Offene Augenblicke

Im Gespräch mit dem Fotografen Hans Peter Schaefer

„Jede Fotosammlung ist ein Experiment in surrealistischer Montage und in der surrealistischen Verkürzung der Geschichte.“ (Susan Sontag, Objekte der Melancholie)

Fotografie als Kunst und Alltagsfotografie haben nicht viel miteinander zu tun, oder vielleicht doch? Wie viel Wirklichkeit bildet Fotografie ab, und welche? Wann wird Fotografie Kunst? Welche Wirklichkeit schafft eine Fotografie, die keine Menschen abbildet, wohl aber Landschaften, Gegenstände, die, so wie sie im Bild zu sehen sind, eindeutig Menschenwerk sind? Über diese und andere Fragen habe ich im Zeitalter des sogenannten Lock-Downs, einer Zeit, in der wir uns vielleicht mehr als sonst mit Wirklichkeit aus zweiter Hand, aus Fotografien oder Filmen, beschäftigen,  im Sommer 2020, mit dem Fotografen Hans-Peter Schaefer aus Köln gesprochen. Er vertreibt seine Fotografien über einen von ihm gegründeten Verlag reserv-art.

Norbert Reichel: Vielleicht fangen wir mit ein paar persönlichen Informationen an. Wir kennen uns aus unseren jeweiligen Tätigkeiten in zwei verschiedenen bürokratischen Einrichtungen, in denen es – wenn ich das so sagen darf – unser Anliegen war, die kreativen Möglichkeiten einer Bürokratie auszuschöpfen und zu erweitern. Es gibt mehr davon als viele Menschen denken. Dies ist uns – so denke ich – auch ganz gut gelungen, aber das, was wir jetzt machen, ist doch etwas völlig anderes. Zwei Leben, oder doch eines?

Hans Peter Schaefer: Mir kommt es schon so vor, als lebte ich ein zweites Leben. Inhalte, Herausforderungen und Lebensrhythmus haben sich völlig verändert. Mein persönliches Umfeld hat sich außerdem stark verändert. Menschen, die an Kunst interessiert sind oder selbst Künstler*in sind, spielen eine deutlich größere Rolle in meinem Leben. Andererseits kann ich meine berufliche Vergangenheit nicht leugnen, profitiere ich von ihr doch auch bis heute. Eben Lebenserfahrung.

Norbert Reichel: Irgendwann hast du angefangen, deine Fotoserien auszustellen und die Kataloge über einen eigenen Verlag zu vertreiben. Wie kam es zu der Verlagsgründung? Und wer sind die Menschen, mit denen du dabei zusammentriffst oder die auf deine Internetseite schauen?

Hans Peter Schaefer: Früh schon arbeitete ich an konzeptuell verstandenen Werkgruppen, die zu einer gewissen formalen wie inhaltlichen Vielfalt führten. Als ich 2007 die Gelegenheit erhielt in Oberhausen auszustellen, entschied ich mich für kleine Bildgruppen im großen Format aus verschiedenen Werkgruppen. Diese Präsentationsweise war für mich Anlass, über das Ausstellen hinaus das Medium Buch zur Vermittlung meiner fotografischen Arbeit zu nutzen. Das geschah mit dem Band „autonome gruppen“. Ein Wortspiel mit der politischen Bewegung der „Autonomen“. Damals sehr aktuell. Das Buch erschien im Eigenverlag. Nach einem Ausstellungskatalog entschloss ich mich zur Gründung des reserv-art-verlags. Genau genommen ein Eigenverlag mit Eigennamen. Bislang habe ich nur zwei Bücher anderer Autoren dort herausgegeben. 

Wichtig für meine Eigenwerbung ist das soziale Netzwerk Facebook. Hier präsentiere ich mich mit zwei Fb-Seiten mit meiner fotografischen Arbeit. Darüber haben sich viele Kontakte, auch über Deutschland hinaus, ergeben. Weiterhin wurde ich in die Deutsche Gesellschaft für Photographie berufen und bin Mitglied von Photo-Archiv e.V. Auch hierüber ergeben sich Kontakte, teils Freundschaften, in denen mein Medium der Fotografie im Vordergrund steht.

Auf meine Internetseite schauen natürlich immer wieder Personen, die mir mehr oder weniger nahestehen, wahrscheinlich kaum jemand, der dort surfend per Zufall landet. Mehr Relevanz haben die von mir in Facebook publizierten Fotografien.

Vergessene Monumente

Norbert Reichel: Den ersten Band mit Fotografien, den ich mir von dir vor einigen Jahren habe anschauen können, hatte den Titel „autonome gruppen“. Ich sehe Ausschnitte aus Gegenständen und Landschaften. Ein Beispiel: die Umgebung eines Parkhauses mit Fahrrad, Plakat, Verkehrsschild mit einem Pfeil, in welche Richtung man*frau fahren darf, dasselbe Parkhaus aus einer anderen Perspektive mit einem bemalten Stromkasten. Ich sehe ein Rouleau, wie wir sie vor Fenstern haben, mit Knick in der Lamelle, Heu- und Strohstapel auf einem abgeerntetem Feld, mal mehr, mal weniger stabil.

Hans Peter Schaefer: Die eingepackten Heuballen (1971) sind eine frühe Hommage an Christo und Jeanne-Claude. Sie stehen in der Landschaft als Landmarken, was sie für die Zeit, in der sie dastehen, auch tatsächlich sind. Es gibt keine Norm, die vorgibt, wie sie dort stehen, dort hingestellt werden. Den Bauern, die sie verpackt und arrangiert haben, sind häufig eindrucksvolle Monumente gelungen. Die Zeit wird erfahrbar, wenn wir sie länger, vielleicht an verschiedenen aufeinanderfolgenden Tagen beobachten. Ich zeige Ballen in unterschiedlichen Zuständen, mal verrottet, mal läuft ein undefinierbarer Brei heraus, mal leere Flächen, Reste.

Das Gegenstück zu „Autonome Gruppen“ sind „Aufgeräumte Landschaften“. Hier scheint es eine Gestaltungsabsicht zu geben, aber ob sie wirklich existiert, oder nur in den Augen der Betrachter*innen liegt, bleibt offen. „Aufgeräumte Landschaften“ implizierte in der gleichnamigen Ausstellung in Lindlar auch den Einstieg in meine dokumentarischen Serien. So in etwa ‚Kunst auf dem Acker‘ und die Verwandlung landwirtschaftlicher Flächen für Gewerbe und Industrie. Diese Fotografien sehe ich letztlich als ein Projekt, das sich mit Erscheinungsformen des Anthropozän, unseres Zeitalters, in dem wir Menschen den Planeten maßgeblich verändern, auseinandersetzt.

In der angesprochenen Ausstellung habe ich die Siloballen-Fotografien in der Größe von 1 m x 1,50 m in Kojen präsentiert. An den kürzeren Wänden waren Bilder aus dem Tal der Maas zu sehen. Diese Fotografien entstanden zwischen Lüttich und Namur, alle bei bedecktem Himmel, womit ich einen neutralen Blick auf die dort die Tallandschaft dominierenden Industrie- und Gewerbebauten herstellen wollte. Bei diesen Aufnahmen habe ich mich intentional ausdrücklich auf das von dem französischen Ethnologen Marc Augé geprägte Konzept der „Nicht-Orte“ bezogen. Gebiete, die den ursprünglichen Funktionszusammenhang von Alltagsleben, Wohnen und Arbeit nicht besitzen.

Norbert Reichel: Der graue Himmel ergibt einen Hauch von Unwirklichem, obwohl gerade die bewölkte Landschaft viele Wirklichkeiten in sich bergen könnte. Mir fällt auf, dass Menschen auf diesen Bildern fehlen. Es gibt Hinweise, auf den Bauern, der die Heuballen verpackte, das Hinweisschild, das eine Richtung weist, in die jemand, der vorbeikäme, sich bewegen könnte, mehr nicht. Bei den Bildern des Maastals sind Industrieanlagen und LKW’s zu sehen, die zumindest auf eine vergangene oder zukünftige Anwesenheit von Menschen verweisen. Deine Fotografien sind keine Urlaubsfotos mit blauem Himmel und Sonnenschein, keine Postkartenidyllen.

Hans Peter Schaefer: Der bedeckte Himmel gehört zum Konzept der dokumentarischen Serien. Ich habe nicht nur bei meinen Arbeiten an Maas und Sieg immer auf graues Wetter gewartet. Der Klimawandel erschwert das leider.

Wenn auf meinen Fotografien Menschen vermisst werden, so hat das mit meiner Haltung zu meinen Motiven zu tun. Mit geht es um die weitgehend uneingeschränkte Präsenz beispielsweise der von mir fotografierten Häuser an der Sieg.

Es geht mir um die pure Erscheinung der Gegenstände. Wir sehen wie zusammengestoppelt die Bebauung mitunter ist. Ein Fachwerkhaus, dazu ein Schuppen, An- und Umbauten, Fassaden mit Plastik verkleidet. Die Bilder verweisen auf die Geschichte der eingeborenen wie der zugewanderten Menschen, die aus Bonn oder Köln kommen und sich an der Sieg ein Haus gebaut oder gekauft haben.

Das sind im Grunde irgendwie alles vergessene Monumente. Alles, was Menschen irgendwo in die Landschaft hineinstellen, ist ein Monument, vielleicht sogar ein Denkmal. Es steht dort nicht ewig, so wie Christos verpackte Gebäude auch nicht ewig verpackt sind. Das, was wir sehen, ist eine Momentaufnahme. Es ist vergänglich.

Spirited Away

Norbert Reichel: Vergänglichkeit entdecke ich auch in den Bildern, die du in dem verlassenen Freizeitpark in Hanoi gemacht hast. Der Band heißt „Weitere Aussichten“. Mich hat dieser Park an den Spreepark im Plänterwald in Berlin erinnert, auch ein wenig an das Animé „Spirited Away“ von Hayao Miyazaki, eine Art japanischer Alice-in-Wonderland-Geschichte. Dort entdecken wir eine Welt, die dem Vergnügen dient, aber auch hier fehlen die Menschen. Vielleicht waren sie mal da, so wie im Plänterwald, vielleicht kommen sie als Geister, wie in „Spirited Away.

Hans Peter Schaefer: Die Bilder des Freizeitparks in Hanoi waren nicht so konzipiert. Es war Zufall. Ich war im Nieselregen unterwegs. Ebenso zufällig ergaben sich dann die Perspektiven. Da ist eine Giraffenskulptur zwischen zwei Bäumen, eine kleine Bahnlinie, die aus dem Bild hinausführt, alles gesehen aus dem Inneren eines Hauses, das oben und am rechten Rand den Blickwinkel begrenzt. Ein Bahnhof von verschiedenen Seiten, an dem wohl nie wieder ein Zug Tourist*innen ein- und aussteigen lassen wird. Aber wer weiß das schon?

Die Landschaften sind im Grunde in dieser Form nichts anderes als ein „Ready Made“ in der Tradition von Marcel Duchamp. Sie sind das, was jemand im Bild sieht, hier beispielsweise die Einrichtungsgegenstände eines Freizeitparks, sie sind aber auch etwas anderes, das sozusagen nur in der Fotografie erscheint. Zentral ist die Empfindung von Einsamkeit, etwas, das man*frau beim Spazierengehen so nicht erlebt, erst, wenn man*frau es als Foto geradezu eingefroren hat. Natürlich sind dort, wo ich fotografiere Menschen unterwegs, aber ich fotografiere fast immer menschenleer. Das ist im Grunde auch typisch für die Kunst der Fotografie, dass sie ohne den Kontext auskommen kann, den Menschen im Bild andeuten. Die Zusammenhänge sind nicht sichtbar.

Norbert Reichel: Bei diesen Bildern denke ich manchmal an Michel Foucault, der in „Les mots et les choses“ (erschienen 1966 bei Gallimard, deutsche Fassung bei Suhrkamp: „Die Ordnung der Dinge“), am Schluss das Bild entwirft, dass der Mensch vielleicht eines Tages von dieser Erde verschwindet wie eine Zeichnung im Sand am Meer. Freizeitparks sind auch der Gegenstand von „Außerhalb der Öffnungszeiten“. Hier sind auch Menschen zu sehen, wahrscheinlich Schausteller*innen, die du wie für ein Familienalbum fotografiert hast. Momentaufnahmen?

Hans Peter Schaefer: Momentaufnahmen nicht. Ich wollte mit diesem Projekt die Rück- oder Kehrseite der bunten Kirmeswelt vorstellen. Die Fahr- und sonstigen Geschäfte zeigen überwiegend ihre vom Publikum abgekehrte Seite mit stärker funktionalen Elementen, Stromkabel, Konstruktionselemente, abweisend verschlossene Wände. Oder aber sie sind tatsächlich außerhalb der Öffnungszeiten im Pausenmodus dargestellt.

Die Menschenbilder verdanken sich einer Begegnung mit einer „Kirmesfamilie“ auf dem Festplatz in Euskirchen. Mir war ein Wohnwagen mit auffallendem Blumenschmuck aufgefallen. Noch auf der Suche nach einem optimalen Standort sprach mich der Besitzer an. Schließlich stand die gesamte Familie, Mutter, Vater und zwei Kinder vor dem Wagen zum Porträt. Darüber, und dank vieler weiterer Begegnungen erhielt ich einen Eindruck vom Kirmesleben hinter den Kulissen, Familiengeschichten und Einzelschicksale. Das alles per Text zu verarbeiten und in Fotografien darzustellen, überschritt allerdings meine Intentionen. Schließlich blieben dann die wenigen Menschenbilder, mit denen ich das ursprüngliche Konzept erweiterte.

Norbert Reichel: Orte sind nicht dafür verantwortlich, was Menschen tun.

Hans Peter Schaefer: Die Orte sind im besten Sinne „unschuldig“. Daher auch der Titel eines anderen Bandes „Unschuldige Orte“. Unschuldig ist hier im Sinne von nicht befleckt durch eine kriminelle Tat gemeint. Im Gegensatz z.B. von Tatorten mit einer historischen Dimension wie sie der US-amerikanische Fotograf Joel Sternfeld (www.joelsternfeld.net) in seinem Fotoband „On This Site“, deutsche Übersetzung des Bandes: „Tatorte“, dokumentiert hat. Das sind echte Tatorte, beispielsweise das Hotel, in dem Martin Luther King ermordet worden ist.

Norbert Reichel: Die Orte, die du fotografierst, könnten durchaus Tatorte sein oder es vielleicht noch werden. In „Unschuldige Orte“ gibt es gelegentlich Hinweise auf Menschen, vielleicht mögliche Täter*innen. Ich sehe eine Straße mit dem Schild „Kopenhagener Straße“, das ist eine Straße in Berlin-Pankow, mit einem Mann, der eiligen Schrittes in eine Sackgasse geht. Ich sehe geparkte Autos auf einem beleuchteten Parkplatz, auch einen Parkplatz ohne Autos, einen anderen mit geparkten LKWs, einmal sogar ein Auto mit Autonummer, hier mit identifizierbarem Besitzer.

Hans Peter Schaefer: Ich hatte gelegentlich schon ein schummeriges Gefühl, als ich diese Aufnahmen machte. Ich bin, egal wo ich war, nach dem Abendessen rausgegangen und habe fotografiert, nachts zwischen 11 und 1 Uhr. Einen solchen Ausgangspunkt im Zwischenraum von Schuld und Unschuld hatte ich in Padua. Ich bin nachts aus der Stadt zurück, bin im siebten Stock, schaue raus auf den Platz und denke, da könnte gleich einer kommen und schießen. So fing die Fotoserie an. Es ist mir auch schon passiert, dass mich die Polizei anhielt, so bei den Fotografien im Siegtal. Ich hätte ja selbst jemand sein können, der Ungesetzliches im Schilde führte oder vielleicht etwas ausspähte. „Unschuldige Orte“ sind Orte, an denen wir uns als verletzlich erleben.

Norbert Reichel: Das Erleben der Verletzlichkeit ist nur möglich, wenn wir Orte in Zeit übersetzen, eine unbekannte Zukunft antizipieren. In „Unschuldige Orte“ zitierst du Wittgenstein: „Das Bestehen und das Nichtbestehen von Sachverhalten ist die Wirklichkeit.“ Können wir Fotografie als zeitlose Kunst betrachten? Es besteht etwas oder es besteht nicht, aber in der Zeit verändert sich dies. Es gibt keine Bestandsgarantieren für irgendetwas. Oder schafft Fotografie gerade dadurch, dass sie bewusst einen Augenblick dokumentiert, Zeitgefühl?

Hans Peter Schaefer: Ich denke, dass in jeder Fotografie vergangene Zeit eingeschlossen ist. Fotografie zeigt immer ein Vergangenes (Vergängliches), stellt zeitliche Distanz zwischen Betrachter*in und Gegenstand her, zeigt „so war es“ – auch wenn Fotografie als Verfahren nie Objektivität erreicht. In diesem Sinne scheint mir, dass fotografische Aufnahmen in uns ein Gefühl für Zeit und Vergänglichkeit erzeugen können.

Zufallsmomente

Norbert Reichel: Manchmal brauchst du viel Geduld, nicht nur, wenn du längere Belichtungszeiten brauchst.

Hans Peter Schaefer: Das betrifft beispielsweise den Band „zufall / leerstellen“. Bei solchen Projekten ist es gut, eine Sitzgelegenheit zu finden und abzuwarten. Ich habe mir einen festen Platz gesucht, dann die Kamera so eingestellt, dass z.B. alle sechs Sekunden eine Aufnahme gemacht wird. Das wurde dann eine Serie von vielleicht 30 Bildern. Dann habe ich einen Zufallsgenerator eingestellt, der eine gewisse Zahl von Bildern ausschied, sodass optische Leerstellen entstanden.

Norbert Reichel: In diesem Band lese ich „über den Zufall in der Fotografie“ und „über Leerstellen in der Fotografie“. Im Text finde ich den Begriff „Choreographie des Menschenflusses“.

Hans Peter Schaefer: Wir sehen eine Fußgängerzone in Athen und denken darüber nach, welche Geschichte die vorbeieilenden Menschen haben könnten. Wir betrachten eine Zeitspanne mit Lücken/Leerstellen. Solchen zwischen den Aufnahmen und andere, die sich von mir entfernten Fotografien verdanken. In den Athener Serien sind Passant*innen Gegenstand des Projekts. Sie gehen an der Kamera vorbei, auf sie zu und/oder entfernen sich, verweilen im Bildraum. Eine Art unwillkürlicher Choreographie, die dazu anstiften kann, Fantasien über Einzelne zu entwickeln.

Im Nachhinein entdecke sich auf den Fotos Überraschendes, das ich während des Fotografierens nicht gesehen habe. Abgesehen davon, dass Fotograf und Betrachter vielleicht Verschiedenes sehen und unterschiedlich interpretieren.

Norbert Reichel: Du überlässt die Füllung der Leerstellen der Kreativität der Betrachter*innen?

Hans Peter Schaefer: Das ist aus meiner Sicht bei Fotografien eigentlich immer der Fall. Es gibt den gewählten Ausschnitt, eine gewählte Perspektive, die Reduktion von drei auf zwei Dimensionen. Auf jeder Fotografie fehlt ein großer Teil des Kontextes vor Ort. Die Vorstellungskraft der Betrachter*innen ist also immer gefragt. Hier allerdings ist die Serie gerade darauf angelegt, die Leerstellen nicht allein als Störungen, sondern als Imaginationsraum anzunehmen

Norbert Reichel: Man*frau könnte den Leerstellen geradezu kriminologisch nachgehen.

Hans Peter Schaefer: Da wäre ein Blick in mein Bildarchiv hilfreich, der könnte die Leerstellen fülIen. Dann aber wäre der Sinn der Serien obsolet. In ihnen ist Irritation durch Leerstellen ebenso angelegt wie die Erwartung, Betrachtende füllen so wie Lesende von Literatur die in Text oder der Bilderreihe angelegten Leerstellen. Die nach dem Zufallsprinzip entfernten Bilder sollen das augenfälliger machen und anregen.

In der Serie geht es mir um die Wahrnehmung des scheinbar Belanglosen. Manchmal werden wir, wenn wir in einem Café sitzen, auf etwas, das draußen geschieht, aufmerksam, manchmal nicht. Es ist eigentlich ein alltäglicher Ablauf dessen, was immer geschieht und immer wieder geschehen kann. Leerstellen gehören dazu, sie sind Teil unserer Wahrnehmung.

Norbert Reichel: In einigen Bildern sehen wir einen Menschen, der selbst fotografiert. Geriet auch der zufällig ins Bild?

Hans Peter Schaefer: Aus meiner Sicht, der ich nur Ausschnitt und Rhythmus vorgegeben habe, ohne ein Script, ist jede personale Präsenz eine zufällige, die anderen Gesetzen als denen der Fotoserie folgt.

Norbert Reichel: Auf einem Bild in „Appropriation 2.0 (flüchtige Präsenz)“ zeigst du das Bild einer sitzenden Frau mit Zigarette. Daneben links eine geschminkte Frau in einer Badewanne, darin rote Flüssigkeit, wahrscheinlich Blut? Die Zeit nach einem Mord? War die Frau mit der Zigarette die Mörderin? Hat sie den Mord entdeckt und wartet auf die Polizei?

Hans Peter Schaefer: Das Motiv ist eine Installation von Bettina Rheims, das ich in einer Ausstellung fotografiert habe. Mir geht es dabei nicht um Tat- sondern um Ausstellungsorte. Ich frage, was widerfährt ausgestellten Kunstwerken? In  wieweit ändert sich ihre Präsenz durch den räumlichen Kontext, in dem sie hängen oder stehen, durch Licht und Schatten, Spiegelungen auf ihrer Oberfläche oder dem schützenden Glas im Rahmen, schließlich gar durch die Ausstellungsbesucher*innen. Es kann Neues entstehen bzw. Veränderung durch Kombination geben. Das findet allerdings immer nur temporär statt. Daher der ursprüngliche Titel „flüchtige Präsenz“.

Norbert Reichel: In „Appropriation 2.0“ fotografierst du Installationen und Bilder verschiedener Künstler*innen. Was haben die miteinander gemeinsam?

Hans Peter Schaefer: Sie alle verbindet meine Entscheidung, sie zum Gegenstand meiner Arbeit zu machen und sich so meinem Blick und Konzept unterzuordnen.

Norbert Reichel: Der Fotograf als Weltenordner, der Welten erschafft?

Hans-Peter Schäfer: Ja, da steckt etwas Auktoriales drin, zum Beispiel bei den Bildern aus dem Freizeitpark in Hanoi. Ich erzähle nicht wie ein Romanautor eine ganze Geschichte, ich wähle Motive, Wetter, Einstellungen. Ich entscheide, was auf dem Foto zu sehen ist.

Konzeptkunst Fotografie

Norbert Reichel: Wie würdest du die künstlerischen Grundlagen deiner Arbeit beschreiben?

Hans Peter Schaefer: Grundlage ist die Konzeptorientierung. Ich fotografiere nicht beliebig, sondern folge vorher festgelegten Inhalten und Verfahren. Dazu gehören beispielsweise Nachtaufnahmen für die „unschuldigen Orte“, bedeckter Himmel für Dokumentationen, die Suche nach vergessenen Monumenten und die vom Menschen veränderte Landschaft an Maas und Sieg bzw. an den Küsten (Serie „Dahinter das Meer“).

Norbert Reichel: Mich erinnert das, was ich auf deinen Fotografien sehe, mitunter an Gerhard Richter. Deine Fotografien könnten auch Grundlage von Bildern Gerhard Richters sein? Du warst meines Wissens einer der ersten, der in Wikipedia einen Artikel über Gerhard Richter schrieb (der inzwischen auch von anderen weiterentwickelt wurde). Welche Maler*innen haben dich beeinflusst oder welchen Maler*innen fühlst du dich als Fotograf verbunden?

Hans Peter Schaefer: Ich habe keine direkten Vorbilder. Gerhard Richter schätze ich zweifellos sehr. Von seinen malerischen „Zufallsschöpfungen“ wie das Kölner Domfenster wurde ich zu „zufall / leerstellen“ angeregt. In mancher Hinsicht stehe ich auf den Schultern der Konstruktivisten, bin inspiriert von László Moholy-Nagydoch auch dem Informel. Appropriation 2.0 geht wiederum auf die Auseinandersetzung mit dem Werk von Louise Lawler zurück.

Als fotografisches Schwergewicht stehen für mich regelmäßig Bernd und Hilla Becher im Hintergrund. Mich orientierend, mich abgrenzend, öfter im Sinne von „das haben die Bechers schon gemacht“.

Norbert Reichel: Susan Sontag schrieb in dem Aufsatz „In Platos Höhle“, dass die Fotografie durch die Industrialisierung zu einer eigenen Kunst geworden sei. Sie nannte die Fotografie den „Zwillingsbruder des Tourismus“ und bezeichnete Kameras als „Wunsch-Maschinen, deren Benutzung süchtig macht“. Heute fotografieren Menschen alles, was um sie herum ist, tausendfach. In „Fotografische Evangelien“ bezeichnet Susan Sontag die modernen Medien, darunter die Fotografie als „demokratisch“, spricht ihren Produkten aber auch die von Walter Benjamin beschriebene „Aura“ ab: „Es ist unvermeidlich, dass mehr und mehr Kunstwerke dazu bestimmt sein werden, als Fotografien zu enden.“ Fotografie als verkannte, banalisierte, vielleicht sogar entwertete Kunst?

Hans Peter Schaefer: Nun ja, im Jahre 2020 wird kaum noch jemand der Fotografie den Kunstcharakter absprechen. Dennoch, nicht jede Fotografie ist ein Kunstwerk wie nicht jedes gemalte Bild schon den Kunststatus erreicht. Schwierig für ambitionierte Fotografie ist, dass die „Herrschaft der Maschine“ auch in Zeiten digitaler Technik eine große Rolle spielt und für technisch gute bis perfekte Bilder kein besonderes Talent oder Aus-/Vorbildung Voraussetzung sind. Gleichzeitig übernimmt Fotografie weiterhin wichtige Funktionen z.B. in der Werbung als Gebrauchskunst, die mehr handwerklich als künstlerisch herausfordert. Die so gerne beschworene „Flut“ der Bilder halte ich nicht für so bedenklich. Im Privaten wie in den sozialen Medien werden Unmengen an Fotografien in Umlauf gebracht, Erinnerungsbilder, Selfies, Sonnenuntergänge und vieles mehr. Eine Entwertung der Fotografie sehe ich damit aber nicht einhergehen.

Norbert Reichel: Ich kenne dich als einen politisch sehr interessierten und informierten Menschen. Gibt es eine politische Botschaft in deinen Bildern?

Hans Peter Schaefer: Das was mich politisch bewegt, besonders Aktualität, bewegt meine Fotografie nicht. Wollte ich unsere politische Gegenwart mit meinen Fotografieren kommentieren, so glaube ich, fehlen mir die künstlerischen Mittel. Meine dokumentarischen Arbeiten sind in unterschiedlicher Weise politisch, besitzen zumindest politische Konnotationen. Am deutlichsten wird das m. E. in „Dahinter das Meer“. Zu offensichtlich behandle ich in diesem Projekt die Verschandelung der Küsten durch Industrie, Verkehrsbauten und Tourismus. Bei den meisten Werkgruppen wäre es konstruiert, sie als politisch einzuordnen. Aktuell sind ja Fotografien von mir in der Kölner Galerie r8m ausgestellt. Aufnahmen aus der Werkgruppe »p«, fotografierte Ausschnitte von Straßen, Böden und Wänden. Hier geht es um Formales, um Ästhetik. Robère Scholz, der Galerist, hat diese Werkgruppe ausgewählt, weil sie zu seinem Galeriekonzept passt. Ihm geht es um Konkrete Kunst.

Norbert Reichel: Ich sehe vielleicht als Betrachter zu viel in den Bildern. Mein Eindruck: Ein zentrales Motiv deiner Fotografien ist die unsichtbare oder nicht mehr sichtbare Präsenz des Menschen, der Welt gestaltet. Die Welt, die du zeigst, ist im Grunde menschengeschaffen, aber ich erlaube mir den Begriff – post-human. Fotografie dokumentiert Gestaltetes. Dies würde selbst in einer Wildnis so sein, denn alleine die Präsenz des Fotografen ist ein Eingriff in die Natur.

Hans Peter Schaefer: In „Dahinter das Meer“ zeige ich Hotels, Container, Straßen, ungepflegte vernachlässigte Landschaftsfragmente mit Sand, den Boden bedeckende Pflanzen, Gestrüpp. Ein Billboard verweist auf menschliche Präsenz, beispielsweise der Stier der Sherry-Marke Osborne, den man*frau in Spanien fast überall sehen kann und der ja irgendwie Kultstatus hat. Manchmal sieht man*frau das Meer, oft jedoch nicht. Das Meer wird durch die Bebauung zugestellt.

Norbert Reichel: Ich habe mich gelegentlich gefragt, wo das Meer ist. Ich weiß eigentlich nur durch den Titel des Bandes, dass Meer da sein sollte, schließe es aus dem Zusammenhang der Bilder. Aber manchmal hatte ich den Eindruck, dass ich das Meer riechen konnte. Das war schon fast ein synästhetisches Erlebnis, aber letztlich auch nur aus dem Zusammenhang entstanden. Der Band zeigte mir, dass es schon von Bedeutung ist, in welchem Zusammenhang Fotografien oder auch andere Kunstwerke entstehen. Bei einigen Bildern im Sieg- und im Maastal hatte ich einen ähnlichen Eindruck. Ich wusste durch den Titel der Serie vom Fluss, ohne diesen Hinweis hätte ich wahrscheinlich gar nicht an ein Flusstal gedacht.

Hans Peter Schaefer: In beiden Fällen ist die Landschaftsform Flusstal allerdings entscheidend. Zwischen Namur und Lüttich ist die Schönheit des Flusstals fast nur noch zu ahnen, so sehr wird es vom Menschen genutzt. Im Siegtal führt die industrielle Nutzung durch die Landwirtschaft über weite Strecken hinweg noch zu einem Landschaftseindruck, einer allerdings künstlichen Landschaft. Vom Menschen gemacht. In beiden Tälern lassen sich frühere wie auch aktuelle Nutzungen ablesen, die etwas aussagen über Kultur, Gesellschaft und Ökonomie. Genau das interessiert mich hier. Ohne die Flüsse wäre die Nutzung anders, die (Industrie-)Landschaft wäre eine andere.

Reduktion

Norbert Reichel: In der Populärkultur ist das „Selfie“ meines Erachtens eine Form, die gesamte Welt auf sich selbst zu reduzieren. Du machst mit deinen Bildern eigentlich genau das Gegenteil.

Hans Peter Schaefer: In meiner Fotografie geht es nicht um mich, also bin ich auch nicht ihr Gegenstand. Mit meinen Konzepten und meinem Blick stehe ich hinter den Bildern, nicht in ihnen. Mit Selfies haben sie vielleicht gemeinsam, dass sie mit zeitlichem Abstand Erinnerungsbilder werden können.

Norbert Reichel: Viele fotografieren einfach das, was sie für aufbewahrenswert halten. Das landet dann in Familienalben oder heute in den diversen Handy-Speichern. Fotografie ist dann irgendetwas wie ein Beitrag zu einer persönlichen Erinnerungskultur. Da es aber so viele Bilder gibt, weiß nachher kaum noch jemand, woran er*sie sich eigentlich erinnern sollte.

Hans Peter Schaefer: In Düsseldorf gab es in diesem Jahr eine Ausstellung über Fotografie im Rheinland und im Ruhrgebiet, beginnend in den 1960er Jahren. Einer der dort ausstellenden Fotografen war Jörg Sasse. Er arbeitet mit fremden Fotografien, die er als „Bildspeicher“ benutzt. Dieser ist ein Ausstellungsgegenstand, der den Besucher*innen zur Verfügung steht. Sie sind aufgefordert, ihre eigene Ausstellung zu schaffen, indem sie Bilder herausholen und an die Nägel an der Wand hängen. Damit gehen sie mit der Erinnerung anderer um. Sie schaffen eine eigene neue Geschichte.

Norbert Reichel: Genau das machen Historiker*innen. Sie sammeln Quellen, setzen sie zusammen und sagen dann, so war es oder – wenn sie etwas vorsichtiger sind – so könnte es gewesen sein. Auch deine Fotografien erzählen als Serie gesehen eine Geschichte, vielleicht nicht im traditionellen Sinne, aber ähnlich wie eine amerikanische Short-Story. Short Stories von Raymond Carver, Harold Brodkey oder Truman Capote könnte ich mir durchaus als Fotografie vorstellen, nicht nur als Film.

Hans Peter Schaefer: Ein Vorzug der fotografischen Vorgehensweise liegt sicher darin, dass der Rhythmus des Betrachtens, die Reflexion der Bildinformation, durch die Betrachtenden hergestellt wird. Eine Form von Individualisierung.

Manche Bildserien sprechen allerdings nicht allein aus sich heraus. Sie brauchen zusätzlich Text, der informiert, erklärt, anleitet. Begleitende Texte sind mir dann wichtig, wenn etwas nicht für sich selbst spricht. Bei „Readymades“ spricht alles für sich selbst. Bei anderen ist das nicht so, beispielsweise bei „leerstellen“ sind die leeren Rechtecke nicht unbedingt selbsterklärend.

Norbert Reichel: Du präsentierst deine Fotografien als Serien. Die für die Titel gewählten Begriffe stehen fast alle im Plural.

Hans Peter Schaefer: Ist das so? Ich werde jetzt nicht nachzählen. Der Plural wird aber immer dann sinnvoll sein, wenn ich Vielfalt darstelle, Einkaufszentren, Gewerbegebiete, gar Öffnungszeiten.

Norbert Reichel: Verändert sich durch das Smartphone unsere Wahrnehmung der Wirklichkeit? Und was könnten deine Fotografien oder deine Art zu fotografieren daran ändern?

Hans Peter Schaefer: Generell bin ich skeptisch, welches Veränderungspotenzial in der Kunst liegt. Fotografien, die über eine persönliche Erinnerungsfunktion hinausgehen und nicht allein der Spontaneität unterliegen, werden nach meiner Einschätzung anders wahrgenommen als Smartphone-Fotografien. Der Kontext, in dem sie vor- oder ausgestellt werden, im Buch oder der Ausstellung, verändert ihr Auftreten und damit ihre Wahrnehmung. Ob sie Aufforderungs- oder Anregungscharakter für Smartphone-Fotografen haben, bezweifle ich. Per Smartphone entstehende neue Sehgewohnheiten haben allerdings sehr wohl Einfluss auf die Praxis künstlerischer Fotografie. Sind sie doch auch Ausdruck einer Generation, die mit dem scheinbar absichtslosen schnellen Fotografieren aufgewachsen ist. Künstler nutzen schon lange die so entstandenen Bilderberge. Z.B. zur Intervention per Collage oder zu Arrangements, mit denen Neues entsteht.

Norbert Reichel: Fotografien reduzieren Komplexität, mitunter verstörend. Du hast in dem Band „Textur“ alles, was du fotografiert hast, auf die Struktur einer Oberfläche reduziert. Es ist nicht erkennbar, was das für ein Gegenstand ist oder was für eine Straße. Mitunter gibt es Hinweise durch Schriftzeichen. Deutlicher kann man*frau meines Erachtens nicht zeigen, dass Fotografien nicht nur das zeigen, was wir sehen, sondern auch das, was wir nicht sehen, das Wegkopierte, Wegretuschierte. Zumindest entsteht ein Bild des im Foto nicht Sichtbaren in unseren Köpfen. Ähnliche Reduktionen ergeben sich meines Erachtens in Dunkelheit und spärlicher Beleuchtung, bei bedecktem Himmel oder im Nebel. Manchmal verwischen Bewegungen in den Bildern.

Hans Peter Schaefer: Reduktion ist mir im Sinne von Konzentration auf Entscheidendes und als Gestaltungsmittel wichtig. Entsprechend wird man das häufig in meinen Arbeiten finden, vielleicht ist es ein Roter Faden. Anlässlich einer Ausstellung in Ostende sprach der Veranstalter von „deutschem Minimalismus“ Das schließt Komplexität jedoch nicht generell aus.

Norbert Reichel: Deine neuesten Arbeiten sind „Readymades“ und eine Serie zur Corona-Pandemie mit dem wunderbaren Titel „Coronaviruskrisenausgehbeschränkungsfotografie“.

Hans Peter Schaefer: Mit „Readymades“ folge ich mit nicht nur weitem zeitlichen Abstand der Kunstauffassung Marcel Duchamps, in deren Folge viele Künstler*innen Gegenstände aus dem Alltag heraus in den Kunstkontext stellten. Ich spiele in dieser Serie mit Objekten, die aus meinem Alltag kommen und die in meinem Blick zu Skulpturen werden. Auch eine Form von Reduktion, sind sie doch aus ihrem ursprünglichen Zusammenhang als Verschlüsse, Behälter usw. herausgelöst.

Die Serie „Coronaviruskrisenausgehbeschränkungsfotografie“ ist dagegen mein Versuch, die Beschränkungen des Lock down mit Augenzwinkern in Facebook zu thematisieren. Nahfeldfotografie statt Stadt.

Norbert Reichel: Bei „Readymades“ dachte ich an unsere bürokratische Vergangenheit. So ließe sich unsere damalige Arbeit auch darstellen. Vielleicht schließt sich so der Kreis unserer Versuche, Wirklichkeit wahrzunehmen und neu zusammenzusetzen.

Hans Peter Schaefer: Bürokratie kommt in Readymades auch im wörtlich-bildlichen Sinne mit einem „Sofort-Stempel vor, der auf einer Buchseite stellvertretend sein solitäres Statement abgibt.

Norbert Reichel: Etwas, das wir beide aus unserer bürokratischen Vergangenheit gut kennen. Meine Frau hat sich zum Geburtstag einmal einen Stempel schenken lassen, auf dem stand: „Dieses Dokument wurde gestempelt“. Dann hat sie sich den Spaß erlaubt, mehrere Umlaufmappen, wie es sie in Behörden so gibt, mit leeren Blättern zu verschicken, auf denen nur zu lesen war: „Dieses Dokument wurde gestempelt“.

Hans Peter Schaefer: Es hat etwas Selbstreferentielles. Vieles in der Wirklichkeit, die wir erleben, ist im Grunde „Readymade“. Wenn ich das dann auch noch fotografiere, ergibt dies sozusagen eine doppelte Selbstreferentialität, für den Gegenstand und für die Fotografie. Vielleicht ist das das Surreale.

(Anmerkungen: Erstveröffentlichung im September 2020, Internetlinks wurden am 18. September 2022 auf Richtigkeit überprüft. Die Rechte der Fotografien liegen alle bei Hans Peter Schaefer, dem ich für dafür danke, dass er sie mir zur Verfügung gestellt hat.)