisch ist auch die Praxis, dass Lehrer*innen und Erzieher*innen, die sich zu den Risikogruppen zählen, Gelegenheit erhielten, nur noch im Homeoffice zu arbeiten. Beispielsweise konnten Lehrkräfte über 60 bei Weiterzahlung des ungekürzten Gehalts zu Hause bleiben. Diese fehlen in den Schulen, sodass es niemanden verwundert, dass viele Schulen und Kindertageseinrichtungen zum Teil auf über ein Drittel des vorhandenen Personals verzichten müssen.

Ist der Worst Case 2021 vermeidbar?

Als Worst-Case-Szenario ist denkbar, dass über das gesamte Schul- und Kindergartenjahr 2020/2021 nur Notbetrieb stattfindet. Einen Impfstoff wird es im Jahr 2020 noch nicht geben, Medikamente vielleicht. Wie sich die sogenannten „Lockerungen“ auswirken, ist offen. Es ist wahrscheinlich, dass zumindest regional erneute Lock-Downs erforderlich sind. Es ist denkbar und nach Ansicht der bekannten Virolog*innen nicht ausgeschlossen, dass es zwischen Herbst 2020 und Frühjahr 2021 eine weitere Welle von Infektionen geben könnte, die sogar heftiger als die aktuelle ausfiele.

Es wäre daher verantwortungsvoll, wenn die Politik neben dem wünschenswerten Best-Case-Szenario, einem zeitnahen und nachhaltigen Rückgang der Infektionen, auch ein Worst-Case-Szenario beschriebe, sich darauf einstellte und dies mit allen Betroffenen – das sind alle Bürger*innen – kommunizierte. Es muss ja nicht gleich eine Blut-Schweiß-und-Tränen-Rede sein, aber weitere Reden wie die der Bundeskanzlerin zu Beginn der Pandemie wären sicherlich ehrlicher und hilfreicher als der aktuelle Flickenteppich der 16 Bundesländer.

Wer ein Best-Case-Szenario erreichen will, muss – daran führt aus meiner Sicht kein Weg vorbei – die Veranstaltungstypen, die nachweisbar die bisher bekannten Hotspots der Infektion bewirkten, weiterhin verbieten. Diese Verbote müssen mindestens bis zu dem Tag gelten, an dem die meisten Bürger*innen geimpft sind. Dazu gehören ein weiteres Verbot von Massenveranstaltungen, zu denen auch Halloween, Sylvesterparties, Schützen- und Weinfeste sowie der Karneval 2021 gehören, das Verbot von Familienfesten, die Schließung von problematischen Betrieben wie beispielsweise der Schlachthöfe, die bekannterweise nicht erst durch die Corona-Pandemie unangenehm auffielen, der Verzicht auf kontaktfreudiges Strandleben im Urlaub und auf Hüttenparties im Skiurlaub des Winters 2020 / 2021.

Hilfreich wäre auch eine Lockerung des Datenschutzes auf europäischer Ebene, damit die sogenannte „Corona-App“ installiert und auch genutzt werden kann. Ebenso muss in Einrichtungen, in denen viele Menschen zusammenkommen, Schulen, Kindertageseinrichtungen, Jugendclubs, Pflegeheime, genauso wie die Teams der Fußballbundesliga flächendeckend und in kurzen regelmäßigen Abständen getestet werden. Dann ist es möglich, die positiv Getesteten zu isolieren und medizinisch zu betreuen, ohne den gesamten Betrieb einzustellen. Schließungen beträfen nur noch nach Tests festgestellte einzelne Hotspots. Wohlgemerkt: Schulen und Kindertageseinrichtungen sind „systemrelevant“, nicht Diskotheken und Partymeilen.

Und schließlich testen, testen, testen. Es ist nicht nachvollziehbar, dass die Teams der Fußballbundesliga regelmäßig getestet werden und die Menschen in den Schulen und den Kindertageseinrichtungen nicht. Oder liegt dies daran, dass die Fußballvereine die Tests selbst bezahlen? Honni soit …

Der Rückzug des Staates – viel Home wenig Office

Kinder brauchen verlässliche Schulen, verlässliche Kindertageseinrichtungen. Bereits jetzt ist absehbar, dass der Staat, der eigentlich die Schulpflicht und den bestehenden Rechtsanspruch auf Kinderbetreuung durchsetzen müsste, diese Aufgaben nicht mehr erfüllt und an die Mütter rückdelegiert. Die Rückdelegation der Organisation der Kindertagesbetreuung an die Eltern wirft den Ausbaustand der Kindestagesbetreuung um etwa 25 Jahre zurück.

Viele Frauen hatten bereits Mitte Mai 2020 nicht mehr die Kraft, Büroarbeit, Kinderbetreuung und Schulunterricht, euphemistisch „Homeschooling“ genannt, miteinander zu vereinbaren. Das lässt sich auch nicht mit einem ergänzenden Familiengeld kompensieren, wie es zurzeit manche fordern, das sich aber auch sehr schnell zu einem neuen „Betreuungsgeld“ entwickeln könnte, das den Wegfall verlässlicher Betreuung kompensiert. Einen Corona-bedingten Familienzuschlag möchte ich damit nicht in Abrede stellen, denn den brauchen Familien angesichts des Wegfalls von Mittagessen in Schule und KiTa sowie angesichts der deutlich steigenden Lebensmittelpreise.

Auch die Versorgung älterer und kranker Menschen wird sehr schnell bei den Frauen landen, die dann neben ihren Kindern die Großeltern versorgen müssen. Ursula Weidenfeld formulierte am 10. Mai 2020 im Tagesspiegel treffend, dass vom Homeoffice für die Frauen „mehr Home“, für die Männer „mehr Office“ bliebe. Sie riet allen Frauen, die dies noch nicht getan hätten, Eheverträge abzuschließen.

Jana Hensel prophezeite am 13. April 2020 in der ZEIT, dass Frauen in den Hintergrund gedrängt würden, die Männer hingegen Namen eines antiquierten Rollenbildes für sie entschieden, wie es weiterginge. Sie berichtete von einem Shitstorm, der sie ereilte, als sie auf Twitter gefragt habe, ob es auch Virologinnen gäbe. „‚Das Virus macht die Gesellschaft wieder viril, männlich‘, schrieb die Journalistin Heide Oestreich kürzlich in einer Kolumne. Ich würde ja eher sagen, das Virus zeigt unsere Gesellschaft wieder so viril, wie sie eigentlich ist. Nun jedoch offen, hemdsärmelig und breitbeinig, ohne schlechtes Gewissen und ohne verschämte Gesten. / Wie sagte Markus Söder kürzlich in einem Spiegel-Interview: ‚In der Krise wird oft nach dem Vater gefragt.‘ Obwohl, um einmal im Bild der Familie zu bleiben, von den 1,6 Millionen Alleinerziehenden in Deutschland 1,44 Millionen Frauen sind und ungefähr die Hälfte der Väter keinen Unterhalt zahlen. Und wie forderte die Werteunion, der sehr konservative Flügel der CDU, auf Twitter: ‚Diese schlimme Zeit macht jetzt hoffentlich auch dem Letzten klar, dass Professoren (sic!) für Medizin, Chemie und Biologie unendlich viel wichtiger sind als solche für ‚Gender Studies‘.“ 

Die Frauen zahlen die Zeche

Die Lage ist schon jetzt – nach etwa drei Monaten – dramatisch. Jutta Allmendinger am 12. Mai 2020 in ZEIT Online: „Ihre Zufriedenheit knickt massiv ein, die Zufriedenheit mit ihrer Erwerbsarbeit, mit ihrer Familiensituation, mit ihrem Leben. (…) Es geht um den Verlust der Würde von Frauen, von Respekt, von Rechten.“ Der Beleg: „Die in den vergangenen Wochen unabhängig voneinander erhobenen Daten des Wissenschaftszentrums Berlin für Sozialforschung (WZB), des Sozio-oekonomischen Panels und der Mannheimer Corona-Studie zeigen die Realität unter dem Brennglas: die Lebenssituation vieler Familien mit kleinen Kindern in Deutschland. Sie belegen eine Rollenverteilung zwischen Müttern und Vätern, die jener in der Generation unserer Eltern und Großeltern entspricht – und die wir nicht mehr für möglich gehalten hätten.“

Die Hans-Böckler-Stiftung veröffentlichte am 14. Mai 2020 ähnliche Ergebnisse: Wenn Eltern in Zeiten geschlossener Kitas und Schulen einspringen müssen, tragen Mütter die Hauptlast: Der Auswertung zufolge haben in Haushalten mit mindestens einem Kind unter 14 Jahren 27 Prozent der Frauen, aber nur 16 Prozent der Männer ihre Arbeitszeit reduziert, um die Kinderbetreuung zu gewährleisten – also ein Unterschied von 11 Prozentpunkten. Bei Haushalten mit geringerem oder mittlerem Einkommen fällt die Diskrepanz größer aus.“

Jutta Allmendinger schlägt „Gender Budgeting, ein geschlechtsgerechtes Haushalten“ vor. „Gender Budgeting“ ist ein von der australischen Ökonomieprofessorin Rhonda Sharp 1984 entwickeltes Verfahren der Haushaltsaufstellung und wurde auf der dritten und vierten Weltfrauenkonferenz (Nairobi 1985, Beijing 1995) international diskutiert. Im Deutschen Bundestag wird das Konzept bisher weitgehend nur von der Fraktion Bündnis 90 / Die Grünen vertreten.

Jutta Allmendinger fordert, dass sich nicht – wie bisher üblich – die Frauen den Männern in ihren Arbeitszeiten anpassen sollten, sondern die Männer den Frauen. Das wäre eine Arbeitsteilung zwischen Männern und Frauen, in der jede*r etwa 32 Stunden berufstätig wäre und in der übrigen Zeit sich um Haushalt und Kinder kümmern könnte. Bliebe hinzuzufügen, dass verlässliche Kindertagesbetreuung und verlässliche Ganztagsschulen eine unabdingbare Voraussetzung wären, damit der Plan umgesetzt werden kann.

Steuert die Politik nicht massiv gegen die Rückdelegation der Frauen in den heimischen Haushalt, in die Betreuung und Beschulung ihrer Kinder, in die Pflege von Groß- und Urgroßeltern, ist es angesichts der durch Corona anhaltenden Belastung wahrscheinlich, dass auch die Frauen, die dies noch nicht getan haben, spätestens im Herbst 2020 ihre Arbeitszeit reduzieren werden, möglicherweise ihren Beruf gänzlich aufgeben, sei es über unbezahlten Urlaub oder durch Kündigung.

Frauen werden vor allem aus Berufen verschwinden, die kein Homeoffice erlauben, denn Homeoffice ist nur bei Verwaltungstätigkeiten möglich. Es gibt jedoch eine Fülle von Berufen, die vor Ort ausgeübt werden müssen: Produktionsberufe, Verkäufer*innen, Lokführer*innen, Busfahrer*innen, Handwerker*innen fast jeder Art, Krankenschwestern und Pfleger*innen, Ärzt*innen, Feuerwehrleute, Polizist*innen und viele andere mehr, nicht zuletzt aber auch Lehrer*innen und Erzieher*innen.

Es ist denkbar, dass Frauen mit kleinen betreuungsbedürftigen Kindern oder Schulkindern nicht mehr zu Vorstellungsgesprächen eingeladen werden, weil ihre Fehlzeiten steigen könnten, denn es ist absehbar, dass jedes Kind, dessen Nase ein wenig läuft, in Zukunft an der Kindergarten- oder Schultür abgewiesen wird.

Und da ohnehin Arbeitsplätze abgebaut werden, verlieren vor allem Frauen ihre Arbeitsplätze. Bedroht sind in erster Linie die Branchen, in denen Frauen über 70 % der Beschäftigten stellen, beispielsweise Hotellerie, Gastronomie und Verkauf im Einzelhandel. Verstärken dürfte sich auch der ohnehin schon dramatische Mangel an Lehrer*innen und Erzieher*innen in Schulen und Kindertageseinrichtungen, da die dort tätigen Frauen oft auch Mütter sind. Neue Arbeitsplätze für Frauen wird es nicht geben.

Die Arbeitsplätze der Männer werden über die geplanten Konjunkturprogramme der EU, des Bundes und der Länder gesichert. Sie liegen vorwiegend bei Infrastruktur und Fertigung. Männer stellen dort etwa 90 % der Beschäftigten.

Fazit: Wir brauchen nicht erst einen Muslimbruder als Präsidenten, damit Frauen ihren Beruf aufgeben. C’est beaucoup plus simple, M. Houellebecq.

Die neue Pädagogik: Sitzpädagogik

Am 10. Mai 2020 beschrieb Mansur Seddiqzai, Lehrer im Ruhrgebiet, in Zeit Online anschaulich die Hindernisse, die er überwinden muss, wenn er den von der Politik geforderten Fernunterricht, die Sendeseite des Homeschooling, durchführen möchte, Titel „Erziehen per Mail geht nicht“. Eines der Probleme ist die schlechte digitale Infrastruktur, ein weiteres die doppelbödige Botschaft, dass zwar unterrichtet, aber nicht benotet werden darf, sodass Schüler*innen, die ihre Aufgaben nicht erledigen, keinerlei Konsequenzen befürchten müssen, aber dafür die Arbeitszeit der Lehrer*innen im Übermaß blockieren und schließlich allen anderen die Botschaft übermitteln, dass es eigentlich gleichgültig ist, ob sie mitmachen oder nicht.

Eine dritte Problemlage geht von engagierten Schulreformer*innen aus. Viele sehen in kleinen Lerngruppen und einem Wechsel von Präsenz- und Fernunterricht die Erfüllung ihrer bisherigen Konzepte eines individuell fördernden Bildungssystems, übersehen dabei allerdings, dass die Präsenzphasen nicht bei den Schüler*innen zu Hause stattfinden können, da dies die Familien und dort vor allem die Mütter belasten würde und viele Schüler*innen selbst dann, wenn sie ihr eigenes Notebook, ihren eigenen Drucker und alle Möglichkeiten für Video-Austausch hätten, zu Hause kaum die Ruhe hätten, sich auf ihre schulischen Aufgaben zu konzentrieren. Verordnete Präsenz für diese Kinder wäre dann stigmatisierend. Ob regelmäßiger Fernunterricht für jüngere Kinder überhaupt in Frage kommt, ist ohnehin eine offene Frage. Zumindest brauchen viele Schulen erheblich mehr Räume, auch Rückzugsräume und Personal, um einen durchgängigen ganztägigen Betrieb zu ermöglichen.

Die vierte und vielleicht schwerwiegendste Problemlage ist die psychische und soziale Verfassung der Kinder und ihrer Eltern: „Auch Lehrerinnen und Lehrer sind Eltern, oft geht es uns ähnlich. Den Kindern müssen wir eine Situation erklären, deren Folgen wir selbst nicht abschätzen können, und trotzdem Hoffnung ausstrahlen. Manche Eltern verzweifeln aber gerade, weil sie ihren Job verlieren oder von zu Hause arbeiten und nebenbei ihre Kinder betreuen. Und dann sind diejenigen, die sich normalerweise kümmern, nicht erreichbar.“ 

In dieser Situation könnten die zuständigen Minister*innen vielleicht darüber diskutieren, ob die kostbare Zeit in den Schulen und den Kindertageseinrichtungen nicht lieber für Gespräche genutzt werden sollte als für Prüfungen. Die Fixierung auf Prüfungen an Stelle von Pädagogik dürfte eher als zusätzliche Belastung erfahren werden, wie die Debatte um einen Corona-Bonus für Abiturient*innen des Jahres 2020 belegt.

Noch deutlicher wird Alexander Kekulé, der am 6. Mai 2020 in ZEIT-online unbeschadet der epidemologischen Gefahren die Kollateralschäden für die Psyche von Grundschul- und Kita-Kindern benannt hat: „Kinder in diesem Alter durch Mundschutz und Hygieneerziehung vor Infektionen zu schützen ist illusorisch und hätte das Potenzial, eine ganze Generation psychisch zu traumatisieren.“ 

Konkret: Kinder treffen ihre Freund*innen nicht mehr, können nur sporadisch in die Schule gehen, nur einzelne Tage in die KiTa. Sie treffen auf genervte Erzieher*innen, deren Hauptaufgabe eine Mischung von Hygieneerziehung und Reinigungskraft geworden ist, weil alles, was Kinder so anfassen, ständig desinfiziert werden muss. Manche Kinder werden durch Masken verschreckt. Mütter und Väter dürfen das Gebäude nicht mehr betreten. Vertrauliche Gespräche sind nicht mehr möglich, weil alle Türen offenstehen müssen (ich erinnere mich daran, dass vor wenigen Jahren alle Türen von außen Türknäufe statt Klinken bekommen sollten, damit niemand hineinkam, der ein School-Shooting veranstalten wollte).

Ständig müssen Lehrer*innen und Erzieher*innen darauf achten, dass Kinder sich voneinander fernhalten. Denkbar wäre, dass sich daraus mit dem von mir beschriebenen Worst-Case-Szenario eine KiTa und eine Schule entwickeln, in der alle wieder mehr oder weniger brav im Frontalunterricht vor Lehrer*innen und Erzieher*innen sitzen. Sitzpädagogik wird zur Hauptmethode, Sportunterricht, Klassenorchester, Schultheater, der Besuch von außerschulischen Einrichtungen, Exkursionen und Klassenfahrten finden nicht mehr statt. Sportlehrer*innen fahren in manchen Schulen jetzt schon als Fahrradkuriere die Arbeitsblätter aus, damit auch die Schüler*innen eines bekommen, die zu Hause über keinen Drucker verfügen.

Ältere Menschen verschwinden aus dem öffentlichen Leben

Das erste Land, das alte Menschen systematisch aus dem öffentlichen Leben ausschloss, war die Türkei. Diese Praxis wurde Anfang Mai 2020 aufgegeben, aber vergleichbares Vorgehen wurde und wird anderen Ortes immer wieder diskutiert: Ausgehverbot für alle Menschen über 60 oder 65 oder 70 – die Zahlen variieren. Der Grundgedanke, der hinter dem Ausschluss älterer Menschen steckt, ist einfach. Angenommen wird, dass ältere Menschen schwerer erkranken als jüngere. Daher wollen wir sie schützen, also setzen wir sie einfach dem für sie höheren Risiko nicht aus. Wir schützen sie, indem wir sie einsperren, pardon: in ihrem Heim schützen. Böse Zungen, sehr böse, könnten das „Schutzhaft“ nennen.

Es wurde schon viel darüber berichtet, dass sich der Gesundheitszustand älterer Menschen, die nicht mehr besucht werden, die ihre Angehörigen nur durch Plexiglasscheiben sehen dürfen wie Gefangene in Filmen ihre Anwält*innen, die in Pflegeheimen oder Krankenhäusern ihr Zimmer nicht mehr verlassen, an keinerlei dort bisher möglichem sozialen Leben teilnehmen dürfen, in kürzester Zeit rapide verschlechtert. Viele sterben einsam. Niemand wachte an ihrem Sterbebett.

Der Ausschluss älterer Menschen aus dem öffentlichen Leben hat auch Auswirkungen auf zivilgesellschaftliches, bürgerschaftliches und ehrenamtliches Engagement. Welche das sind, lässt sich an einem Beispiel einer Arbeitsstelle für bürgerschaftliches Engagement in einer Ruhrgebietsstadt ablesen. Die Arbeitsstelle wäre regelmäßig erreichbar, Termine könnten vereinbart werden. Es gäbe eine Vielzahl von Möglichkeiten bürgerschaftlichen Engagements, auch für Schulen. Dazu gehörten Patenschaften und Aktivitäten rund um alles, was den Alltag junger wie alter Menschen erleichtern kann.

Doch jetzt gelten nur noch Konjunktive. Es ist bedauerlich, dass Menschen über 60 wegen der Corona-Pandemie von der Arbeitsstelle nicht mehr vermittelt werden, da sie zu den „Risikogruppen“ gehören, obwohl es eine Vielzahl von über 60jährigen gibt, deren Gesundheits- und Fitnesszustand deutlich besser sein dürfte als der mancher Menschen in deutlich jüngerem Alter. Es wäre bedauerlich und meines Erachtens ein großer Schaden für unsere Demokratie, wenn Senior*innen, die Zeit und Know-How haben, auf lange Sicht nur aufgrund ihres Alters von jedem ehrenamtlichen Engagement ausgeschlossen würden. Bleibt zu hoffen, dass vielleicht jemand gegen solche Regelungen klagt. Sie sind diskriminierend und meines Erachtens sogar verfassungswidrig.

Dies gilt auch in der anderen Richtung: Viele Schulprojekte werden als Sozialpraktika in Krankenhäusern oder Senior*innenheimen durchgeführt, zu denen junge Leute keinen Zugang mehr haben. Inzwischen gibt es Erlasse, die außerschulische Aktivitäten bis auf Weiteres untersagen, sodass manche Vorhaben nicht durchgeführt, die begonnenen nicht fortgeführt werden können.

Der Schutz älterer Menschen wäre auch anders denkbar als durch Exklusion. Alexander Kekulé: „Der Schutz der Risikogruppen ist jedoch möglich, ohne ihre Grundrechte zu beschränken. Im ersten Schritt müssten die Altenheime gegen Covid-19-Ausbrüche gesichert werden. Dies beinhaltet auch den Schutz des Pflegepersonals und seiner Familien, etwa durch das Angebot regelmäßiger Testungen im privaten Bereich. Durch speziell zugeschnittene Hygienekonzepte dürften Heimbewohner nach dem Ende des Lockdowns wieder ein weitgehend normales Leben führen und auch Besuch empfangen. Mit professionellen Infektionsschutzmasken (FFP2-Masken) ausgestattet, könnten ältere Menschen das Haus verlassen und unter Leute gehen, ohne ihr Leben durch Covid-19 zu riskieren. Risikoangepasste, flexible Schutzkonzepte bedeuten nicht weniger, sondern mehr Freiheiten für die Betroffenen.“

„Engagement ist systemrelevant“

Manche auch ohne die Pandemie bestehende Problemlagen werden durch die Pandemie erst sichtbar. Das gilt nicht nur für ehrenamtlich tätige Menschen. Es gilt auch für die prekäre Finanzlage vor allem kleiner Nicht-Regierungsorganisationen. Diese finanzieren sich oft über einzelne Projekte, die zurzeit jedoch wegen der Kontaktbeschränkungen nicht durchgeführt werden können. Erhalten sie keine Zuschüsse, droht vielen die Insolvenz. Zu einem späteren Zeitpunkt, wenn – wie alle hoffen – das Leben wieder zur Normalität zurückgekehrt ist, verfügen sie dann nicht (mehr) über die personellen Kapazitäten, die ausgefallenen Vorhaben nachzuholen.

Hier besteht dringender Handlungsbedarf, gleichermaßen für die aktuelle Unterstützung der bedrohten Akteure wie für Überlegungen zu einer grundlegenden Reform der ministeriellen Zuschusspraxis. Die meisten Organisationen leben von der Projektförderung, beispielsweise aus zeitlich befristeten Programmen wie „Demokratie leben“ in der Zuständigkeit des Bundesfamilienministeriums.

Benötigt würde ein Mix von institutioneller Grundförderung und ergänzender Projektförderung. Für viele Engagierte ist dies überlebenswichtig. Es reicht auch nicht aus, Programme wie „Demokratie leben“ immer nur aus Anlass extremistischer Bedrohungslagen aufzulegen. Solche Programme sind eine Daueraufgabe, und so müsste auch das von der Bundesregierung geplante, aber wohl zurzeit nicht weiterverfolgte „Demokratiefördergesetz“ beschaffen sein.

Ein Worst-Case-Szenario über das Jahr 2020 hinaus werden viele kleine Träger nicht überleben. Dies dürfte auch für viele Kultureinrichtungen und Sportvereine gelten, die es dann eben nicht mehr gibt. Nur ein Beispiel: es gibt kleine Theater, die bei Einhaltung der erforderlichen Abstände nur weniger als zehn Zuschauer*innen zulassen dürften.

Ein wenig Mut macht ein Statement der Berliner Staatssekretärin für Bürgerschaftliches Engagement und Internationales, Sawsan Chebli, vom 25. März 2020 im Berliner Tagesspiegel: „Wir lernen, worauf es wirklich ankommt. Dass wir aufeinander aufpassen, in der Familie und in der Nachbarschaft. Dass wir aufhören, Grenzen zu ziehen und Mauern zu bauen. Das Coronavirus kennt keine Grenzen. Es zeigt uns allen, wie sehr es auf grenzüberschreitende Solidarität ankommt. Und wir sehen: Erfolgreiches Krisenmanagement der Behörden ist unabdingbar, aber wir sehen auch, wie sehr es auf wache und aktive Bürger, auf ein erfolgreiches Miteinander von Politik und Zivilgesellschaft ankommt. Engagement ist systemrelevant!“

Hoffentlich weiß das Land Berlin auch, welche Instrumente eine freiheitliche Demokratie hätte und bräuchte, um diese Systemrelevanz lebendige Wirklichkeit werden zu lassen. Zum Unterstreichen: Nicht-Regierungsorganisationen und Projekte, die sich für den freiheitlich-demokratischen Rechtsstaat einsetzen und gegen Antisemitismus und Rassismus kämpfen, sind „systemrelevant“.

Norbert Reichel, Bonn

(Anmerkungen: Erstveröffentlichung im Mai 2020, alle Zugriffe auf Internetadressen wurden am 18. September 2022 auf ihre Richtigkeit überprüft).