Vielfalt und Respekt

Eine Sache, die so einfach, doch schwer zu machen ist 

„In der Praxis unserer politischen Haltung glauben wir nicht, dass der Zweck immer die Mittel heiligt. Viel reaktionäres und destruktives Verhalten wurde im Namen von ‚korrekten‘ politischen Zielen verteidigt. (…) Wir glauben an einen kollektiven Prozess und flache Hierarchien innerhalb unserer eigenen Gruppe und auch in unserer Vision einer revolutionären Gesellschaft. Es ist uns wichtig, unsere politische Haltung kontinuierlich zu überprüfen und durch Kritik und Selbstkritik zu einem wesentlichen Aspekt unserer Praxis zu entwickeln. (…) Wir sind bereit für die lebenslange Arbeit und den Kampf, die uns bevorstehen.“ (Combahee River Collective 1977)

Unser freiheitlich-demokratischer Rechtsstaat ist das Ergebnis verschiedener Revolutionen nicht nur in der europäischen Geschichte. In Deutschland seien die Jahre 1848, 1918, 1945 und 1989 genannt, auch wenn die mit diesen Jahreszahlen verbundenen Ereignisse nicht immer mit dem Namen einer „Revolution“ verbinden, zumal die Deutschen 1918 und 1945 erst selbst verschuldete Zusammenbrüche erleben und vor allem 1945 erst befreit (Richard von Weizsäcker) werden mussten, um sich die Werte einer freiheitlichen Demokratie zu erarbeiten. Revolutionär waren die Ereignisse für die meisten Deutschen daher in jedem Fall. Stets ging es darum, in Deutschland die Werte einer freiheitlichen Demokratie zu proklamieren und durchzusetzen.

Mehrheitsprinzip und Minderheitenschutz

Eine freiheitliche Demokratie kann ihre eigenen Voraussetzungen selbst nicht garantieren (Ernst-Wolfgang Böckenförde). Ihre rechtsstaatliche Verfassung soll und kann jedoch dafür sorgen, dass diese Voraussetzungen so erfolgreich wie möglich gelebt und durchgesetzt werden können. Dazu gehört, dass Bürger*innen sich aktiv an der Ausgestaltung dieses freiheitlich-demokratischen Rechtsstaats beteiligen und sich ohne Angst vor Ausschluss, Diskriminierung oder jeglicher Form von An- und Übergriffen frei in der Öffentlichkeit bewegen können.

Mehrheitsprinzip und Minderheitenschutz sind im freiheitlich-demokratischen Rechtsstaat untrennbar miteinander verbunden. Der freiheitlich-demokratische Rechtsstaat hat somit einerseits eine Schutzfunktion gegenüber seinen Bürger*innen, ist andererseits jedoch offen für seine Weiterentwicklung im Hinblick auf allgemeine gesellschaftliche und von den Bürger*innen als Zivilgesellschaft formulierte Bedarfe und Bedürfnisse.

Grundlage für den Schutz von Minderheiten sowie jeder*jedes Einzelnen in ihren*seinen individuellen Voraussetzungen ist gelebte Inklusion im erweiterten Verständnis der im Juni 1994 auf Einladung der UNESCO von 92 Regierungen und 25 Nicht-Regierungs-Organisationen beschlossenen „Salamanca-Erklärung“ und des mit dieser Erklärung verbundenen „Aktionsrahmens zur Pädagogik besonderer Bedürfnisse“. Zu bekämpfen und zu überwinden ist jede Form von Exklusion.

VerAnderung und Trilemma der Inklusion

Ein in Wissenschaft und Politik häufig verwendeter Begriff zur Beschreibung des Phänomens der Exklusion ist der Begriff der „gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit“ (Wilhelm Heitmeyer). Alternativ verwendet wird auch der Begriff der „pauschalisierten Ablehnungskonstruktion“ (Kurt Möller), beispielsweise im 16. Kinder- und Jugendbericht. Die Intensität der Praxis von Exklusion lässt sich durch den Begriff der „Gruppenleidenschaften“ erfassen (Arnold Zweig). Die mit diesem Begriff angedeutete Emotionalität erschwert oft genug den Kampf gegen Exklusion und behindert das Streben nach Inklusion.

Exklusion erfasst alle Formen von Ausgrenzung, Diskriminierung, Mobbing, von verbalen sowie körperlichen An- und Übergriffen auf andere Menschen wegen ihres Geschlechts oder ihrer geschlechtlichen Identität, bestimmter körperlicher Merkmale (z.B. Ableism, Colorism, Bodyismus) oder Verhaltensweisen, des Alters, der Herkunft, der Religion, der Sprache (Linguizismus), der Zugehörigkeit zu einer in der Gesellschaft als Minderheit gelesenen Gruppe (u.a. Antisemitismus, Antiziganismus, Rassismus) oder aufgrund ihres sozialen Status (Klassismus). Oft interagieren verschiedene Formen der Exklusion und verstärken sich „intersektional“ gegenseitig (Kimberlé Crenshaw). Immer wieder dominiert „Binarität“ das Gegeneinander von einer sich als „Wir“ beziehungsweise als „normal“ definierenden Gruppe im Gegensatz zu einer von dieser als „die Anderen“ gelesenen und bezeichneten Gruppe (Stuart Hall).

Menschen erleben Exklusion als Individuen und als Gruppen als „VerAnderung“ (Julia Reuters deutsche Übersetzung des Begriffs des „Othering“). Der Versuch zur Klärung von Gemeinsamkeiten verschiedener Erscheinungsformen von Exklusion verdrängt mitunter deren jeweilige Spezifika, so, wie der ausschließliche Blick auf die Spezifika möglicherweise ein Verständnis für Gemeinsamkeiten erschwert. So gibt es beispielsweise rassistische Begründungen und Herleitungen des Antisemitismus, doch ist Antisemitismus nicht mit Rassismus identisch, sondern geht weit darüber hinaus.

Menschen erleben Exklusion im „Trilemma der Inklusion“ (Mai-Anh Boger): Jeder Mensch will einerseits in seiner*ihrer spezifischen Existenz als Frau, als Jüdin*Jude, als Sinti*zze und Rom*nja, als Schwarze*r, als Behinderte*r gesehen, benannt und anerkannt werden (Emanzipation), andererseits will jede*r als Mensch in der eigenen Individualität und eben nicht als Andere*r wahrgenommen werden (Dekonstruktion der Binarität), darüber hinaus will niemand aufgrund seiner*ihrer jeweiligen spezifischen Situation benachteiligt werden (Empowerment). Das Problem besteht darin, dass wir, wenn wir uns auf zwei dieser Perspektiven konzentrieren, die dritte ausschließen und somit stets gefordert sind, ein möglichst vollständiges Bild von Inklusion und Exklusion in der individuellen wie gesellschaftlichen Praxis zu rekonstruieren.

Interaktion zwischen Mehrheiten und Minderheiten

Die Bewertung, Einordnung und Bekämpfung der verschiedenen Formen der Exklusion wird dadurch erschwert, dass nicht immer eindeutig erkennbar ist, ob und mit welchen Motiven ein Mensch einen anderen angreift, mobbt oder diskriminiert und welche Vorteile er*sie sich davon verspricht. Zu reflektieren ist stets das Verhältnis zwischen Mehrheitsgesellschaft und Minderheiten, im Hinblick auf die Mehrheitsgesellschaft als Dominanzgesellschaft (Birgit Rommelspacher). Zu beachten sind auch Dominanzstrukturen innerhalb von unter Diskriminierung leidenden Gruppen, beispielsweise zwischen weißen und Schwarzen Frauen, Schwarzen Männern und Schwarzen Frauen, türkei- und kurdischstämmigen Menschen oder zwischen Geflüchteten aus unterschiedlichen Communities, wenn sie beispielsweise in einer gemeinsamen Einrichtung untergebracht sind. Es geht letztlich um die verschiedenen Erscheinungsformen von Machtmissbrauch zwischen Gleichgestellten und in Hierarchien.

Kritisch ist in diesem Kontext die Frage nach möglichen und zu schaffenden Allianzen und Netzwerken von Mehrheitsgesellschaft und Minderheiten beziehungsweise – unabhängig von der Größe – von verschiedenen Teilen der Zivilgesellschaft. Inzwischen gibt es öffentliche Debatten, wer für wen sprechen kann und darf “ und wer mit wem Allianzen eingehen könnte und sollte beziehungsweise nicht eingehen sollte. Es droht eine Zersplitterung in Opfer- und in Identitätsdebatten verstrickte Interessengruppen, die den Zusammenhalt der Gesellschaft gefährdet. Dies lässt sich beispielsweise in Debatten um „Cancel Culture“ oder „Cultural Appropriation“ feststellen. Letztlich geht es darum, dass jede*r mit jeder*jedem über Vielfalt und Respekt, Diskriminierung und Abwertung in jeweiligem Respekt voreinander und in Anerkennung der Vielfalt in unserer Gesellschaft ins Gespräch treten kann. Nur so entstehen und wirken Allianzen im freiheitlich-demokratischen Rechtsstaat erfolgreich.

Norbert Reichel, Bonn

(Anmerkungen: Erstveröffentlichung im September 2021, Internetzugriffe zuletzt am 5. September 2021. Der Text entstand in einer von der Mitgliederversammlung des Instituts für soziale Arbeit e.V. (ISA) eingesetzten Arbeitsgruppe, die ich leiten durfte. Ziel war die Erarbeitung einer Handlungsleitlinie zur Gewährleistung von Vielfalt und Respekt im ISA sowie in den vom ISA betreuten Projekten. Es ging um einen Beitrag zu einer im weitesten Sinne inklusiven Organisations- und Personalentwicklung. Ich danke allen an der Arbeitsgruppe Beteiligten für ihre Ideen: Klaus Amoneit, Christiane Bainski, Helena Baldina, Laura Förste, Friedhelm Güthoff, Ilona Heuchel, Dr. Jörg Kohlscheen, Philipp Oettler, Ayse-Nur Öztürk, Sarah Spannruft, Malte Vossiek und Nils Winkler. Ohne ihre Mitwirkung wäre der Text in dieser komprimierten Form nicht entstanden.)