Niemals Täter

Die dunkle Seite der Weizsäcker-Rede vom 8. Mai 1985

„Auch vom Großvater wollte sie Dinge wissen, aber ehe der sich noch fortdrehen konnte, mahnten die Eltern schon, sie solle die alten Leute in Ruhe lassen, und sie dachte, es klinge, als sprächen sie von einer Totenruhe, die sie mit ihrer Neugier störte, und als würden sie mitflüstern, man solle nicht nur die Toten, aber auch die Täter und die Töter nicht belästigen. Wenn die Freunde in der Schule sie fragten, was hat das mit dir zu tun, zuckte sie mit den Schultern und hatte keine Erklärung, nicht für die anderen, nicht für sich selbst. Sie wusste nur eines: Sie wollte das Schweigen brechen statt es zu bewahren.“ (aus: Valerie Fritsch, Herzklappen von Johnson & Johnson, Berlin, Suhrkamp, 2020)

Mit diesen Sätzen endet das erste Kapitel des aktuellen Romans von Valerie Fritsch. Das zweite Kapitel beginnt mit dem Satz: „Der Großvater war ein eigenartiger, sprachloser Mensch.“ Ob Schweigen ein kontinuierlich bewusstes Verschweigen oder eher das Ergebnis langjähriger Verdrängung ist, die einmal Verschweigen war, zum Nicht-mehr-wissen-wollen wurde und sich schließlich als geglaubte Wirklichkeit jeder Kritik und jeder Relativierung entzog, ist schwer zu entschlüsseln. Fest steht, dass auch im Schweigen Vergangenheiten überleben.

Es kann nur einen geben

Auf deutschen Schulhöfen ist „du Opfer“ eines der gängigen Schimpfworte. Im Umgang mit der deutschen Vergangenheit sieht es jedoch anders aus. „Opfer“ wird geradezu zum Ehrentitel, der von allen Verpflichtungen, die sich aus der Vergangenheit ableiten ließen, freispricht. Alma, „ein ungeduldiges Kind“, die Hauptperson des Romans von Valerie Fritsch, versucht, diese Vergangenheit zu erkunden „und irgendwann kam Alma zu dem Schluss, dass Ich eine allzu bequeme Bezeichnung für einen selbst war, die sich nur dann mit Sinn füllte, wenn dieses Ich wusste, was es bedeutete, woher es kam und wovon es sich unterschied.“

Valerie Fritsch beschreibt die Jugend Almas als eine Zeit, in der die Jugend ihrer Eltern „nur in Nebensätzen“ erscheint: „Sie waren aufgewachsen in einem Krieg, den es nicht mehr gab, der auf der Welt, aber nicht in den Menschen zu Ende gegangen war, in einem Schattenkrieg, einer verrutschten Wirklichkeit, die man nicht loswurde. Sie waren groß geworden in Haushalten der Unverfügbarkeit, in denen jedes Kinderleid zu klein war, um ernst genommen zu werden, weil es nicht heranreichte an die schmerzhaften Erfahrungen der Kriegsgeneration.“ Diese Generation verstand sich als die Opfergeneration schlechthin. Täter*innen wurden nur benannt, wenn man*frau selbst das Opfer war. Ob diejenigen, die sich als Opfer inszenierten, selbst andere zu Opfern gemacht hatten und vielleicht sogar die eigentlichen Verursacher*innen des Leids waren, wurde beschwiegen.

Alma befragt ihren Großvater, sie will „Schweigen brechen, statt es zu bewahren.“ Doch ihre Eltern bedrängen sie, „sie solle die alten Leute in Ruhe lassen, und sie dachte, es klinge, als sprächen sie von einer Totenruhe, die sie mit ihrer Neugier störte, und als würden sie mitflüstern, man sollte nicht nur die Toten, aber auch die Täter und die Töter nicht belästigen.“ Trifft sich der Großvater mit seinen Altersgenossen, wiederholen sie sich gegenseitig das im Krieg Erlebte: „Keiner hatte vergessen, alle erinnerten sich.“ Aber niemand trug offenbar zur Grausamkeit des Krieges bei, grausam waren die anderen, eigentlich jedoch nur ein einziger Mann. „Manchmal dachte er (der Großvater) an einen Witz, der herumging im vorletzten Kriegsjahr vor seiner Gefangennahme. Was ist der Unterschied zwischen Christus und Hitler? Bei Christus starb einer für alle.“

Die Eltern Almas gehören der zweiten, Alma selbst der dritten Generation derjenigen an, die den Krieg, der in Deutschland der II. Weltkrieg genannt wird, erlebt haben. Valerie Fritsch ist Österreicherin, aber das Gefühl, das sie beschreibt, dürfte sich von dem Gefühl, das Deutsche pflegen, nicht sonderlich unterscheiden. Vielleicht hatten Österreicher*innen es etwas leichter, sich als Opfer zu inszenieren, zumal viele heute noch gerne verkünden, dass Österreich das erste Opfer der nationalsozialistischen Expansion gewesen wäre, obwohl die Feiern vom 15. März 1938 auf dem Heldenplatz sowie die unmittelbar folgenden Pogrome gegen Jüdinnen*Juden in Wien etwas anderes verkünden.

Traditionen der Nicht-Aufarbeitung

Es verspricht meines Erachtens wenig Erkenntnisgewinn, österreichische und deutsche Sichtweisen der Geschichte zwischen 1933 beziehungsweise 1938 und 1945 sowie der jeweiligen Vorgeschichten miteinander aufzurechnen. Es entwickelte sich in Deutschland wie in Österreich nach dem 8. Mai 1945 so etwas wie eine leicht weinerliche Klage-Kultur. Täter-Opfer-Umkehr, Schuldabwehr, Bagatellisierung bestimmten Selbstbild und Selbstbewusstsein in Deutschland wie in Österreich. Am 28. März 1986 war in der Neuen Kronen Zeitung (NKZ, vulgo: „Die Krone“) im Rahmen der Debatte um die NS-Vergangenheit des konservativen Kandidaten für das Amt des österreichischen Bundespräsidenten, Kurt Waldheim, zu lesen: „(…) es trifft uns Österreicher immer wieder hart, wenn wir mit der Erkenntnis konfrontiert werden, dass viele Leute in der Welt keine guten Erinnerungen an Österreich haben.“ (zitiert nach: Ruth Wodak u.a., „Wir sind alle unschuldige Täter“ – Diskurstheoretische Studien zum Nachkriegsantisemitismus, Frankfurt am Main, Suhrkamp, 1990)

Österreicher*innen entwickelten viel Übung darin, sich für die Zeit der nationalsozialistischen Herrschaft als Opfer zu inszenieren, weil die Moskauer Erklärung der Alliierten vom 30. Oktober 1943 dazu benutzt werden konnte, dass „die Juden, die nach dem ‚Anschluss‘ Österreichs an das Dritte Reich verfolgt wurden“ als „Opfer der Opfer“ verstanden wurden, sofern überhaupt eine Bereitschaft bestand, sich mit diesem Kapitel der deutsch-österreichischen Geschichte auseinanderzusetzen (ebda.). Wahrscheinlich eher weniger, da Österreich sich stets gerne von Deutschland und anderen Staaten abgrenzte, allein schon dadurch, dass seit 1965 der österreichische Nationalfeiertag am 26. Oktober zur Erinnerung an den Beschluss des Bundesverfassungsgesetzes über die österreichische Neutralität gefeiert wird. Wer neutral ist, ist per se nicht schuldig, nicht im juristischen, nicht im moralischen Sinne.

Neutralität war in Deutschland kein Thema. Wer darüber in Westdeutschland nachdachte, wurde der „Finnlandisierung“, der Annäherung an die Sowjetunion geziehen. Die „Westbindung“, die Treue zu den USA, gehörte in Westdeutschland bereits in den frühen 1950er Jahren zur Staatsraison, so wie in der DDR die „unverbrüchliche Treue zur Sowjetunion“. Daher mussten Deutsche andere Routinen entwickeln, sich selbst als Opfer zu definieren. Es ging in der jungen Geschichte der Bundesrepublik Deutschland und der DDR nicht um Äquidistanz gegenüber Nationalsozialismus und Kommunismus. Es gelang im „Westen“, auch unter Mithilfe der westlichen Alliierten, die Auseinandersetzung mit der nationalsozialistischen Vergangenheit schrittweise in den Hintergrund zu drängen. Die DDR bot ein Spiegelbild der bundesdeutschen Debatte, indem sie nationalsozialistische, faschistische Sympathien ausschließlich auf den Westen projizierte und sich als den per se antifaschistischen Staat inszenierte, in dem es keine faschistischen Bürger*innen mehr geben konnte.

Nach 1989 knüpften West und Ost gleichermaßen an diese Tradition der Nicht-Aufarbeitung an. Das Beschweigen deutscher Schuld im Nationalsozialismus wurde unter veränderten Vorzeichen fortgesetzt. Die Forderung nach einem „Schlussstrich“ kehrte in mehr oder weniger regelmäßigen Abständen immer wieder in die Schlagzeilen zurück. Der eigene Opferstatus wurde medial gepflegt. Ein aktueller Beleg: Die von der Stiftung „Erinnerung, Verantwortung und Zukunft“ finanzierte und von der Universität Bielefeld durchgeführte Studie „MEMO Deutschland“ (MEMO = Multidimensionaler Erinnerungsmonitor) ergab, dass sich etwa 36 % der Befragten zu den Opfern des Nationalsozialismus zählten, weil sie selbst, ihre Eltern oder Großeltern Opfer von Bombenangriffen oder Vertreibungen waren.

Die Vorgeschichte der Bombenangriffe und Vertreibungen wird weitgehend ignoriert. Dies ist nicht nur ein Beitrag zur bekannten Schuldabwehr, sondern auch ein Schlag ins Gesicht all derjenigen, die wirklich Opfer waren, die wirklich Widerstand leisten (es müsste sich eigentlich verbieten, hier das Wort „wirklich“ einzufügen). Widerstand wird zur wohlfeilen Ware im Wettbewerb um Anerkennung durch Dritte, in diesem Falle durch die Weltgemeinschaft und natürlich die eigentlichen Opfer (für das Wort „eigentlich“ gilt, was ich zum Wort „wirklich“ schrieb). Täter*innen beziehungsweise deren Nachkommen teilen den Opfern mit ihrer Selbstbezeichnung als „Opfer“ mit, dass sie die Verursacher*innen ihres Leids doch bitte schön woanders suchen mögen. Die Befragungen zur zitierten Studie haben im Herbst 2018 stattgefunden. Ich gehe nicht davon aus, dass sich in der Folgestudie MEMO III Wesentliches an den Ergebnissen ändern wird.

Mitgefangen, mitgehangen? Mitgewusst, mitgetan!

Die Rede des damaligen Bundespräsidenten Richard von Weizsäcker vom 8. Mai 1985 war ein Meilenstein. Ein hoher, der höchste Vertreter der Bundesrepublik Deutschland, nannte den 8. Mai 1945 einen „Tag der Befreiung“.  Er war nicht der erste, denn auch Walter Scheel hatte als Bundespräsident bereits zehn Jahre zuvor von „Befreiung“ gesprochen, dabei auch ausgeführt, was es bedeutete, dass die Deutschen sich nicht selbst hätten von den Nazis befreien können, aber die Rede Richard von Weizsäckers erhielt – aus welchen Gründen auch immer – eine erheblich höhere mediale Aufmerksamkeit im In- und im Ausland. Weizsäckers Rede wurde in der internationalen Öffentlichkeit durchweg begrüßt und gelobt. Die Bundeszentrale für politische Bildung hat Reaktionen auf die Rede dokumentiert. Sie dokumentierte auch die kritischen Stimmen, die es nicht nur von der konservativen Seite gab. Es gab auch kritische Anmerkungen von der progressiven Seite, beispielsweise von Petra Kelly und Daniel Cohn-Bendit, der kritisierte, dass die Deutschen in der Rede des Bundespräsidenten unter die Opfer gezählt wurden. In der weiteren Rezeption der Rede spielte diese Kritik von links keine Rolle, die Kritik von der rechten Seite verstummte nur scheinbar, denn mit dem Auftritt der AfD wurde ihr Inhalt wieder in Frage gestellt. Das wichtigste außenpolitische Ergebnis der Rede war vielleicht die Einladung Weizsäckers nach Israel für Oktober 1985“, der als erster deutscher Bundespräsident Israel besuchte.

Es lohnt sich jedoch, die Rede aus heutiger Sicht gegen den Strich zu lesen. Eine solche Lektüre lässt erkennen, dass Richard von Weizsäcker damals auch Dinge be- beziehungsweise verschwieg, weil sie eben nicht oder zumindest noch nicht sagbar waren. „Tag der Befreiung“, das war sagbar, die Täter*innenschaft der eigenen Generation, der Mütter und Väter, das war (noch) kein Thema. Wie viele Deutsche sich tatsächlich in die nationalsozialistischen Verbrechen verstrickten, selbst Täter*innen waren, lässt Richard von Weizsäcker offen. Ob seine Erfahrungen als Assistent des Verteidigers seines Vaters, Hellmut Becker, im sogenannten Wilhelmstraßenprozess dieses Schweigen bedingten, wäre Spekulation, aber nicht unwahrscheinlich.

Hellmut Becker äußerte sich in einem Gespräch über die Nürnberger Prozesse zur Beweislage gegen Ernst von Weizsäcker, der nach seiner Ansicht nicht hätte verurteilt werden dürfen: „Ich meine, der einzige Anklagepunkt, der übriggeblieben ist, ist seine Paraphe auf einem Papier, das die Deportation von französischen Juden verfügte. (…) Wir hatten tagelang darüber verhandelt, was Paraphen bedeuten; ob diese Paraphe für das Töten von Juden auch nur in irgendeinem Punkt kausal gewesen ist.“ (nachzulesen in: Hellmut Becker / Frithjof Hager, Aufklärung als Beruf – Gespräche über Bildung und Politik, München, Piper, 1992).

Die Frage hätte auch anders formuliert werden können. Ist Mitwisserschaft Mittäterschaft? Ist Mittäterschaft Täterschaft? Hellmut Becker beantwortete diese Fragen mit „Nein“. Als ehemaliger Ministerialbeamter wage ich zu behaupten, dass eine Paraphe Mitwissen und Billigung dokumentiert und je nachdem was in der Vorlage vorgeschlagen wurde auch Anweisung. Immerhin war Ernst von Weizsäcker kein Sachbearbeiter, sondern Staatssekretär.

Ich möchte nun keinen kausalen Zusammenhang zwischen der Rede vom 8. Mai 1985 und den Erfahrungen Richards von Weizsäcker als Assistent im Prozess gegen seinen Vater herstellen, aber ich halte den Gedanken, das allgemeine Eingeständnis der Verbrechen des Nationalsozialismus an sich und ein Bekenntnis zur persönlichen Täter*innenschaft voneinander zu trennen, für bedeutend: Richard von Weizsäcker konnte in seiner Rede vom 8. Mai 1985 möglicherweise nur Zustimmung der Mehrheit der deutschen Bevölkerung erhalten, wenn er den „Tag der Befreiung“ nicht mit einer Schuldzuweisung verband.

Der Freispruch

Der Bundespräsident sprach die große Mehrheit der Deutschen von jeder Schuld frei: „Die meisten Deutschen hatten geglaubt, für die gute Sache des eigenen Landes zu kämpfen und zu leiden. Und nun sollte sich herausstellen: Das alles war nicht nur vergeblich und sinnlos, sondern es hatte den unmenschlichen Zielen einer verbrecherischen Führung gedient.“ Über Nacht, sozusagen in der Nacht vom 8. auf den 9. Mai wurde klar, wem man*frau gedient hatte? Der Bundespräsident stellte klar, dass es keinen Grund gäbe, sich „an Siegesfesten zu beteiligen“, aber die Deutschen sollten von sich selbst keine allzu schlechte Meinung entwickeln. Sie waren offenbar Opfer eines Irrtums, juristisch formuliert eines Verbotsirrtums, des zivilen Bruders des Befehlsnotstands.

Das zweite Kapitel der Rede des Bundespräsidenten vom 8. Mai 1985 enthält eine Liste der Opfer der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft. Die Liste beginnt mit den sechs Millionen ermordeten Jüdinnen*Juden. Die weitere Reihenfolge ist aber offensichtlich nicht als Hierarchie der Opfer gedacht, aber es mutet schon etwas seltsam an, dass „die eigenen Landsleute, die als Soldaten, bei den Fliegerangriffen in der Heimat, in Gefangenschaft und bei der Vertreibung ums Leben gekommen sind“ an vierter Stelle genannt werden, nach den Opfern aus Sowjetunion und Polen und vor Sinti und Roma, Homosexuellen und „Geisteskranken“. Alle drei werden in einer Opfergruppe genannt, darunter die „Geisteskranken“ mit einer Bezeichnung, für die dem Bundespräsidenten beziehungsweise denen, die diese Rede vorbereitet hatten, offenbar keine andere Bezeichnung einfiel. Die gesamte Liste enthält zehn Positionen, deren achte den deutschen Widerstand nennt und deren zehnte verschiedene Formen des durch den Nationalsozialismus verursachten Leids resümiert.

Ein weiterer zentraler Satz der Rede lautet: „Wir dürfen den 8. Mai 1945 nicht vom 30. Januar 1933 trennen.“ Dieser Gedanke wird im dritten Teil der Rede konkretisiert. Zu Beginn wird der Schuldige genannt, es war „der abgrundtiefe Hass Hitlers gegen unsere jüdischen Mitmenschen“. Den Deutschen gibt er die Rolle der schuldlos Zuschauenden. Warum so viele Deutsche den „Hass Hitlers“ teilten oder auch wenn sie das nicht von Anfang an taten ihn mit der Zeit gläubig übernahmen, wird in der Rede nicht reflektiert. Alle wussten, was sie gesehen hatten, aber ihnen bleibt der Trost von höchster Stelle: „Die Ausführung des Verbrechens lag in der Hand weniger. Vor den Augen der Öffentlichkeit wurde es abgeschirmt.“ Die historische Forschung hat inzwischen eine Fülle von Studien vorgelegt, die belegen, dass diese Aussagen des Bundespräsidenten falsch sind. Der sogenannte „Historikerstreit“ hatte zwar bereits Vorboten, begann aber erst ein Jahr später, die Wehrmachtsausstellungen waren noch nicht konzipiert, einschlägige Veröffentlichungen von Götz Aly, Christopher Browning, Peter Longerich, Harald Welzer und anderen waren noch nicht geschrieben.

Aber abgesehen davon widerspricht der Bundespräsident sich selbst, wenn er darauf verweist, dass alle hätten sehen können, was geschah. Von „abgeschirmt“ kann daher nicht gesprochen werden. Und es gibt eine weitere Kleinigkeit, die den Bewusstseinsstand im Deutschland des Jahres 1985 spiegelt, die auch der Bundespräsident wiederholt: die Formel von den „jüdischen Mitmenschen“. Warum verwendet der Bundespräsident das Präfix „Mit“? Das ist im deutschen Sprachgebrauch auch heute leider nicht ungewöhnlich, da nach wie vor manche von „unseren jüdischen Mitbürgern“ sprechen, obwohl offensichtlich sein müsste, dass Jüdinnen*Juden in Deutschland nicht mehr und nicht weniger „Bürger*innen“ der Bundesrepublik Deutschland sind als alle anderen auch, die keine Jüdinnen*Juden sind, sondern Christ*innen, Muslime, Atheist*innen oder was auch immer.

Ein Meilenstein ist nicht das Ende eines Weges

Die Rede des Bundespräsidenten vom 8. Mai 1985 darf nach wie vor als ein Meilenstein zur Bewertung des 8. Mai als „Tag der Befreiung“ bezeichnet werden. Sie eröffnete den Deutschen jedoch auch die Möglichkeit, sich bei aller Verurteilung der nationalsozialistischen Verbrechen selbst als Opfer, zumindest aber als schuldlos zu verstehen. Samuel Salzborn zählt in seinem Buch „Kollektive Unschuld“ (Leipzig, Hentrich & Hentrich, 2020) diesen „Opfermythos“ zum „Gründungsfundament der Bundesrepublik“. Und dieses Fundament bestätigt Richard von Weizsäcker, einen Mythos, den nicht nur die aus den ehemaligen Gebieten des Deutschen Reiches östlich von Oder und Lausitzer Neiße „Vertriebenen“ pflegten.

Die Rede Richard von Weizsäckers endet mit eindringlichen Appellen an die Jugend und mit einer Selbstverpflichtung der Politiker*innen. Seine Appelle an die Jugend hätten als Philippika gegen „gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit“ gelesen werden können, wenn es diesen Begriff damals schon gegeben hätte: „Lassen Sie sich nicht hineintreiben in Feindschaft und Hass, gegen andere Menschen, gegen Russen oder Amerikaner, gegen Juden oder Türken, gegen Alternative oder Konservative, gegen Schwarz oder Weiß. Lernen Sie, miteinander zu leben, nicht gegeneinander.“ Aber auch hier: wer sind „andere Menschen“? Alle, die anschließend genannt werden, alle reale und potenzielle „Opfer“? Gleichermaßen, ohne Unterschied? Und wessen „Opfer“? Was haben „Alternative“ und „Konservative“ in dieser Liste zu suchen und was haben „Juden“ und „Türken“ miteinander zu tun? Letztlich ist auch diese Liste ein Spiegel der politischen Auseinandersetzungen der 1980er Jahre.

Der aktuelle Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier bezog sich am 8. Mai 2020 ausdrücklich auf die Rede seines Vorgängers: „‚Der 8. Mai war ein Tag der Befreiung.‘ Ich glaube: Wir müssen Richard von Weizsäckers berühmten Satz heute neu und anders lesen. Damals war dieser Satz ein Meilenstein im Ringen mit unserer Vergangenheit. Heute aber muss er sich auf unsere Zukunft richten. ‚Befreiung‘ ist nämlich niemals abgeschlossen, und sie ist nichts, was wir nur passiv erfahren, sondern sie fordert uns aktiv, jeden Tag aufs Neue.“ Frank-Walter Steinmeier nennt die Morde von Hanau, Kassel und Halle, um zu konkretisieren, was er meint.

Aber lassen sich Vergangenheit und Zukunft wirklich so einfach voneinander trennen? Ist die Vergangenheit – ich nenne es mal so – abgearbeitet? Belegen nicht gerade die Morde von Hanau, Kassel und Halle (oder von Utøya und Christchurch), dass es angezeigt wäre, wieder viel mehr über das nationalsozialistische Erbe (nicht nur in Deutschland) nachzudenken? Die Täter der genannten Morde begründeten diese mit eindeutigen Rückgriffen auf tragende Elemente der nationalsozialistischen Ideologie. Es besteht meines Erachtens durchaus die Gefahr, die Sätze von Frank-Walter Steinmeier so misszuverstehen, dass das, was die „Befreiung“ am 8. Mai 1945 erforderlich machte, heute nicht mehr bedacht werden müsste. Vorbei ist vorbei? Ein subtiler Schlussstrich?

Im Schlussappell seiner Rede unterscheidet Frank-Walter Steinmeier „Gedenken“ und „Befragen“, der Vergangenheit wird gedacht, ein Bekenntnis zur deutschen Erinnerungskultur, aber der Bundespräsident lässt offen, was die Zuhörer*innen und Leser*innen seiner Rede daraus machen. Letztlich bleibt es jedem*jeder selbst überlassen zu entscheiden, „was die Befreiung, was der 8. Mai für Ihr Leben und Ihr Handeln bedeutet!“ Auch die „Opfer“ werden nicht mehr konkret angesprochen. Zu Beginn der Rede bezog sich der Bundespräsident noch ausdrücklich auf die Shoah, doch zum Schluss wird die Shoah unter „Opfer des Krieges und des Nationalsozialismus“ subsummiert, eine für die Deutschen inklusive Lösung.

Es spielt in beiden Reden keine Rolle, ob und wie in Deutschland ein angemessenes Erinnern an die Verbrechen der Jahre 1933 bis 1945 möglich gewesen wäre oder in Zukunft möglich wäre, das auch ein Eingeständnis der Mitverantwortung, der eigenen Schuld umfasste. Eine offene Auseinandersetzung mit der Schuld der Deutschen in den Jahren 1933 bis 1945 fehlt. Es wäre meines Erachtens an der Zeit, die Ergebnisse der oben zitierten MEMO-Studie ernst zu nehmen und die Annahme kollektiver Opferschaft zu dekonstruieren. Dazu wäre – das nur am Rande – allerdings auch ein anderer Geschichtsunterricht in unseren Schulen erforderlich.

Und was hilft es, die Bedeutung der „Erinnerung“ in der jüdischen Tradition, auf die sich schon Richard von Weizsäcker berief, zu beschwören? Richard von Weizsäcker lässt in seiner Rede Jüdinnen*Juden und die Bürger*innen Deutschlands als zwei einander gegenüberstehende Gruppen erscheinen: „Das jüdische Volk erinnert sich und wird sich immer erinnern. Wir suchen als Menschen Versöhnung.“ Wer ist „wir“, die Deutschen, die keine Jüdinnen*Juden sind, die er als „das jüdische Volk“ bezeichnet, oder alle Deutschen einschließlich aller Jüdinnen*Juden? Gehören Jüdinnen*Juden zum deutschen Volk? Wer sucht hier „Versöhnung“? Bedeutet dies, dass sich zwar das „jüdische Volk“ an die Shoah erinnern, die Nachfahren der Täter*innen jedoch mit dieser Erinnerung verschonen möge, weil diese ja die Hand zur „Versöhnung“ reichten?

„Opferneid“

Aslı Erdoğan hat einmal geschrieben, die Geschichte der Opfer sei die Geschichte der Menschheit. Wer diese Geschichte erkunden möchte, muss sich daher auch mit den Menschen beschäftigen, die die Opfer zu Opfern machten, den Täter*innen und all denjenigen, die hingenommen haben, dass die Opfer Opfer wurden, die sich – so könnten wir es juristisch formulieren – zumindest der unterlassenen Hilfeleistung schuldig machten. Erst die Auseinandersetzung mit der Geschichte und den Motiven der Täter*innen hilft, „Opfermythen“ und „Selbstviktimisierungsfantasien“ (Begriffe von Samuel Salzborn) zu dekonstruieren.

Ein inklusives Opferverständnis ist eine wirksame Strategie, eigene Täter*innenschaft zu beschweigen oder zumindest zu relativieren. Gleichzeitig entsteht ein Wettbewerb: die Opferkonkurrenz. Dies gilt für individuelles Erinnern, das Erinnern der eigenen Familiengeschichte, ebenso wie für kollektives Erinnern, das gemeinsame Erinnern verschiedener Gemeinschaften an Fest- und Gedenktagen. Geschichtsbücher, Filme, Fernsehproduktionen – sie alle orientieren sich gerne an einer Fiktion gemeinsamen Erinnerns auf der Grundlage des kleinsten gemeinsamen Nenners.

Je inklusiver, je kleiner der gemeinsame Nenner ist, umso leichter wird es, Opferkonkurrenzen zu etablieren, und umso schwieriger wird es, das Erinnerte, das Erinnerbare, das Nicht-Erinnerte ebenso wie das Vergessene, Verdrängte, Verschwiegene im Zusammenhang zu analysieren und zu dekonstruieren. So entstehen Cluster der Erinnerung, so entsteht Geschichtspolitik als Kitt einer Gesellschaft, vorausgesetzt, dass die offiziell-offiziöse Version der Geschichte durchsetzbar ist. Letztlich definiert ein solcher Konsens in der Mehrheitsgesellschaft, wer sich als „Opfer“ bezeichnen darf. Die Inklusion des kleinsten Nenners wirkt dann als Exklusion.

Seit einiger Zeit stellen wir in Deutschland (und nicht nur dort) fest, dass Menschen die Shoah für ihre politischen Ziele instrumentalisieren. Menschen, die die Shoah relativieren, am liebsten gar nicht mehr darüber sprechen möchten, nutzen sie, um sich selbst zu legitimieren, indem sie sich mit Widerstandskämpfer*innen oder den Opfern der Shoah vergleichen. Sie verkleinern den gemeinsamen Nenner und treten in einen Wettbewerb ein, wer denn nun das am härtesten betroffene Opfer wäre.

Wenn ein elfjähriges Mädchen sich auf einer der Demonstrationen gegen die angesichts der COVID-19-Pandemie erforderlichen Einschränkungen mit Anne Frank vergleicht, weil sie ihren Geburtstag nicht feiern konnte, sich Teilnehmende solcher Demonstrationen einen gelben Stern mit der Aufschrift „ungeimpft“ anheften oder eine Teilnehmerin ihren Widerstand mit dem Widerstand Sophie Scholls vergleicht, liegt die Frage auf der Hand, was die deutsche Erinnerungskultur wirklich bewirkt habe.

Michael Blume, Antisemitismusbeauftragter in Baden-Württemberg, nannte das in einem Interview „Opferneid“: Das ist natürlich eine komplette Verharmlosung des Holocausts. Wir nennen das Opferneid: Wer sich selbst als Opfer einer Weltverschwörung sieht, erträgt es nicht, dass anderer Opfer gedacht wird. Corona-Opfern etwa oder Opfern des NS-Regimes. Deshalb setzt man sich selbst an deren Stelle, stellt sich als neue Sophie Scholl dar und die Bundesregierung als NS-Regime. / Das hat übrigens nicht mit Covid-19 angefangen. Wir hatten hier in Stuttgart schon bei den Demos gegen die Dieselfahrverbote Leute, die sich Judensterne angeheftet haben.“ Der Gipfel der Infamie besteht schließlich darin, dass diese Verschwörungsgläubigen die Shoah gar nicht leugnen, sie vereinnahmen sie und erklären sich zu Wiedergänger*innen der ermordeten Jüdinnen*Juden oder Widerstandskämpfer*innen. Ihr individuelles Opfergefühl erheben sie zum einzig geltenden Maßstab in einer Hierarchie des Leids, in der die Shoah verblasst.

Nicht alle, die sich als Opfer fühlen, sind friedlich. Manche unter denjenigen, die sich selbst gerne als Opfer inszenieren, zeigen öffentlich, dass sie keine Probleme damit haben, andere zu Opfern zu machen. Anna Sauerbrey hat unter dem Titel „Das verunsicherte Gedenken“ bereits am 27. Januar 2020 im Berliner Tagesspiegel die Verschiebung der Erinnerung an die Shoah bei manchen Mitbürger*innen beschrieben. „Die Leichtfertigkeit, mit der heute Deutsche im Internet den Tod anderer Menschen fordern, sich das Ertrinken von Flüchtlingen wünschen, Juden mit Mord drohen und Frauen mit Vergewaltigung; die Willkür und das Lapidare gepaart mit dem Maximalgrausamen, das ist dasselbe Böse. Es ist dieselbe furchterregende Gleichgültigkeit, die Elie Wiesel an jenem SS-Mann wahrnahm; der gleiche kranke Geist, der das Leben mit einem Wort vernichtet: Links. Rechts.“ 

Der 8. Mai als Feiertag – ein weiterer Meilenstein?

Wäre die Erklärung des 8. Mai zum nationalen Feiertag eine Lösung? Vielleicht wäre das ein weiterer Meilenstein. Angesichts der vielen unausgesprochenen Konflikte, die selbst nach der Rede Richard von Weizsäckers noch gelten und die auch die Rede Frank-Walter Steinmeiers nicht auflöst, halte ich das Anliegen zurzeit für kaum durchsetzbar, zumindest noch nicht. Der Deutsche Gewerkschaftsbund hatte bereits 2018 einen entsprechenden Beschluss gefasst. Im Jahr 2020 initiierte die Musikerin Esther Bejarano (*1924), die Auschwitz u.a. als Akkordeonistin und Flötistin im Auschwitzer Frauenorchester (verniedlichend oft als „Mädchenorchester“ apostrophiert) überlebt hat, mit einem an den Bundespräsidenten und die Bundeskanzlerin gerichteten offenen Brief eine Kampagne zur Erklärung des 8. Mai als Tag der Befreiung zum nationalen Feiertag in Deutschland.

Diese Initiative wurde von namhaften Historiker*innen unterstützt. Beispielhaft zitiere ich Martin Sabrow, den Leiter des Leibniz-Zentrums für Zeithistorische Forschung in Potsdam. Er schlug im März 2020 vor, den 8. Mai als „Tag der Befreiung vom Nationalsozialismus und der Beendigung des Zweiten Weltkrieges“ zu begehen: „Die Bundesrepublik Deutschland würde der Entwicklung ihrer Erinnerungskultur angemessen Rechnung tragen, wenn sie den 8. Mai unter dieser Bezeichnung zum gesetzlichen Feiertag erheben und damit zum Ausdruck bringen würde, dass der 8. Mai 1945 ein die Zeiten überdauernder Tag der befreienden Niederlage und des rettenden Zusammenbruchs war.“.

Die Kampagne für den 8. Mai als Feiertag spielte in den deutschen Nachrichten am 8. Mai 2020 jedoch keine Rolle. Aber das inklusive deutsche Opferverständnis wirkte: in der ZDF-Nachrichtensendung „Heute“ wurde in der Anmoderation darauf hingewiesen, dass in diesem „Krieg“ viele Deutsche ihre Heimat verloren hätten, das Köln zu 70 % und Hamburg zu 50 % zerstört worden wären. Kein Wort zu den sechs Millionen ermordeten Jüdinnen*Juden, kein Wort zu den ermordeten Sinti und Roma, kein Wort zu den nationalsozialistischen Menschheitsverbrechen, kein Hinweis auf den von Richard von Weizsäcker genannten Zusammenhang zwischen dem 30. Januar 1933 und dem 8. Mai 1945.

Die Analyse, die Samuel Salzborn einen Tag vorher, am 7. Mai 2020 in der Jüdischen Allgemeinen veröffentlichte, wurde bestätigt: „Denn die deutsche Gesellschaft ist über die Jahrzehnte hinweg aus der Tätergemeinschaft des Nationalsozialismus zur Erinnerungsabwehrgemeinschaft der Bundesrepublik geworden, die durch antisemitische Projektionen und ethnische Selbstviktimisierungsfantasien zusammengehalten wird.“ Nicht zuletzt könnte es in diesem Zusammenhang interessant sein, die Anteile zur Restaurierung des Berliner Stadtschlosses und der Potsdamer Garnisonskirche in der Berichterstattung der Medien mit den Anteilen zur Erhaltung von Gedenkstätten der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft zu vergleichen, nicht nur quantitativ.

Geographie der Täter

Timothy Snyder hat anlässlich der Verleihung des Hannah-Arendt-Preises für politisches Denken 2013 (Europas gespaltene Erinnerungen – Festschrift zur Verleihung des Hanna-Arendt-Preises für politisches Denken 2013 an Timothy Snyder, Bremen 2013) gesagt: „Nationen sind nur in der Produktion ihres Selbstbilds wahrhaft souverän, und das erschwert es uns natürlich, die Welt zu verstehen. Da die Welt immer noch durch Nationalstaaten, nationale Erziehungssysteme et cetera strukturiert ist, dominiert eine nationale Form des Verstehens dieser Ereignisse auf scheinbar natürliche und direkte, aber wenig konstruktive Art. Daneben kann Nationalgeschichte wichtige Fragen stellen, zum Beispiel, warum waren wir die Opfer oder warum waren wir die Täter und warum standen wir dabei und taten nichts? (…) Die Nationalgeschichte stellt diese Fragen, kann sie aber nicht beantworten, weil einige von den Gründen, warum wir Opfer, Täter oder Zuschauer waren, mit Kräften zu tun haben, die nationale Grenzen überschreiten.“

Mit diesen Sätzen verweist Timothy Snyder auf das Elend nationaler Erinnerungskulturen und auf die Notwendigkeit eines veränderten Zugangs zur jeweiligen Geschichte. Nationales Gedenken lässt sich immer leicht dazu verführen, die eigene Rolle in der Geschichte entweder heroisch oder in einer Opferrolle darzustellen, mitunter auch in beiden Varianten. Polen und Serbien sind Beispiele für Staaten, in denen die heroischen Anteile des Selbstbildes eng mit einer Opferrolle verbunden werden beziehungsweise aus der Opferrolle abgeleitet werden. In beiden Ländern gehört dies zur offiziellen Geschichtspolitik, in Deutschland glücklicherweise nicht, obwohl auch in Deutschland entsprechende Tendenzen bestehen, wie die zitierte MEMO-Studie belegt.

Auch international gilt: niemand war Täter – da konnte es nur einen geben. Timothy Snyders Verdienst ist es, die Bedeutung des 23. August 1939, des Tages der Molotow-Ribbentrop-Linie herausgearbeitet zu haben (insbesondere in: „Bloodlands“, erschienen 2010). Diese Linie markiert im Großen und Ganzen noch heute die Spaltung zwischen Ost und West, beispielsweise an der polnischen Ostgrenze. Und sie bewirkt dort, wo Länder, die damals wie die baltischen Staaten dem Einflussbereich der Sowjetunion zugeschlagen wurden, heute auf der Seite des „Westens“ liegen, Konflikte und Ängste und nicht zuletzt den Wunsch nach einer stärkeren Präsenz der NATO, ein Anliegen, das in Deutschland mehr oder weniger ignoriert wird.

Jedes Gedenken wird erst dann ehrliches, aufrichtiges und nachhaltiges Gedenken, wenn die diversen Täter*innenschaften, als Mitwissende, als Mitwirkende, als Mitverantwortliche, als Hauptverantwortliche, in welchem Grad auch immer, offen und aufrichtig eingestanden und thematisiert werden, in den Schulen, in den Medien, in der Literatur. Und so ließe sich aus dem Kontext der Linie vom 30. Januar 1933 über den 23. August 1939 und den 27. Januar 1945 bis hin zum 8. beziehungsweise 9. Mai 1945 eine historische Linie ziehen. Dann werden vielleicht auch der 13. August 1961, der 9. November 1989 und der 3. Oktober 1990 verständlicher und nicht zuletzt auch die geopolitischen Entwicklungen in Ost- und Südosteuropa.

Habitus einer Schein-Bewältigung

Aber auch ein solches Gedenken reicht nicht, wenn die Shoah als Dreh- und Angelpunkt jeden Gedenkens ignoriert wird. Gerd Koenen hat in seinem Vortrag anlässlich der Verleihung des Hannah-Arendt-Preises an Timothy Snyder allerdings auch darauf hingewiesen, dass die bloße Erwähnung der Shoah, beispielsweise an ausgewählten Gedenktagen, nicht ausreicht (auch verfügbar unter http://gerd-koenen.eu/media/filer_public/dd/b5/ddb51ad2-5993-48b4-91bc-604652d2535c/snyder_kolloquium_eigener_beitrag.pdf). Ein solches Gedenken gehört im Sinne von Pierre Bourdieu zum Habitus gesellschaftlichen Wohlverhaltens. Es reicht – so Gerd Koenen – eben nicht aus, wenn Deutsche sich gleichzeitig von jeder Verantwortung freisprechen und „Unsere Mütter, unsere Väter“ – so der Titel einer der schlechtesten und historisch falschesten (hier lässt sich „falsch“ tatsächlich steigern) Fernsehserien der vergangenen Jahre – zu den Opfern der Shoah und der Kriegsverbrechen der Nazis ebenbürtigen Opfer erklären: „Indem die deutsche Verantwortung für diesen ungeheuren Eroberungs- und Versklavungskrieg und für die unzähligen deutschen Kriegs- und Massenverbrechen im Osten sich im ‚Holocaust‘ zusammenfassten, und dieser sich wiederum metaphorisch in ‚Auschwitz‘ lokalisierte, gerann alles zu einem stereotypen Bild und zu einer festen Formel, wurde alles Geschehene, so absurd man das finden mag, viel kommensurabler, und ließ diese ganze heillose Vergangenheit sich sehr viel besser ‚bewältigen‘ (wie dieser sprechende deutsche Ausdruck besagt), psychisch, intellektuell und praktisch.“

Diese Praxis der „Bewältigung“ hat mit Aufarbeitung und Auseinandersetzung nichts zu tun. Wie kann es sein, dass sich die drei Überlebenden in der Serie „Unsere Mütter, unsere Väter“ am Ende wie 1941 versprochen in einem Café wiedertreffen, als wäre nichts gewesen? Gerd Koenen resümiert die von einer solchen Szene begünstigte Schein-Versöhnung der Zuschauer*innen der Serie mit den deutschen Verbrechen: „Kein Klischee ist ausgelassen, kaum irgendein Detail stimmt oder ist auch nur plausibel; und das nach jahrzehntelangen Debatten und Forschungen, tausenden von Büchern und Artikeln, Schullektionen und Aufklärungsfilmen, präsidialen Ansprachen und einer scheinbaren schonungslosen Bereitschaft zur Aufklärung und Selbstkritik! Das ist ein eindrucksvoller Beweis dafür, in welchem Grade die erinnernde ‚Bewältigung‘ all dessen, was Timothy Snyder als eine Geschichte der ‚Bloodlands‘ beschrieben hat, nur partiell von vorhandenem Wissen bestimmt, in vielem dagegen noch immer von mächtigen Impulsen einer versöhnenden Selbstidentifikation diktiert wird, die am Ende – willentlich oder unwillentlich – auf eine paradoxe moralische Selbsterhöhung hinausläuft.“

Die Tragik offiziell-offiziösen Gedenkens beginnt mit einem inklusiven Opfer-Verständnis, das die Täter*innen einschließt, damit jedoch die eigentlichen Opfer ausschließt, Exklusion durch Inklusion, Verschiebung der Grenzen zwischen Täter*innen und Opfern. Und nicht zuletzt gehört dazu eine Art von deutscher Selbstgerechtigkeit, weil das Vorstellungsvermögen zu fehlen scheint, wie Täter*innenschaft unter welchen Bedingungen entstehen könnte.

Ein Hoffnungsschimmer

Aus meiner Sicht lohnt es sich, über eine Geschichte nachzudenken, die Rabbiner Avraham Radbil in seinem Beitrag „Rabbi Amram auf der Leiter“ zur Rubrik „Talmudisches“ in der Jüdischen Allgemeinen vom 14. Januar 2021 erzählt: „Eines Tages stellte ein Rebbe vor seinen versammelten Chassiden die Frage: ‚Was würdet ihr tun, wenn ihr eine volle Brieftasche auf der Straße fändet?‘ Einer rief: ‚Ich würde sie sofort dem Besitzer bringen.‘ ‚Du bist ein Lügner!‘ schrie der Rebbe. Dann rief ein anderer: ‚Ich würde die Brieftasche behalten.‘ ‚Du bist ein Dieb‘, wurde der Rebbe noch ungeduldiger und zorniger. Dann fragte er den Dritten, was er mit der Brieftasche tun würde. Der senkte sein Haupt und antwortete leise: ‚Ich weiß nicht, was ich tun würde und wofür ich mich letztendlich entscheiden würde. Ich würde aber ganz sicher zum Allmächtigen beten, dass Er mir die Kraft gibt, der Versuchung zu widerstehen und die Brieftasche ihrem rechtmäßigen Besitzer zurückzugeben.‘ / ‚Du bist ein weiser Mann‘, sagte der Rebbe mit ruhiger Stimme und lächelte sanft.“

Rabbiner Avraham Radbil zitiert die Pirkej Awot, in denen zu lesen ist, „dass man sich bis zu seinem letzten Tag nicht zu sicher sein soll, denn es kann immer eine Prüfung kommen, bei der man scheitert.“ Vielleicht wäre das ein wichtiger nächster Schritt: zugeben, dass viele gescheitert sind. Vielleicht wäre so ein Ende der ständigen Behauptung „kollektiver Unschuld“ in Sicht, vielleicht.

Norbert Reichel, Bonn

(Anmerkungen: Erstveröffentlichung im Januar 2021, alle Internetzugriffe wurden am 15. September 2022 auf ihre Richtigkeit überprüft.)