System(at)ische Ignoranz

Hell- und Dunkelfelder des Antisemitismus 2020

„Immer wieder heißt es heute: ‚Wehret den Anfängen‘ doch erkennt man die Anfänge nicht immer erst dann, wenn es bereits nicht mehr die Anfänge sind?“ (Michael Brenner: Die Gefahr erkennt man immer zu spät, in: Aus Politik und Zeitgeschichte 22. Juni 2020, siehe auch www.bpb.de/antisemitismus).

Wir erleben zurzeit nicht die „Anfänge“, bei weitem nicht. Allerdings erleben wir in den vergangenen drei bis vier Jahren vielleicht, vielleicht „Anfänge“ einer systematischen Gegenwehr des freiheitlich-demokratischen Rechtsstaats, die über Beileidsbekundungen und Gedenkstunden hinausgeht. Immerhin gibt es jetzt im Bund und in 15 Ländern – nicht in Bremen – Antisemitismusbeauftragte, wenn auch mit eher kärglichem Personal- und Sachbudget ausgestattet. Hoffnung gibt das zum 1. Januar 2020 eingerichtete Netzwerk KOMPAS (Kompetenznetzwerk Antisemitismus), an dem sich RIAS (Recherche- und Informationsstelle Antisemitismus), das Anne Frank Zentrum in Berlin, die Bildungsstätte Anne Frank in Frankfurt am Main, die Kreuzberger Initiative gegen Antisemitismus sowie die Zentrale Wohlfahrtsstelle (ZWST) des Zentralrats der Juden beteiligen. KOMPAS wird mit Mitteln des Bundesfamilienministeriums finanziert, allerdings – wie dort in der Regel üblich – als Projekt und nicht institutionell.

Steigendes öffentliches Interesse an einem Meldesystem

Unbestritten gibt es ein steigendes öffentliches Interesse, dass antisemitische Vorfälle, Angriffe und Übergriffe öffentlich bekannt werden. Ein umfassendes Lagebild sollen regionale Meldestellen nach dem Vorbild des von der Recherche und Informationsstelle Antisemitismus e.V. (RIAS) in Berlin seit 2014 betriebenen Meldeportals  erstellen. Am 31. Oktober 2018 wurde hierzu in Berlin der Bundesverband RIAS e.V. gegründet. Es beteiligen sich die regionalen Meldestellen der Länder Bayern, Berlin, Brandenburg und Schleswig-Holstein. Deren Berichte sind in der genannten Internetseite einsehbar. In anderen Ländern gibt es Überlegungen, doch darf nicht übersehen werden, dass auch Vorbehalte zu überwinden sind. Das hängt vielleicht auch damit zusammen, dass nicht immer eindeutig zu sein scheint, was gemeldet werden sollte und könnte.

Auch in Nordrhein-Westfalen wird zurzeit darüber nachgedacht, eine Meldestelle nach dem Berliner Vorbild einzurichten. Ein von der nordrhein-westfälischen Antisemitismusbeauftragten bei RIAS und drei weiteren Organisationen in Auftrag gegebenes Gutachten, das am 7. September 2020 in der Jüdischen Gemeinde Düsseldorf vorgestellt wurde, vermerkt, dass viele Vorfälle unterhalb der Strafbarkeitsgrenze liegen, daher in der Polizeistatistik nicht auftauchen, selbst dann nicht, wenn sie angezeigt würden, was auch nicht immer geschieht. Die Studie stützt sich auf 59 Interviews mit jüdischen Akteur*innen und die Auswertung von 1.611 antisemitische Straftaten aus den Jahren 2014–2018, die mit 209 zivilgesellschaftlich bekannt gewordenen Vorfällen verglichen wurden. Berichtet wird nicht nur aus Nordrhein-Westfalen, sondern auch aus anderen Bundesländern, von eher schlechten Erfahrungen Betroffener bei der Anzeige, von unsensiblen Reaktionen in Polizei, Justiz, Schulaufsicht, aber auch von Vorgesetzten, beispielsweise in den Schulen. Viele Betroffene scheuen sich sogar, einen antisemitischen Vorfall zu melden, weil sie Nachteile befürchten, beispielsweise auch für ihre Kinder in der Schule. Ein Meldesystem, das keine sichtbaren Konsequenzen für die Täter*innen hätte, aber die Opfer stigmatisierte, wird kaum genutzt werden.

Antisemit*innen fühlen sich heute ausgesprochen sicher. Briefe und Mails, die sie versenden, sind heute nicht mehr anonym, sie enthalten oft den vollen Namen, die volle Anschrift und die Telefonnummer. Antisemit*innen sind identifizierbar und wollen es offensichtlich auch sein. Sie profitieren davon, dass ihre Äußerungen viel zu oft als „Meinungsfreiheit“ deklariert und bagatellisiert werden. Sie haben den Eindruck, dass Vieles, das sie denken, sagen und tun, offenbar salonfähig ist. Die in der nordrhein-westfälischen Studie befragten Jüdinnen*Juden wünschen sich daher, dass Beratungsstellen und Meldesystem möglichst in jüdischer Trägerschaft eingerichtet werden, da sie anderenfalls die erforderliche Sensibilität zu vermissen befürchten.

Das Interesse an Auf- und Ausbau eines Meldesystems korreliert mit einer zunehmenden Berichterstattung über Antisemitismus, auch im Zusammenhang mit Debatten über die antisemitische Ausrichtung der AfD als Partei, in Reaktion auf den Mordanschlag auf die Synagoge in Halle an der Saale sowie Berichte über Übergriffe gegen jüdische Restaurants, beispielsweise in Berlin und in Chemnitz, Angriffe auf Menschen, die eine Kippa trugen, wie beispielsweise in Bonn und in Berlin, oder Beleidigungen von jüdischen Schüler*innen, die oft genug daraufhin die Schule wechselten. Diese Entwicklung müsste eigentlich Antisemit*innen zeigen, dass ihr Wirken eben alles andere ist als gesellschaftlich akzeptabel. Doch offenbar bestärkt diese Berichterstattung sie sogar noch in ihren jeweiligen Communities.

Ob die flächendeckende Einrichtung eines Meldesystems antisemitische An- und Übergriffe verhindern könnte, mag man*frau angesichts dieser Ausgangslage bezweifeln. Ein Meldesystem wäre zunächst eine Maßnahme der Sekundärprävention, die ihre Wirkung jedoch erst entfalten könnte, wenn es eine wirksame Primärprävention gäbe und die aufgrund eines gestiegenen Problembewusstseins sicherlich zahlreichen Meldungen auch Konsequenzen hätten. Eine wirksame Primärprävention, zu der auch die fachkundige Begleitung der Einrichtungen gehört, auf die sich die Meldungen beziehen, ließe sich jedoch erst aufbauen, wenn die einschlägigen Forschungsergebnisse zu Genese, Geschichte und Erscheinungsformen von Antisemitismus von der Politik und Verwaltung grundlegend rezipiert und für Bildungs- und Beratungsprozesse verbindlich und verpflichtend genutzt werden. Die Meldungen müssen Konsequenzen haben und diese müssen für alle sichtbar sein, in beide Richtungen, die Sanktionierung und Aufarbeitung des Gemeldeten ebenso wie die Stärkung von Primärprävention.

Wir wissen viel, doch es geschieht wenig

In immer kürzeren Abständen erscheinen bei renommierten Verlagen gut recherchierte Fach-Publikationen zum Thema, die auch eine höhere Resonanz und Verbreitung erfahren als bei solchen Texten sonst üblich. Beispielhaft nenne ich die Ausgabe von „Aus Politik und Zeitgeschichte“ vom 22. Juni 2020, das dazugehörige Online-Dossier der Bundeszentrale für politische Bildung, die neuerliche Studie von Julia Bernstein „Antisemitismus an Schulen in Deutschland – Befunde – Analysen – Handlungsoptionen“ (Weinheim, Beltz Juventa, 2020), das in der 100-Seiten-Reihe von Reclam erschienene Buch von Micha Brumlik, das einen ausgezeichneten Überblick über die Erscheinungsformen, Motivationen und Entwicklungen des Antisemitismus von den „Anfängen“ an vor über 2.000 Jahren bis in die heutige Zeit vermittelt, das ebenfalls 2020 erschienene Buch von Ronen Steinke „Terror gegen Juden“, die Untersuchungen von Monika Schwarz-Friesel, u.a. zur Verbreitung von Antisemitismus im Internet und – gemeinsam mit Jehuda Reinharz – zur „Sprache der Judenfeindschaft im 21. Jahrhundert“ sowie zum „Judenhass im Internet“, oder von Samuel Salzborn, der die Hintergründe der Ignoranz in der Mehrheitsgesellschaft in dem Buch „Kollektive Unschuld“ analysierte sowie gemeinsam mit Alexandra Kurtz über den Antisemitismus in Schule und Hochschulen forschte, ferner die Neuauflagen grundlegender Bücher von Hyam Maccoby oder Walter Laqueur.

Das sind bei Weitem nicht alle Namen, die genannt werden müssten, um ein vollständiges Bild der wissenschaftlichen Forschung zu geben (siehe hierzu u.a. meine Überblicksbeiträge „Immer dieser Hass“ und „Die verfolgte Unschuld“). Einen aktuellen Überblick über die Forschungslage bietet die Leiterin des Zentrums für Antisemitismusforschung der Technischen Universität Berlin, Stefanie Schüler-Springorum, in der zitierten Ausgabe von „Aus Politik und Zeitgeschichte“ (eine ausführlichere Fassung wird im Herbst 2020 im Sammelband „‘Du Jude‘ – Antisemitismus-Studien und ihre pädagogischen Konsequenzen“ erscheinen).

Und wer die Zeit hat, könnte fast jede Woche ein oder zwei Veranstaltungen verschiedener Akteu*innen der historisch-politischen Bildung besuchen, deren Ziel die Fort- oder Weiterbildung unterschiedlicher Personengruppen ist. Die Kultusministerkonferenz arbeitet zurzeit gemeinsam mit dem Zentralrat der Juden an einer Erklärung zum Antisemitismus, auch im Hinblick auf dringend notwendige Reformen der Lehrer*innenbildung. Die geplante Erklärung schließt an die 2016 beschlossene gemeinsame Erklärung zur „Vermittlung jüdischer Geschichte, Religion und Kultur in der Schule“ an.

Skeptischer Verfassungsschutz

Doch wird das, was in der Vergangenheit offenbar nur unzureichend wirkte, diesmal ausreichen? Werden die guten Absichten wirken? Thomas Haldenwang, seit dem unrühmlichen Abgang seines Vorgängers Chef des Verfassungsschutzes, hat im August 2020 im „Lagebild“ des Verfassungsschutzes zum Antisemitismus eben diese Frage gestellt. Er hob in einem Interview mit der Süddeutschen Zeitung hervor, dass wir die verschiedenen Ausformungen des Antisemitismus nicht mehr isoliert betrachten dürften. Er fordert eine „Gesamtbetrachtung“: „Der Antisemitismus ist schon immer eine erstaunliche Gemeinsamkeit von verschiedenen Demokratiefeinden gewesen, mit denen wir es zu tun haben: von Rechtsextremisten, Islamisten, Ausländerextremisten und teils auch von Linksextremisten. Wir haben uns zwar schon früher damit beschäftigt, aber das lange eher isoliert betrachtet. Wer genau hinsieht, kann aber Parallelen erkennen, und auf eine solche Gesamtbetrachtung kommt es an, wenn wir der Bedrohtheit der jüdischen Bürgerinnen und Bürger wirksamer begegnen wollen.“

Der Komparativ „wirksamer“, den es von der Sprachlogik her eigentlich gar nicht geben dürfte, verrät die bisherigen Versäumnisse. Antisemitismus gab es in der Bundesrepublik Deutschland ebenso wie in der Deutschen Demokratischen Republik von Anfang an, mal offen, oft versteckt. Daher sollten wir offen und ausführlich über die Frage debattieren, warum all die beschriebenen Reaktionen eigentlich erst jetzt erfolgen. Und die zweite Frage lautet: Wer oder was verhinderte die angestrebte Wirkung, wer verhinderte ein Verschwinden von Antisemitismus? Die dritte wäre dann die Frage nach einer erfolgreichen und flächendeckend wirkenden Strategie.

Radikalisierungsstufen des Antisemitismus

Für die Definition des Antisemitismus gilt in der Regel die von der Bundesregierung anerkannte Formulierung der International Holocaust Remembrance Alliance (IRHA). Der Verfassungsschutz ergänzt diese Definition in seinem Lagebild 2020: Antisemitismus ist demnach eine „Sammelbezeichnung für alle Einstellungen und Verhaltensweisen, die den als Juden wahrgenommenen Einzelpersonen, Gruppen oder Institutionen aufgrund dieser Zugehörigkeit negative Einstellungen unterstellen.“ 

Der Verfassungsschutz konzentriert sich gemäß Auftrag auf die Hardcore-Antisemit*innen, auf Parteien und Organisationen am rechten und linken Rand mit eindeutig verfassungsfeindlichen Zielen, auch auf entsprechende ausländische Organisationen, die in Deutschland agieren. Er geht davon aus, dass – beispielsweise bezogen auf den islamistisch motivierten Antisemitismus – seine „Fallsammlung nur die ‚Spitze des Eisbergs‘ darstellt“. Der Verfassungsschutz unterscheidet zwischen extremistischen Organisationen, bei denen der Antisemitismus sozusagen zur DNA gehört und denen, die Antisemitismus als antikapitalistischen oder antizionistischen „Kampf“ betreiben. Die zweite Spielart gilt beispielsweise für einige arabische und türkische Organisationen sowie für säkulare linksextremistische Gruppen, die sich u.a. durch ihre Unterstützung für die antiisraelische Kampagne „Boykott, Divestment and Sanctions“ (BDS) hervortun.

Der Verfassungsschutz betont die grundsätzliche Bedeutung des Kampfes gegen Antisemitismus für die Sicherung des freiheitlich-demokratischen Rechtsstaates: „Juden sind bei alldem erklärtermaßen das erste, nicht aber das einzige Ziel: Antisemitismus richtet sich zwar gegen Juden, trifft jedoch stets alle.“ Anders gesagt: Antisemitismus ist ein zentraler Indikator für den Zustand und die Widerstandsfähigkeit des freiheitlich-demokratischen Rechtsstaates. Der Verfassungsschutz differenziert unter dieser Prämisse sechs „Radikalisierungsstufen“: „latente Einstellungen“, „verbalisierte Diffamierungen“, „politische Forderungen“, „diskriminierende Praktiken“, „Übergriffe auf Einrichtungen und Personen“, „systematische Vernichtung, Mord“.

Diese vom Lagebild des Verfassungsschutzes beschriebenen Stufen sollten sehr ernst genommen werden. Aus einzelnen Äußerungen wird schnell ohne Widerspruch Gewöhnung, aus Gewöhnung wird schnell die Annahme, alles und jedes sei erlaubt, auch Gewalt. Nicht nur jüdische Schüler*innen, auch jüdische Lehrkräfte erleben, als Jüdinnen*Juden angegriffen zu werden, sie berichten von Angriffen, deren Ziel sie wurden und von „Differenzmarkierung“ im Kreis ihrer Kolleg*innen. Julia Bernstein: „Durch eine Praxis des Wegsehens und des Weghörens bleiben auch sie allein auf sich gestellt (…).“ Viele verheimlichen aus Angst vor solchen Erlebnissen ihre jüdische Identität.

Gemäß seiner Zuständigkeit sind vor allem „politische Forderungen“ Gegenstand der Beobachtung und Analyse durch den Verfassungsschutz, „Übergriffe“, „systematische Vernichtung, Mord“ sind Gegenstand der Aufgabe von Polizei und Justiz, die drei verbleibenden Punkte gehören zu den Aufgaben aller Einrichtungen und sollten von allen Bürger*innen aufmerksam beobachtet werden. Doch gerade hier zeigen sich die Probleme, Antisemitismus in all seinen Erscheinungsformen zu erkennen, zu verfolgen und zu ahnden. Das hat mit fehlendem Wissen zu tun sowie mit bewusster Ignoranz.

Die Stimmung in den jüdischen Gemeinden

Alarmierend ist die Stimmung in den jüdischen Gemeinden. Immer mehr Jüdinnen*Juden fürchten, nach Israel auswandern und Deutschland verlassen zu müssen, weil möglicherweise bald eine antisemitisch orientierte Partei nicht nur im Parlament, sondern auch in der Regierung säße. In Frankreich hat schon etwa ein Drittel der dortigen Jüdinnen*Juden das Land verlassen. Michael Brenner schreibt in seinem die zitierte Ausgabe von „Aus Politik und Zeitgeschichte“ einleitenden Essay: „Die Zuversicht ist heute einer Skepsis gewichen, der selbst eingefleischte Optimisten wie ich wenig entgegensetzen können. Vielleicht haben wir uns ja all diese Jahre nur etwas vorgemacht, so sagte meine 95-jährige Mutter nach dem Anschlag auf die Synagoge von Halle an der Saale und den Wahlerfolgen der AfD in ihrer sächsischen Heimat und in anderen Bundesländern.“ 

Die Option einer Auswanderung nach Israel, die Alija, wird in den jüdischen Gemeinden offen diskutiert. Israel ist – gerade bei einer weiteren Verschärfung der Lage – seit der Staatsgründung im Jahr 1948 eine Art Lebensversicherung für Jüdinnen*Juden in aller Welt. Jüdinnen*Juden wissen, dass 1938 in Evian sich nur ein Staat, die Dominikanische Republik, damals bereiterklärte, in Deutschland verfolgte Jüdinnen*Juden aufzunehmen. Noch einmal Michael Brenner: „Sowohl Michel Friedman wie auch der Präsident des Zentralrats der Juden in Deutschland, Josef Schuster, haben in Interviews den Eintritt der AfD in eine Koalitionsregierung als einen solchen Marker genannt.“ Der langjährige Verwaltungsdirektor der Jüdischen Gemeinde Düsseldorf, die drittgrößte Gemeinde in Deutschland, Michael Szentei-Heise, zeigte sich in einem Beitrag in der Jüdischen Allgemeinen und in einem Gespräch mit mir davon überzeugt, dass der Fall einer Regierungsbeteiligung der AfD spätestens 2025, nach der übernächsten Wahl des Deutschen Bundestages, eintrete.

40 % der in der oben genannten nordrhein-westfälischen Studie befragten Jüdinnen*Juden berichteten von Bekannten, die bereits ausgewandert seien oder darüber nachdächten, dieses bald zu tun. Ein weiteres Alarmsignal: von den Schüler*innen, die unter antisemitischen Beleidigungen, An- und Übergriffen leiden mussten, haben viele die Schule gewechselt. Erschreckendes Ergebnis: „Dass ein aktives Eingreifen Außenstehender in der Regel nicht zu erwarten ist, führt dazu, dass fast ein Drittel von einem Gefühl individueller Isoliertheit in Zusammenhang mit antisemitischen Vorfällen spricht.“ 50 % der befragten Jüdinnen*Juden sagen, An- und Übergriffe würden „bagatellisiert“. Viele ziehen sich zurück und vermeiden es, in irgendeiner Form ihre jüdische Identität zu offenbaren oder auch nur anzudeuten.

Über das Ausmaß des Antisemitismus gibt es trotz all dieser Entwicklungen leider (noch) keinen Konsens. Es gibt erhebliche Abweichungen in der Einschätzung der antisemitischen Bedrohung in Deutschland zwischen jüdischen Bürger*innen auf der einen Seite und nicht jüdischen Bürger*innen auf der anderen Seite. Im Jahr 2013 ermittelte die Bertelsmann-Stiftung, dass 77 % der Deutschen der Meinung wären, es gäbe so gut wie keinen Antisemitismus, während 76 % der Jüdinnen*Juden den Antisemitismus als großes oder sehr großes Problem bezeichneten. Julia Bernstein weist darauf hin, dass die Mitte-Studien aus Leipzig und Bielefeld in den Folgejahren Werte von bis zu 90 % aufweisen.

Die Kontinuität von Antisemitismus in Deutschland belegen Zahlen der Anti-Defamation League. 2015 „stimmten 30 % der Aussage ‚Menschen hassen Juden, weil Juden sich in einer bestimmten Weise benehmen‘, also der wahnhaften Rationalisierung des Antisemitismus zu (…). 51 % stimmten der Aussage, Juden reden immer noch so viel über das, was ihnen im Holocaust angetan wurde‘, zu“. Von Jahr zu Jahr variieren solche Zahlen, sodass es interessant wäre zu verfolgen, welche jeweiligen Ereignisse dazu beitragen, dass antisemitische Aussagen mal mehr mal weniger geteilt werden.

Aus diesen Zahlen ergibt sich, dass – so Julia Bernstein – eben nicht nur die Frage nach der gesellschaftlichen Verbreitung von Antisemitismus gestellt werden muss, sondern auch die Frage nach „Wahrnehmung und Deutung in der Öffentlichkeit“. Ihre Studie dokumentiert eine Vielzahl von antisemitischen Geschehnissen, Äußerungen und Übergriffen, die, wenn sie ohne Datum und isoliert veröffentlicht würden, von vielen Leser*innen voraussichtlich in längst vergangene Zeiten datiert würden. Erschreckend ist eben nicht nur die Aktualität, sondern auch die verbreitete Neigung, Antisemitismus zu leugnen, zu bagatellisieren oder sogar nur einer zu hohen „Empfindlichkeit“ der Betroffenen zuzuschreiben.

Die Diversität jüdischen Lebens – weitgehend unsichtbar

Der Grad der Verunsicherung in den jüdischen Gemeinden lässt sich auch daraus ablesen, dass es in der jüdischen Community eine Debatte gibt, ob es ausreiche und sinnvoll wäre, sich aus der Opferrolle heraus zu positionieren. Diese Frage spielte auch in Debatten um die gemeinsame Erklärung von KMK und Zentralrat der Juden im Jahr 2016 sowie um die Ausgestaltung des 2021 anstehenden 1.700jährigen Jubiläums jüdischen Lebens in Deutschland eine Rolle. Kaum jemand weiß etwas über alltägliches jüdisches Leben. Öffentliches Interesse entsteht offenbar immer erst dann, wenn jemand angegriffen oder sogar ermordet wurde. In den Schulen ist die Shoah Thema, jüdisches Leben vor 1933 und nach 1945 spielt so gut wie keine Rolle. Es besteht schließlich – so die nordrhein-westfälische Studie – die „Gefahr einer Reduzierung des Judentums in Deutschland auf das Thema Antisemitismus, da die Berichterstattung über jüdisches Leben nur im Kontext antisemitischer Vorfälle erfolge.“

Lea Wohl von Haselberg, eine der Herausgeber*innen der Zeitschrift „Jalta – Positionen zur jüdischen Gegenwart“ spricht in ihrem Essay „Jüdische Sichtbarkeit und Diversität“ (ebenfalls in „Aus Politik und Zeitgeschichte“ veröffentlicht) von „Rollenzuschreibungen und Lebenswirklichkeiten“, die nicht unbedingt übereinstimmen müssen. Auf der einen Seite wird „vielfach nicht der Antisemitismus als Gewalt verhandelt (…), sondern der Antisemitismusvorwurf. Auf diesen folgt häufig die Frage, ob er gerechtfertigt sei und erst an zweiter Stelle, wen die antisemitische Aussage trifft und was sie mit ihm oder ihr macht.“ Jüdinnen*Juden wird dabei „bis heute oft ein Expertinnen- und Expertenwissen abgesprochen (…), weil ihre Perspektive auf Antisemitismus zu subjektiv scheint. Als anschauliches Beispiel hierfür kann die Konstituierung des zweiten Unabhängigen Expertenkreises Antisemitismus Anfang 2015 gelten, für den zunächst kein einziges jüdisches Mitglied berufen wurde.“

Lea Wohl von Haselberg fordert ebenso wie ihre Kollegin Hannah Peaceman (in: „Einigkeit um jeden Preis? Ein Plädoyer für mehr Machloket, in: Walter Homolka / Jonas Febert / Jo Frank (Hg,): „Weil ich hier leben will“ – Jüdische Stimmen zur Zukunft Deutschlands und Europas, Freiburg im Breisgau 2018), die unterschiedlichen Sichtweisen und Positionen in der jüdischen Community deutlicher an- und auszusprechen. Wenn Jüdinnen*Juden sich ausschließlich in der Opfer-Rolle sähen, bestätigten sie geradezu das „Othering“ durch Antisemit*innen. Sie verhielten sich dann als die „Anderen“, die sie nicht sind. Nicht sichtbar wären ihre vielen Identitäten, die sie mit der Mehrheitsgesellschaft teilen, als deutsche Staatsbürger*innen, in ihren Berufen, im ehrenamtlichen Engagement in der Zivilgesellschaft, mit ihren politischen Einstellungen. „In einer Gesellschaft, in der Jüdinnen und Juden vielstimmig, divers und auch widersprüchlich erlebt werden (können), kann auch Antisemitismus anders verhandelt werden als in einer Gesellschaft, in der sie vor allem als eine symbolisch überhöhte Mini-Minorität gesehen werden.“

Mit der Sichtbarkeit einer solchen „Diversität“ – das ist die Hoffnung – ergäbe sich eine weitere Perspektive, die über „die Wirkung in der deutschen Mehrheitsgesellschaft“ hinausginge und die sich „auf die Suche nach Allianzen in der diversen postmigrantischen Gesellschaft“ begäbe. Ob so Antisemitismus verschwindet, wage ich zu bezweifeln, zumal es in manchen Communities der „diversen postmigrantischen Gesellschaft“ wiederum eigene Ausdrucksformen von Antisemitismus gibt, die solche „Allianzen“ verhindern dürften.

Underreporting

Julia Bernstein: „Trotz des Wissens über die Geschichte der Judenverfolgung ändern sich die Judenbilder in Vorurteilen nicht, auch wenn sie sich durch Fakten oder Common Sense widerlegen lassen.“ Eine Schlüsselrolle spielt die Schule: „Die Schule ist ein gesellschaftlicher Mikrokosmos, d.h. eine soziale, kulturelle und politische Zelle des Gesamtorganismus Gesellschaft. (…) Dies gilt auch, und ganz besonders, für Antisemitismus, der sich in den Wahrnehmungs-, Denk- und Handlungsweisen von Schüler*innen und Lehrer*innen abbildet und damit Bestandteil des Schulalltags wird. (…) Wenn die Schule dabei versagt, wenn man sich dort an die antisemitischen Äußerungen und ihre stillschweigende Duldung gewöhnt, kommt das einer Art Weichenstellung für die Gesellschaft gleich.“

Erschreckend ist in der Tat das offizielle „Lagebild“ in Schulen, nicht nur wegen der Zahl der genannten Vorfälle, die wir nicht kennen, sondern auch wegen der offensichtlichen Ignoranz der verantwortlichen Stellen. Die nordrhein-westfälischen oberen Schulaufsichtsbehörden berichteten laut der NRW-Studie von sechs Vorfällen, eine Zahl, die allen Forschungsergebnissen und allen Erfahrungen in jüdischen Gemeinden eklatant widerspricht.

Die Ignoranz in Schulen und Schulaufsicht – so erlaube ich mir das zu nennen – findet sich leider auch im Handeln der Polizei. Kritisch vermerkt wird von den in der Studie der NRW-Antisemitismusbeauftragten befragten Mitgliedern der jüdischen Gemeinden, dass die Polizei selbst bei aggressivem Auftreten von Pro-Hamas-Aktivist*innen nicht eingreife und somit nicht schütze. Sie vermuten im Vergleich zu dem in amtlichen polizeilichen Statistiken veröffentlichten „Hellfeld“ ein hohes „Dunkelfeld“, „Underreporting“, in hohem Maße. Eine Studie des LKA Niedersachsen geht davon aus, dass die Zahl der antisemitischen Vorfälle acht bis neun Mal so hoch sein müsste wie gemeldet.

Die Mitte-Studien aus Bielefeld und Leipzig haben schon seit längerer Zeit immer wieder festgestellt, dass eine beträchtliche Zahl der Befragten – je nach Frage zwischen 10 und 50 % – antisemitische Positionen vertreten oder zumindest teilweise teilen. Es gibt zahlreiche sozialwissenschaftliche, psychologische und kriminologische Untersuchungen, die die Gefahr deutlich benennen. Wie gesagt: nicht erst seit gestern oder vorgestern.

Neu ist lediglich, dass es im Deutschen Bundestag, in allen Landtagen und in vielen kommunalen Räten seit etwa Mitte der 2010er Jahre eine Partei gibt, die viele Mitglieder und Mandatsträger*innen in ihren Reihen weiß, die sich offen antisemitisch äußern, auch wenn manche erklären, sie könnten gar nicht antisemitisch sein, weil sie Israel gegen die muslimischen Länder unterstützten, obwohl sie sich gleichzeitig mit Anträgen und Vorschlägen hervortun, Mittel für Demokratieprojekte, darunter eben auch Projekte und Infrastrukturen gegen Antisemitismus und zur Ausstattung von Gedenkstätten zu streichen.

Stefanie Schüler-Springorum zitiert Abraham Lehrer, stellvertretender Vorsitzender des Zentralrats der Juden in Deutschland. Er „wies bereits 2018 darauf hin, dass vielleicht zu lange immer nur auf die zehn Prozent ‚echten‘ Antisemitinnen und Antisemiten gestarrt und sich angesichts ihrer gleichbleibend verhältnismäßig kleinen Zahl in Sicherheit gewiegt wurde, anstatt sich mehr um die bis zu 20 Prozent Gelegenheitsantisemiten zu kümmern.“

Diese von Abraham Lehrer genannte Zahl von 20 Prozent dürfte heute vor allem angesichts der erschreckenden Popularität des israelbezogenen Antisemitismus zu niedrig angesetzt worden sein, aber es bleibt dabei, dass wir uns nicht nur um das „Hellfeld“, sondern zunehmend um das „Dunkelfeld“ des Antisemitismus kümmern müssen, ein Feld mit vielen Parzellen, die nicht von den Statistiken der Strafverfolgungsbehörden und den Beobachtungen des Verfassungsschutzes erfasst werden.

„Überraschende“ Fehlleistungen

„Wo beginnt antisemitische Diskriminierung, wann müssen Lehrer*innen einschreiten?“ Die Antwort lautet, nicht erst, „wo sich der Antisemitismus gewaltförmig in Angriffen auf jüdische Schüler*innen manifestiert – also dann, wenn es längst zu spät ist.“ Das gilt selbstverständlich ebenso für alle anderen gesellschaftlichen Lebensbereiche und nicht zuletzt für die Politik, die engagierte öffentliche und zivilgesellschaftliche Institutionen und Organisationen nicht erst dann finanziell unterstützen sollte, wenn es sich längst nicht mehr um „Anfänge“ handelt.

Julia Bernstein schreibt, es habe „sich aus den Schilderungen der Erfahrungen der Betroffenen rekonstruieren lassen, dass Lehrer*innen auch selbst zum antisemitischen Klima an Schulen beitragen.“ Sie leitet diese Feststellung mit dem Wort „überraschenderweise“ ein. Ob sie dieses Ergebnis ihrer Forschung tatsächlich so sehr überrascht hat, vermag ich nicht zu beurteilen, mich überrascht es angesichts des Kenntnisstandes bei Lehrkräften, der sich angesichts der Defizite in der Lehrerbildung nicht wesentlich vom Kenntnisstand in der Bevölkerung unterscheiden dürfte, nicht. Julia Bernstein ist auch davon überrascht, „wie häufig Hakenkreuze und der Hitlergruß in unterschiedlichen Variationen unter Schüler*innen verwendet und von vielen Lehrkräften banalisiert werden.“

Auch dies überrascht mich nicht unbedingt, schon aufgrund meiner Erfahrungen aus der eigenen Schulzeit in den Jahren 1961 bis 1973. Ebenso erlebte ich als Student einige Merkwürdigkeiten. Ein RCDS-Kandidat für das „Studentenparlament“ (das hieß damals noch nicht „Studierendenparlament“) schrieb seinen Namen auf ein Plakat mit der Aufforderung: „ins SP“. Die beiden Buchstaben in der Mitte schrieb er wie SS-Runen. Glücklicherweise hängten seine eigenen Kolleg*innen diese Plakate wieder ab. Gewählt wurde er nicht. Unappetitliche Witze über Jüdinnen*Juden, die auch im „Stürmer“ hätten gedruckt werden können, falls sie nicht ohnehin daher stammten, wurden während meiner Studierendenzeit nicht nur von sehr weit rechts orientierten Kommilitonen* (nach meiner Erinnerung ausschließlich von Männern*) nach einigen Gläsern Bier freimütig zum Schlechtesten gegeben. Bert Brecht hatte schon recht, als er sagte: „Der Schoß ist fruchtbar noch, aus dem das kroch.“

Ich wage die These, dass unsere „Überraschung“ viel damit zu tun hat, dass wir endlich hinschauen und merken, was hier schon sehr lange Zeit ignoriert worden ist, was schon lange Jahre gärte. Weder in der Bundesrepublik Deutschland noch in der Deutschen Demokratischen Republik wurden antisemitische Vorfälle ernst genommen. Und wenn es sie gab, wurden sie in Westdeutschland schnell wieder vergessen oder in der DDR dem „feindlichen Ausland“ in die Schuhe geschoben. Antisemitismus – das war Geschichte vor 1945. Wie Samuel Salzborn schrieb: „Kollektive Unschuld“, in Ost und West.

Vieles, was junge Menschen an merk- und denkwürdigen Verhaltensweisen an den Tag legen, wurde einmal in den 1980er Jahren von Katharina Rutschky als „jugendliches Irre-Sein“ charakterisiert (ich muss aus dem Gedächtnis zitieren, vermutete, dass sie dies in einer Ausgabe des „Merkur“ geschrieben hatte, doch konnte ich den Text in meiner privaten Sammlung dieser Zeitschrift nicht mehr finden). Manches mag in der Tat unüberlegt provokativ erscheinen, doch wäre es falsch, solche Äußerungen oder Verhaltensweisen auf diese Art und Weise zu verharmlosen. Es wächst sich mit zunehmendem Alter eben nicht alles aus, was Jugendliche an Unfug verlauten lassen.

Notorisch sind die Sprachbilder, die im Alltag von vielen Menschen benutzt werden. Julia Bernstein nennt „bis zur Vergasung“, „Sonderbehandlung“, „Jedem das Seine“, die Werbung eines Hamburger Optikers mit „Six Million Glasses“ oder auch Schlagzeilen wie „#Automafia vergast jedes Jahr 10.000 Unschuldige“. Sie zitiert den „inneren Reichsparteitag“ einer Sportmoderatorin und die Ankündigung eines Reitsportkommentators, es werde jetzt von deutscher Seite „zurückgeritten“. Ein Werbeplakat der Berlitz-School zeigt einen Juden, dessen Aussehen einer Karikatur des „Stürmer“ entsprungen sein könnte, verbunden mit dem Spruch: „Enjoy your life in full trains“.

Ich muss berichten, dass es mir in einer Arbeitstagung im Jahr 2016 nicht gelungen ist, einen in einer obersten Landesbehörde für Geflüchtete zuständigen Abteilungsleiter davon abzubringen, ständig das Wort „Sonderbehandlung“ zu verwenden. Das alles sind keine Einzelfälle. Umso verwunderlicher ist die offenbar über Sonntagsreden verbreitete gesellschaftliche Erwartung, dass junge Leute sich der Verwendung solcher und anderer Begriffe und Invektiven enthalten sollten, wenn Erwachsene sie aussprechen und niemand sie problematisiert.

Julia Bernstein belegt, wie die verschiedenen Erscheinungsformen des Antisemitismus ineinander übergehen, sich gegenseitig verstärken und sich letztlich in Richtung der vom Verfassungsschutz an sechster und letzter Stelle genannten „Radikalisierungsstufe“ entwickeln oder – wie man*frau wohl leider sagen muss – vollenden: „Keine Diskriminierung, und auch nicht Antisemitismus, fängt mit Hass an, sondern mit negativbehafteten Kategorien, Pauschalisierungen, Stereotypen, Vorurteilen, Skepsis und Vorsicht, Ignoranz, emotionaler Abneigung, einer unterschwelligen Abwertung oder einer unreflektierten Nutzung alltagssprachlicher Schmähungen. Im Antisemitismus verdichten sich alle diese unterschwelligen Elemente mitunter zu einer Weltanschauung, sie werden durch eine emotionale oder ideologische Fundierung zusammengehalten. Im Gegensatz zu anderen Diskriminierungsformen zielt der Antisemitismus auf Vernichtung, er basiert auf der grundlegenden, in ihrer Einfachheit erschreckenden Idee, dass ‚die Welt ohne Juden schöner wäre‘.“ Das ist nicht so einfach daher gesagt, denn im Alltag, nicht nur in den Schulen, erleben Jüdinnen*Juden immer wieder, dass jemand sie „ins Gas schicken“ will oder anmerkt, man habe wohl „vergessen ihn*sie zu vergasen“. Julia Bernstein dokumentiert eine ganze Reihe solcher Angriffe.

Ein Hoffnungsschimmer?

Man*frau könnte sich fragen, was schlimmer ist, der Angriff selbst oder die verharmlosende Nicht-Reaktion der Zuschauer*innen und Zuhörer*innen? Meine Antwort: Beides befeuert sich gegenseitig. Ein erstes Etappenziel wirksamer Primärprävention wäre meines Erachtens darin zu sehen, Verantwortliche wie Lehrer*innen, Polizist*innen, Journalist*innen und viele andere mehr zu sensibilisieren und zu befähigen, die bequeme Rolle der gelegentlich empörungsbereiten, alles in allem jedoch desinteressierten Zuschauer*innen und Zuhörer*innen zu verlassen und einzugreifen. Das sollten sie in ihrer Ausbildung lernen und in Fort- und Weiterbildung ständig aktualisieren und weiterentwickeln können. Sie brauchen auch Supervision, denn es wird einige Zeit dauern, bis es selbstverständliche berufliche Praxis ist, Antisemitismus nicht nur zu erkennen, sondern auch die Konsequenzen zu ziehen. Die Benennung von Antisemitismusbeauftragten ist vielleicht ein erster Schritt auf dem Weg zu diesem Etappenziel, ein Hoffnungsschimmer, die Einrichtung von Meldestellen ein zweiter, nicht mehr und nicht weniger.

Norbert Reichel, Bonn

(Anmerkungen: Erstveröffentlichung im September 2020, Internetlinks wurden am 18. September 2022 auf Richtigkeit überprüft.)