Von Füchsen und Schweinen

Scheinkonkurrenzen und voreilige Schlussfolgerungen

Die Canal Islands liegen im Meer vor der Küste von Los Angeles. Wir denken dabei gerne an den Pazifik, an Sonne und Palmen und ein schönes Leben. Aber die Canal Islands sind eine unwirtliche Gegend. Raues Klima. Karge Böden. Die Menschen, die dort versucht haben, als Bauern zu leben, haben in den 1930er oder 1940er Jahren aufgegeben und sind zurück aufs Festland gezogen. Seither sind Menschen dort nur noch selten zu Besuch.

Foto Fuchs: CC by 4.0 flickr.com/photos/tengen/ (https://creativecommons.org/licenses/by/4.0/deed.de)

Wer die Insel öfter besuchte, stellte nach einigen Jahren eine Veränderung. Die von den Bauern zurückgelassenen Hausschweine waren verwildert und vermehrten sich sehr. Der kleine Inselfuchs, ein netter Kerl, der immer schon auf der Insel – und nur dort – gelebt hatte, kam immer seltener vor. Die Vermutung: Die Schweine nehmen ihm Futter und Lebensraum weg. Es entbrannte ein heftiger Kampf zwischen Tierschützer*innen, die die Ureinwohner der Inseln, also den Fuchs, schützen wollten, und denen, die bereit waren, die Veränderungen zu akzeptieren und auch die Schweine als Teil des Ökosystems zu betrachten. Wie erbittert dieser Kampf geführt wurde, beschreibt T.C. Boyle in seinem Roman “When the Killing is Done” (2011, deutscher Titel: „Wenn das Schlachten vorbei ist“).

Der Kampf erinnert an das, was uns aktuell immer wieder in der Bildung begegnet. Das Digitale verdrängt das Analoge. Es drängt in die Bildungseinrichtungen und lässt dem Altbewährten keinen Platz mehr. Und auch hier finden sich für beide Positionen Fürsprecher, Verteidiger. Diejenigen, die vor dem schädlichen Einfluss des Neuen warnen und diejenigen, die den schleunigst notwendigen und unumstößlichen Wandel predigen. Immer wieder lesen wir vom “Ende der Kreidezeit”, der verbreiteten Metapher für die Verdrängungen einer durch analoge Medien geprägten Organisation von Bildung durch eine technologiebasierte Gestaltung von Unterricht. Besonders augenfällig wird dies in der aktuellen politischen Debatte um den DigitalPakt. Die Ausstattung von Schulen mit Breitband, WLAN, Beamer und Tablets erscheint als das Heilmittel, um ein als defizitär wahrgenommenes System zu modernisieren.

Ein Blick zurück in den Roman von T.C. Boyle könnte aber helfen, diese Debatte aus einer anderen Perspektive zu betrachten. Der Vergleich von schlauem Fuchs und dummen Schweinen mit analoger oder digitaler Lernkultur ist plakativ und ordnet Sympathien vielleicht vorschnell zu. Die Erkenntnis auf den Canal Islands nach einigem hin und her: Die beiden Gattungen haben kein Problem miteinander, sie könnten friedlich miteinander leben, es gibt genug Raum und Nahrung für beide.

Das Problem – im Roman – ist ein ganz anderes: Es liegt außerhalb der kleinen, abgeschlossenen Welt der Inseln. Das Meer hat sich verändert. Oder besser: Der Mensch hat das Meer verändert. Er hat zu viele Fische gefangen, die Bestände sind dramatisch geschrumpft und die wenigen Fische, die übrig sind, sind krank von den Verunreinigungen aus der Seefahrt und von den Küstenbewohner*innen. Den Inselbewohner*innen, den alten wie den neuen könnte das eigentlich egal sein, hätte es da nicht einen dritten Bewohner gegeben: den stolzen Weißkopfseeadler. Der hatte seine Horste auf der Insel, ernährte sich aber von Fischen. Von denen gab es dann zu wenige und die wenigen, die übrig blieben, machten ihn krank. Er verschwand. Der Luftraum über der Insel war nun unbewohnt – und frei für einen anderen Bewohner: den Steinadler. Der Steinadler geht nicht fischen, er ernährt sich von kleinen Tieren. Mäusen, Ratten, Igeln… und auch von jungen Füchsen und jungen Schweinen. Das Glück der Schweine: Sie werfen mehrfach im Jahr zahlreiche Junge, die schnell wachsen. Wenn da mal ein paar mehr dem Adler zum Opfer fallen, dann ist das eben so. Für den Bestand kein Problem. Anders beim Fuchs, er bekommt nur einmal im Jahr wenige Tiere als Nachwuchs und diese sind lange klein und eine willkommene Beute für den Adler.

Die Veränderungen, die Tierschützer*innen auf der Insel beobachteten, wurden also durch äußere Umstände verursacht, durch einen Dritten, den Adler, der aber auch nur so handelte wie er handelte, weil es einen Vierten gab, den Menschen, der dem Adler seine Nahrungsgrundlage wegfischte. Die vermutete Konkurrenz zwischen Schweinen und Füchsen gab es nicht.

Und nun zurück zur Schule: Kann diese Erkenntnis helfen, die Situation in unseren Schulen mit einer anderen Brille zu betrachten? Dann ist der digitale Unterricht – was immer das sein mag – gar nicht der Gegner des analogen. Aber das interne Gleichgewicht des System ist durcheinander gebracht durch äußere Einflüsse. Die Welt außerhalb der Schule hat sich verändert. Die Methoden, mit denen die Schulen auf diese Welt vorbereiten und reagieren, reichen nicht mehr aus und die Frage,      wie die Lehrenden auf den Umgang mit den Veränderungen vorbereitet und dabei begleitet werden können, ist auch nicht beantwortet.     . Hier endet die Analogie. Aber bis hierher hat sie auch ihren Zweck erfüllt. Denn nun können wir fragen: Was hat sich außerhalb der Schule verändert und wie müsste Schule darauf reagieren?

Hierzu drei Denkanstöße:

  • Die Welt verändert sich schneller als uns bewusst ist, das Wissen, dass wir Kindern und Jugendlichen vermitteln können, ist mit hoher Wahrscheinlichkeit nicht das Wissen, das sie brauchen, um in einigen Jahrzehnten gut zu arbeiten, zu leben, an Gesellschaft teilzuhaben und eine Gesellschaft zu bilden, die gut zusammenleben kann und weiß, wie man mit den angegriffenen Ressourcen unserer Erde schonend umgehen kann und sollte. Lebenslanges Lernen ist eine schöne Formel, aber was heißt dies denn nun konkret? Darüber sollten wir auch in der Schule debattieren.
  • Wir unterstützen unsere Kinder und Jugendlichen nicht hinreichend, die Kompetenzen zu erwerben, die sie brauchen, um auch in einigen Jahrzehnten handlungsfähig zu sein. Gerne bezeichnen wir diese Kompetenzen als die 4K, Kreativität, Kritisches Denken, Kooperation und Kommunikation. Als einzelne Begriffe werden sie oft verkürzt verwendet. So wendet mancher den Begriff des kritischen Denkens gegen die modernen Technologien, die kritisch zu hinterfragen wären. Doch meint der Begriff etwa die Fähigkeiten, Probleme zu identifizieren, Fragen zu formulieren, Informationen zu sammeln, diese zu analysieren, zu kombinieren, auszuwerten und zur Entwicklung von Lösungsvorschlägen für die Ideen zu verwenden, damit durchaus eine Chance, Veränderungen aktiv zu gestalten.

Eine Bemerkung am Rande, die zeigt, dass wir nicht das erste Mal über eine Scheinkonkurrenz in der Schule diskutieren: Die vor einigen Jahren aufgeworfene Forderung nach einer stärkeren Kompetenzorientierung im Unterricht wurde in Deutschland schnell ebenfalls zu einer Konkurrenz, einer Scheinkonkurrenz aufgebauscht: Wissensvermittlung hier, Kompetenzorientierung dort. Verständlich: Denn Wissensvermittlung ist einfacher, vor allem einfacher zu überprüfen. Zudem kann Kompetenzerwerb nicht losgelöst von Wissenserwerb gefördert werden. Die kurze Darstellung zum kritischen Denken macht das alleine schon deutlich.

  • Schule sollte ein Ort sein, in dem erworbenes Wissen und ausgebildete Kompetenzen genutzt werden können, um klare Haltungen und Werte zu entwickeln, jungen Menschen unsere Demokratie nahezubringen. Dieses Ziel zieht sich wie ein roter Faden durch mehrere der neueren KMK-Empfehlungen (kmk.org) Alle Fähigkeiten bleiben rein akademisches Wissen, wenn sie nicht schon in der Schule darauf ausgerichtet werden, das Zusammenleben aller Menschen zu gestalten und die natürlichen Lebensgrundlagen unseres Planeten zu erhalten.

Das Zusammenspiel dieser drei Kernkomponenten guter Bildung könnte der Schlüssel zu einer guten Bildung sein, die auf die Herausforderungen unserer Zeit angemessen reagiert. Digitale Medien sind dabei anzunehmend unverzichtbar, denn die Welt, auf die Schule vorbereitet, ist digital geprägt und die Probleme, die es zu lösen gilt, sind so komplex, dass es nicht nur hervorragender Ausbildung bedarf, sondern auch der besten Werkzeuge. Dass diese Werkzeuge, die Digitalisierung, auch verantwortlich ist, für einen nicht unbedeutenden Teil der zu lösenden Probleme, spricht nicht gegen sie, sondern es zeigt lediglich, dass digitaler Technik nichts Gutes per se innewohnt. Die Art und Weise, wie wir sie nutzen erst, entscheidet über ihren Wert.

Und wenn ein Problem auftaucht, sollte man nicht einfach auf das Nächstliegende verweisen, sondern den Gründen des Problems tiefer auf den Grund gehen. Das gilt eigentlich immer, nicht nur für das Bildungssystem. Das Bild von den Schweinen und den Füchsen lässt sich beliebig übertragen, auf die Migration, die zu einer Abschottung an der EU-Außengrenze führt, genauso wie auf den Klimawandel und die Energiewende, die vermeintlich Arbeitsplätze bedrohen. Und beim um die Ecke denken, hilft es dann auch immer, eine Ecke weiter zu denken. Es ist nicht der Steinadler, der das Leben der Füchse bedroht, sondern der Mensch, der dem Weißkopfseeadler das Leben schwer gemacht hat.

Foto Richard Heinen: CC by 4.0 Katja Anokhina

Richard Heinen, freier Autor und Schulentwickler, Köln.

(Anmerkungen: Erstveröffentlichung im März 2020, Lizenzen: Text: CC by 4.0 Richard Heinen)