Wer sind die Opfer, wer sind die Täter?

Ein Gespräch mit Sandra del Pilar über künstlerische Wege zur Erkenntnis

„Europäische Dialogfähigkeit steht und fällt mit dem Wissen um den eigenen Anteil an den Traumata der Anderen. Während die Bombardierung Dresdens inzwischen fest im deutschen nationalen Gedächtnis verankert ist, weiß man hierzulande kaum etwas von der Zerstörung Warschaus durch die Deutschen als Vergeltung für den Warschauer Aufstand (1944), der meist mit dem durch Brandts Kniefall berühmt gewordenen Ghetto-Aufstand (1943) verwechselt wird. Auch die Leningrader Blockade von 1941-1944 durch die Wehrmacht, eine der längsten und destruktivsten ‚Belagerungen‘ der neueren Geschichte, bei der annähernd eine Million Russen verhungerten, hat keinen Platz im deutschen historischen Gedächtnis. (…)“ (Aleida Assmann, Das neue Unbehagen an der Erinnerungskultur – Eine Intervention, München, C.H.Beck, 2013)

Die von Aleida Assmann skizzierte Liste der Erinnerungen und Traumata ließe sich über mehrere Seiten lang ergänzen und sie bliebe wahrscheinlich dennoch unvollständig. Aleida Assmann hielt am 15. April 2021 in der digitalen Fachtagung „Vergangene Zukunft – Erinnern und Vergessen im Spannungsfeld gesellschaftspolitischer Auseinandersetzungen“ einen Einführungsvortrag. Die Veranstalter waren das Gustav-Stresemann-Institut in Bonn, der Verein Wissenskulturen und der Demokratische Salon. Etwa 70 Teilnehmende diskutierten in fünf Working Spaces, darunter auch einer zum Thema „Wer sind die Opfer, wer sind die Täter?“, den Sandra del Pilar und ich gemeinsam gestaltet haben.

Aleida Assmanns einführender Vortrag, die darauffolgende Diskussion sowie eine Zusammenfassung der Vorträge in den fünf Working Spaces sind auf der Internetseite des Gustav-Stresemann-Instituts und auf you tube verfügbar.

Der folgende Text dokumentiert den Working Space, den Sandra del Pilar und ich angeboten habe, allerdings in einer erweiterten Fassung, da wir zur Präsentation den vorbereiteten Text kürzen mussten. Auch die Einführung in das Thema habe ich am 15. April 2021 nicht vorgetragen. Sie mag hier als erste Orientierung zur Fragestellung dienen.

Empathie ist ohne Erkenntnis nicht möglich

Norbert Reichel: Die Grundidee der bisherigen Texte im Demokratischen Salon zum Thema, insbesondere in der Rubrik „Opfer und Täter*innen“, lässt sich vielleicht in folgendem Satz zusammenfassen: wahre Empathie ist erst möglich, wenn wir Erkenntnis, Eingeständnis und eine offene und ehrliche Auseinandersetzung zulassen.

Der Zivilisationsbruch der Shoah ist einzigartig. Wir alle kennen die Zahl: Sechs Millionen Jüdinnen* Juden wurden ermordet, aus dem einzigen Grund, dass sie Jüdinnen*Juden waren, aber wer kennt die Namen? Wer kennt ihr Leben, ihren Alltag, wer kennt ihre Träume? Sie haben – ich zitiere Paul Celan – „ein Grab in den Wolken“. Mitunter erinnern Stolpersteine an einige der Ermordeten, die unsere Aufmerksamkeit vielleicht einen kurzen Augenblick erreichen.

Und wer kennt die Toten des Gulag, die Opfer des Kommunismus, in der Sowjetunion, in der DDR, in China, in Kuba und in Nordkorea? Bernd Faulenbach hat für das Gedenken an die Opfer der Terrorregime des blutigsten aller Jahrhunderte, des 20. Jahrhunderts, in einer Sitzung der Enquête-Kommissionen des Deutschen Bundestags zur Aufarbeitung der SED-Diktatur die Formel geprägt, dass in unserem Gedenken die Verbrechen des Nationalsozialismus nicht relativiert, die des Kommunismus jedoch nicht bagatellisiert werden dürfen. Diese Formel gilt nach wie vor und nicht nur für die Opfer des Kommunismus.

Durch die Zuwanderung der vergangenen Jahre könnten wir erfahren, was in anderen Ländern geschieht oder geschehen ist. Doch was wissen wir über die Völkermorde in Armenien, in Ruanda, über die ermordeten Frauen in Mexiko, die Toten von Srebenica und Sarajewo? Was wissen wir über die Geschichte und das Leid der Rohingya, der Natives in Amerika und der Aborigines in Australien, was wissen wir über die brutale Geschichte der Menschen in Ost- und in Südosteuropa, die unter sowjetischer und unter deutscher Besatzung litten, was über die Opfer des unendlichen Kaschmir-Konflikts? Oder schließen wir die Augen, unsere Ohren und kehren zur Tagesordnung unseres Alltags zurück? Was wollen wir wirklich wissen? Wir könnten mehr wissen als wir denken. Über die Morde und Vertreibungen in Ost- und Südosteuropa hat Timothy Snyder detailliert in „Bloodlands“ geschrieben, ein Buch, das alle lesen sollten, die sich in den aktuellen welt- und außenpolitischen Debatten rund um Europa orientieren möchten, wie auch viele gut geschriebene und gut recherchierte Bücher und Filme über die anderen genannten Verbrechen, ich nenne beispielhaft zwei Filme zu Armenien und Ruanda: Fatih Akins „The Cut“ und Terry George’s „Hotel Ruanda“.

Aber wer kennt die Täter, wer hat den Mut sie zu benennen, in der eigenen Familie, im persönlichen Umfeld? Großväter und Großmütter? Väter und Mütter? Waren sie alle unschuldig wie die deutsche Fernseh-Schmonzette „Unsere Mütter, unsere Väter“ uns glauben machen will? Dort wird der deutsche Antisemitismus auf einen Polen verschoben, aber die Deutschen? Es gibt fundierte Studien, die belegen, dass die Deutschen ihre Vorfahren weitestgehend für Opfer und darüber hinaus sogar hilfsbereite Menschen halten. Täter*innen? Fehlanzeige.

Richard von Weizsäcker hat sich am 8. Mai 1985 öffentlich dazu bekannt, dass die Deutschen am 8. Mai 1945 befreit wurden. Diese Rede war ein Meilenstein in der deutschen Erinnerungsgeschichte. Der damalige Bundespräsident zählte die Opfergruppen auf, aber er benannte die Täter nicht. Offenbar war die Zeit nicht reif, es konnte offenbar nur einen geben. Und die Deutschen waren dessen Opfer. (hierzu: www.demokratischer-salon.de/beitrag/niemals-taeter).

Wer sich näher mit den Folgen der Shoah und anderer Pogrome und Völkermorde, von Folter und Vertreibung befasst, müsste wissen, dass die Traumata der Vergangenheit nach wie vor in der zweiten und dritten Generation wirken. Das, was jedoch helfen könnte, wäre eine Auseinandersetzung, eine Aufarbeitung mit dem Täter, der Täterin in uns, den Täter*innen in unserer Verwandtschaft. Frantz Fanon dokumentierte in „Les damnés de la terre“ (französische Erstauflage von 1961) die Begegnung eines (französischen) Folterers und seines (algerischen) Opfers in einem Krankenhaus. Solches Wiedererkennen erleben wir auch heute, nicht nur in Communities von Geflüchteten aus Syrien und anderen Ländern in Deutschland. Ein Aufsehen erregender Prozess gegen einen syrischen Folterer wurde möglich, weil ihn eines seiner Opfer in Deutschland wiedererkannte.

Wiedererkennen, Wiederbegegnung – das muss nicht unbedingt als persönliche Begegnung geschehen. Der Verlag Hentrich & Hentrich hat kürzlich ein ausgezeichnetes Buch mit dem Titel „Erinnern und Vergessen“ veröffentlicht. Es geht um die zweite und dritte Generation der Shoah. Eine wesentliche Forderung ist die Auseinandersetzung der Nachkommen der Täter*innen mit dem Thema Täterschaft. Die Frage muss gestellt werden, wie ein Dialog der Täter*innen und Opfer, ein Dialog zwischen deren Kindern und Enkel*innen möglich wäre. Eine der in dem Buch beschriebenen Methoden ist das „Zeitzeugentheater“, die beispielsweise von der israelischen Armee eingesetzt wird, um einen Dialog zwischen den Nachkommen der Überlebenden der Shoah und den aus anderen Regionen in Israel eingewanderten Menschen zu schaffen (hierzu der Essay „Die Sache ohne Punkt“). Lesenswert zu diesem Thema ist auch die vom Zentrum für verfolgte Künste in Solingen und vom MOCAK in Krakau gemeinsam herausgegebenen Anthologie „Polyphonie des Holocaust“ (erschienen 2020 bei Wallstein).

Sandra, vielleicht sprechen wir als erstes darüber, wie du deine Themen gewinnst und wie sich deine Arbeit in den vergangenen Jahren entwickelte.

Sandra del Pilar: Meine Themen kristallisieren sich meistens langsam aus dem Zusammenspiel von persönlichen Erfahrungen und der Lektüre der Tagespresse sowie von theoretischen Fachbüchern heraus. Bis sich ein Thema soweit verfestigt hat, dass ich in der Lage bin ein künstlerisches „Skript“ oder eine Art „Arbeitshypothese“ zu entwickeln, dauert es oft mehrere Wochen, manchmal sogar Monate. Ist dieses Skript einmal „formuliert“ – meist in Form einer Sammlung von Skizzen in schriftlicher und zeichnerischer Form – beginne ich künstlerisch zu arbeiten, allerdings modifiziert sich das Projekt meist vom ersten Tag an immer und immer wieder, bis sich die notwendige Arbeitsweise aus dem Arbeitsprozess selbst ergibt.

Diskurs über die Macht

Norbert Reichel: Wir beginnen mit einem Bild zum Thema Abu Ghraib. Ich denke, wir alle kennen das Foto, nach dem dieses Bild entstand. Das Foto zeigt die Soldatin Lynndie England, die einen wie ein Hund auf dem Boden kauernden irakischen Gefangenen an einer Hundeleine hält. Dein Bild, Sandra, ist ein großformatiges Bild, in dem beide Personen nackt dargestellt sind. Das Ambiente muss nicht unbedingt ein Gefängnis sein.

Diskurs über die Macht: Abu Ghraib II, 2007, Öl auf Leinwand, 180x200cm © Thomas Oyen

Sandra del Pilar: Ja, es war mir wichtig, die Szene zu entkontextualisieren, um sie sozusagen auf das rein Menschliche zu reduzieren. Wir alle wissen, wie bestimmte Kontexte, Umgebungen, Bedingungen, einen Menschen schnell dazu bringen, sich in eine bestimmte Rolle einzufügen. Philipp Zimbardo hat das in seinem Buch „Der Luzifer Effekt – Die Macht der Umstände und die Psychologie des Bösen“ eindrücklich beschrieben.

Mich interessierte aber, was passiert, wenn man alle diese Bedingungen „weglässt“ oder „entschärft“. Das geht in der Wirklichkeit kaum; ein Bild jedoch ermöglicht es einem durchaus, dieses Gedankenexperiment zu veranschaulichen und sichtbar „durchzuspielen“. Also habe ich die Leine weggelassen und durch ein Tuch ersetzt. Die Gitterstäbe sind einer Alltagsumgebung mit Sessel gewichen. Statt die Hierarchie, die in der Dichotomie von Uniform und Häftlingskleidung bzw. Kleidung und Nacktheit liegt, fortzuführen, sind nun beide nackt und beide sind Frauen. Die Gewalt liegt nun also ausschließlich im Körper der Darstellten selbst und das macht das ganze fast noch schwieriger, komplexer, irgendwie noch unbegreiflicher und unheimlicher.

Norbert Reichel: Als wir das erste Mal über dieses Bild sprachen, empfahlst du mir dieses Buch von Philip Zimbardo über das Stanford Prison Experiment (Untertitel im amerikanischen Original: „Understanding How Good People Turn Evil“ (deutsche Fassung 2008 bei Springer, Berlin, Heidelberg, erschienen). Zimbardo begutachtete unter anderem einen der drei angeklagten Täter*innen von Abu Ghraib, „Chip“ Frederick, und beschrieb, wie dieser sich – ebenso wie die beiden anderen – von höchster Stelle legitimiert fühlte zu foltern. Verurteilt wurden er und seine beiden Kolleg*innen, darunter Lynndie England.

Mich erinnerte die Lektüre des Buches von Zimbardo unmittelbar an die Bücher von Christopher Browning über das berüchtigte Polizeibataillon 101 und von Harald Welzer über die Täter von Babij Jar. Brave Familienväter, Menschen, von denen man sagen würde, dass sie keiner Fliege etwas zu leide tun könnten. Aber sie mordeten und rühmten sich in Feldpostbriefen ihrer Taten. Auch die Täter*innen von Abu Ghraib posierten für Erinnerungsfotos. Du hast mit deinem Bild das Genre Erinnerungsfoto dekonstruiert.

Sandra del Pilar: Ein Erinnerungsfoto will die Erinnerung an die Vergangenheit lebendig halten, konservieren. So funktioniert jedes Fotoalbum, das konsequenterweise auch vorrangig die schönen Momente festhält: Weihnachten mit den lächelnden Kindern unter den brennenden Kerzen und im Kreis der glücklich vereinten Familie, nicht aber den Moment, in dem der Ehemann eröffnet, die Gattin verlassen zu wollen. Eben das hat in mir die Frage aufgeworfen, warum die Folterfotos von Abu Ghraib und Guantánamo überhaupt gemacht wurden und die Antwort, die ich darauf fand, war so erschreckend, dass ich dieses Projekt, das insgesamt neun Bilder umfasst, machen musste.

Offenbar wurden die Fotos, die von den Szenen auf uns gekommen sind, geschossen, weil der Moment, den sie festhielten, als erinnerungswürdig empfunden wurden. Die Folter war in den Augen der Täter*innen also keineswegs etwas, dessen sie sich schämten, sondern etwas, auf das sie – im Gegenteil – stolz zu sein schienen…und das wiederum muss mit dem Kontext zu tun haben, in dessen Dunstkreis die Täter*innen sich zu der Zeit befanden. Zu diesen Kontexten, die die von dir genannten Autoren umreißen, gehört natürlich das System Gefängnis, aber auch öffentliche Diskurse und Narrative spielen eine große Rolle, wie Trumps berühmtes „America first“.

Auch wenn Trump erst lange nach den Ereignissen im Irak und auf Kuba an die Macht kam, so ist doch der sehr viel ältere „American Dream of Life“ von zentraler Bedeutung für Folterungen in Abu Ghraib und Guantánamo, wo man Geständnisse der fast ausschließlich arabischen Gefangenen erzwingen wollte, um den Amerikanischen Traum zukünftig vor Terroranschlägen wie dem vom 11.September 2001 zu schützen. Vor diesem Hintergrund würde sich möglicherweise erklären, warum die Täter*innen das Gefühl hatten, auf der richtigen Seite zu stehen, und die Fotos, die sie schossen, legen davon Zeugnis ab, sowie von dem herrschenden Diskurs, der die diskursive Hintergrundfolie für dieses Taten bildete. Und auf diesen Diskurs können wir alle einwirken, über die Art und Weise, wie wir uns öffentlich und privat äußern, welche Lektüre wir konsumieren, was wir auf den sozialen Netzwerken posten etc. 

Wenn ich es recht bedenke, würde ich sagen, dass es eigentlich die Fotos selbst waren, die das Genre des Erinnerungsfotos dekonstruiert haben, meine Gemälde wollten das lediglich sichtbar machen. Sie haben das Individuum aus dem diskursiven Kontext herausgelöst und es auf seine persönliche Verantwortung im nackten Mensch-Sein zurückgeworfen. Auf der anderen Seite, hat eben diese Herauslösung aus dem grausamen Gefängniskotext den Bildern schonmal den Vorwurf eingebracht, die gezeigt Gewalt zu verharmlosen und zu ästhetisieren. Das ist durchaus legitim, und führt dazu, dass man weiter über Gewalt und den adäquaten bildlichen Umgang damit diskutiert.

Das Unzeigbare zeigen

Norbert Reichel: 2011 hast du eine Serie ausgestellt, die den bezeichnenden Titel trägt „Wie wirklich ist die Wirklichkeit?“ Es ist eine Serie von drei Bildern, die sich mit drei Themen befassen: Die ermordeten Frauen von Ciudád Juarez, eine Water Boarding Szene aus Guantánomo und der in staatlichem Auftrag erfolgte Mord an Osama Bin Laden. Fangen wir mit den ermordeten Frauen von Ciudád Juarez an. Die Femizide in Mexiko waren Thema unseres ersten Gesprächs vor etwas mehr als einem Jahr in der Galerie Zilberman. Inzwischen wird das Thema Femizid auch in Deutschland diskutiert. Worum geht es bei den Morden in Ciudad Juárez, was sind die Hintergründe? Und alle drei Bilder tragen als Titel eine Frage.

Sandra del Pilar: Das alle drei Diptychen durchziehende Thema ist die Frage nach dem „Unzeigbaren“ oder dem „Undarstellbaren“, was in ungefährer Entsprechung zum „Unsagbaren“ in der Sprache gemeint ist, wie es z.B. für die Gräueltaten der Shoah konstatiert wurde. Das Internet scheint über einen schier unerschöpflichen Fundus an Bildmaterial zu verfügen, aber bei meinen Recherchen stelle ich immer wieder fest, dass es zu bestimmten Suchanfragen eben KEINE Antworten gibt. Das betrifft auch die drei Themen der Reihe „Wie wirklich ist die Wirklichkeit?“

Wie sterben die Toten von Juárez? Diptychon, aus der Serie: Wie wirklich ist die Wirklichkeit? 2011, Öl auf Leinwand, 150x200cm

Hinsichtlich der Frauen von Ciudad Juárez, um die es in dem Bild „Cómo mueren las muertas de Juárez?“ geht, zunächst einige Sätze zum Hintergrund. Ciudad Juárez ist eine Stadt in Norden Mexikos an der Grenze zu den Vereinigten Staaten. Sie beherbergt viele Montagebetriebe (Maquiladoras) in denen zu billigen (mexikanischen) Löhnen Einzelteile für den zollfreien Export in die USA zusammengesetzt werden. Seit den 1990er Jahren, als sich die ersten dieser Betriebe in Ciudad Juárez ansiedelten und die Stadt in hohem Tempo wuchs, begann eine bis heute andauernde Mordserie an zumeist jungen Frauen und Mädchen. Sie sind zwischen 12 und 25 Jahren alt, leben unter prekären Verhältnissen, verfügen kaum über Schulbildung und stammen oft aus mitunter weit entfernten ländlichen Gegenden Mexikos. Nach Ciudad Juárez kamen sie, um für eine Zeitlang in den oben erwähnten Maquiladoras zu arbeiten. Entführt, vergewaltigt, gefoltert und zerstückelt werden sie auf den Brachflächen außerhalb von Ciudad Juárez abgelegt oder verscharrt. Bis heute sind weder die Täter noch die Umstände dieser Mordserie geklärt, die allein zwischen 1993 und 2012 über 700 Opfer forderte und mit dafür verantwortlich war, dass der Begriff des Femizids (der seit einigen Monaten auch in die deutsche Sprache Eingang fand), in Mexiko als erstem Land weltweit Eingang in das Strafgesetzbuch fand. Als Femizid wird der Mord an einer Frau aufgrund ihres Geschlechtes bezeichnet.

Als ich 2007 zu dem Thema zu recherchieren begann, war es mir unmöglich, die im Internet kursierenden Fotos der Leichname anzusehen. Sie überfluteten meinen Bildschirm und machten in ihrer zur Schau gestellten Brutalität jedwede Auseinandersetzung unmöglich, sodass ich zur Strategie der fiktiven Inszenierung greifen musste, um mich dem Thema anzunähern. Wie Jorge Semprún, der die Ansicht vertrat, die fiktionale Literatur habe die Aufgabe, das zu behandeln, worüber man eigentlich nicht sprechen kann, glaube ich an die Möglichkeit der Malerei, das eigentlich Nicht-Zeigbare darzustellen.

Nicht zeigbar sind die im Internet kursierenden Fotos der Frauen von Ciudad Juarez wegen ihrer entmenschlichenden Brutalität, die ein zweites Mal töten. Nicht zeigbar ist aber auch der tote Bin Laden, weil nie ein Foto seines Leichnams veröffentlicht wurde und das, was einen Menschen dazu bewegt, einen anderen zu foltern.

Goliath, 2020, Öl auf Leinwand und transparenter Synthetikfaser, 235x166x66cm © Carlo Sintermann

Norbert Reichel: Mir fällt an diesen Bildern auf, dass du als Täter*innen fast ausschließlich Frauen malst. Das betrifft auch andere Bilder von dir, beispielsweise das Bild „Goliath“. Dort ist David weiblich. Es scheint keine Solidarität unter den Frauen zu geben. Die einen sind die Opfer, die anderen die Täterinnen. Klar voneinander getrennt.

Sandra del Pilar: Ich empfinde genau das Gegenteil: Opfer und Täter*in sind eben nicht voneinander getrennt, sie sind miteinander verbunden. Beide sind Frauen, beide sind ich…das macht ja gerade die Problematik der Verhältnisse, der Kontexte, der Hierarchien, der Diskurse etc. aus. Ich kann zum Opfer werden oder zum Täter, je nachdem wo ich stehe, je nachdem in welches Umfeld ich – ohne mein Zutun – hineingeboren wurde, aber auch, je nachdem welche Entscheidung ich in einem bestimmten Moment getroffen habe oder treffe.

Der Möglichkeitsraum der Malerei

Norbert Reichel: In der Water Boarding Szene, die du auf dem Bild „Qué pasó en Guántanamo y Abu Ghrai“ (sic!) zitierst, entdecke ich Lust bei einer der folternden Frauen, einen prüfenden, fast wissenschaftlich zu nennenden Blick bei einer anderen, eine dritte – ganz rechts im Bild, lacht genüsslich, eine vierte – links im Bild – scheint das Opfer anzuschreien. Die Gefolterte hat verbundene Augen.

Was geschah in Guantánamo und Abu Ghraib? Diptychon, aus der Serie: Wie wirklich ist die Wirklichkeit? 2011, Öl auf Leinwand, 150x200cm © Thomas Oyen

Sandra del Pilar: Als ich Bildmaterial für die Reihe „Wie wirklich ist die Wirklichkeit“ suchte, stellte ich fest, dass es viele Bilder mit – so zynisch das klingt – technischen Erläuterungen zum Prozess des Waterboarding gab. Das spiegelt sich in dem wider, was du den „wissenschaftlichen Blick“ der einen Bildfigur genannt hast.

Durch das über Mund und Nase gelegte Tuch und eine Körperposition, in der sich der Kopf tiefer befindet als der restliche Körper, dringt das Wasser nicht in die Lungen ein, was zum Ertrinken führen würde. Dennoch simuliert das Waterboarding eben das. Ein Tuch findet sich in meinem Bild ebenfalls. Es liegt aber nicht über Mund und Nase, sondern über den Augen, ein erster Hinweis auf die Fiktionalität auch dieses Gemäldes. Schaut man weiter, sieht man, dass kein Wasser aus der Schädelkalotte fließt, die über den geöffneten Mund gehalten wird.

Hinzu kommt, dass man spätestens bei der Betrachtung des dritten Bildes der Reihe merkt, dass sich die Protagonist*innen wiederholen, es werden also keine realen Szenen gezeigt, sondern bildhafte Inszenierungen. Die Bilder stellen ein „Als-Ob“ vor; nicht die Wirklichkeit, und eben daraus schöpft die Malerei – nicht nur diese, sondern ganz allgemein – ihre Wahrhaftigkeit.

Norbert Reichel: Auch du selbst bist immer wieder im Bild, bist du als Malerin eine nüchternde Dokumentatorin? Vergleichbar einer Kriegsfotografin wie beispielsweise Anja Niedringhaus sel.A. eine war? Wir sehen, wie du den Titel der Szene mit Kreide auf das Bild schreibst. In dem Bild mit den Frauen von Ciudad Juárez sehen wir dich sogar zwei Mal, einmal kniend mit nackten Füßen im Bild vor der Wand, einmal im rechten Teil des Diptychon angespannt, den Punkt am Fragezeichen malend, geradezu wie einen Schlusspunkt. Sind deine Bilder Schlusspunkte? Oder was geschieht, wenn sie gemalt sind und ausgestellt werden können?

Sandra del Pilar: Nein, ich sehe mich eher nicht als nüchternde Dokumentatorin, denn ich dokumentiere nichts. Mit dem Anspruch neutral zu dokumentieren tut sich ja schon die Fotografie schwer; um wieviel schwieriger hätte es da noch die Malerei. Ich sehe meine Arbeit vielmehr darin, darüber zu reflektieren, in welchem Verhältnis Bild und Wirklichkeit zueinanderstehen und wie sie sich zueinander verhalten können. Und dazu eignet sich in besonderem Maße die Malerei, weil sie einerseits reale Dinge abbilden kann, andererseits aber ihr Gemachtsein, ihren Als-Ob-Charakter, ihre – im besten Sinne – Artifizialität und Subjektivität nicht verleugnet. Die Malerei ist ein Möglichkeitsraum, indem Gedanken und Gefühle durchgespielt werden können, und die dann – im besten Fall – möglicherweise einen anderen Blickwinkel auf die Wirklichkeit anstoßen.

Eben das geschieht mit mir auf dem Bild, von dem wir gerade reden. Ich tauche jedes Mal als Rückenfigur auf. Zunächst, indem ich die Frage formuliere und den Punkt unter das Fragezeichen setzte. Dann, indem ich mich fortlaufend und im Prozess des Malens selbst mit den gewählten Themen beschäftige. Deshalb ist der Satz noch nicht zu Ende geschrieben. Bei „Abu Ghraib“ fehlen im bild das „b“ und das Fragezeichen. Und schließlich, indem das passiert, was eigentlich nicht passieren sollte: Die Wirklichkeit des Bildes hat sich seine eigene Urheberin einverleibt… Sie steht nun nicht mehr vor dem Bild und schreibt, sondern die Schrift läuft über sie hinweg. Sie ist selbst zum Teil des Narrativs geworden.

Bildstottern – Stotternde Wirklichkeit

Norbert Reichel: Einer der bekanntesten Terroristen des ganz frühen 21. Jahrhunderts war Osama Bin Laden. Er wurde zu einer Ikone des islamistischen Terrorismus. Du malst ihn in dem Bild jedoch nicht als Täter, sondern als Opfer. Sein Gesicht ist nicht im Bild zu sehen. Vier Männer beugen sich über ihn und prüfen, ob er wirklich tot ist. Rechts im Bild sehen wir eine versonnene, vielleicht trauernde Frau, die einen Rhesusaffen hält, der einen Apfel in den Händen hält, den er vielleicht gleich essen wird. Im rechten Teil des Diptychons sehen wir wieder dich. Du schaust auf den Affen, der diesmal seine Augen geschlossen hält. Du scheinst dich aus dem Bild zu entfernen. Ein Rückblick? Ein Rückblick auf was?

Ist Bin Laden wirklich tot? Diptychon, aus der Serie: Wie wirklich ist die Wirklichkeit? 2011, Öl auf Leinwand, 150x200cm © Thomas Oyen

Sandra del Pilar: Als Bin Laden gefasst und getötet wurde, waren die Medien voll von diesem Thema und immer lauter wurde der Ruf nach einem Beweisfoto. Dieses gab es jedoch nicht, bzw. es sollte der Öffentlichkeit nicht gezeigt werden. Die Forderungen nach einem Bildbeweis verstummten allerdings in dem Moment, als im Netz ein Bild auftauchte, das den Kopf des toten Bin Laden zeigte; und sie hoben auch nicht wieder an, als wenig später klar war, dass dieses vermeintliche Beweisfoto ein Fake war.

In meinem Bild sieht man das Gesicht von Bin Laden gar nicht. Es wird lediglich suggeriert, dass er es sei, indem die Frage formuliert ist: „Bist Du sicher, dass Bin Laden tot ist?“

Die rechten Teile der drei Bilder wiederholen immer in leicht veränderter Form etwas, das bereits im quadratischen Teil auftaucht. Ich nenne das Bildstottern. Auch das ist eine Technik, mit der ich das Bild als Konstruktion offenlege und verhindern möchte, dass es als Spiegel eines So-war-es gesehen wird. Der Affe hat die Augen nun geschlossen, vielleicht ist er satt und müde, nachdem er den Apfel, aufgegessen hat, den er auf dem ersten Bildteil noch rund und unangetastet in seinen Händen hält. Ich wollte damit eine Zeitlichkeit ins Bild mit hineinbringen, die wichtig ist für die Abfolge der drei Teile, von denen dieser der letzte ist.

Bilderstürmer – Menschenstürmer

Der Sturm, 2020, Öl auf Leinwand, 190x300cm

Norbert Reichel: In dem Bild „Der Sturm“ liegst du auf dem Boden und stützt dich mit den Ellenbogen ab. Du wurdest wohl von den Menschen verdrängt, die das Bild – oder die auf dem Bild dargestellte Frau – angreifen. Bilderstürmer? Menschenstürmer? Wütend, tretend, mit erhobenen Fäusten. Doch wer ist die knieende Frau rechts im Bild, und die Frau, die vom Bild der schreienden Frau abgewandt, auf dich herabschaut?

Sandra del Pilar: Jeder hat seine eigene Umgangsform mit dem Bild und dem, was es zeigt. Einige wenden sich ab, einige verschmelzen mit ihm, wieder andere fühlen sich von ihm angegriffen, sodass sie mit den Fäusten auf es einschlagen – und zu Bilderstürmern werden.

Norbert Reichel: Wir sehen einen Sturm, wie wir ihn heute immer wieder erleben. Kunst wird angegriffen. Du hast dich intensiv mit der Frage befasst, warum und wie Kunst angegriffen wird? Ich erinnere mich an deine Auseinandersetzung mit diesem Thema in einer Ausstellung in Hilden zum Thema „Feindbilder“. Dort war auch „Der Sturm“ zu sehen. Künstler*innen als Opfer?

Sandra del Pilar: Vielleicht eher Bilder als Schauplatz eines Stellvertreterkrieges. Bilder sind niemals das, was sie darstellen, das neigen wir immer wieder zu vergessen.  Bilder sind vielmehr wie eine Bühne, auf der ein Theaterstück zu sehen ist, und ein Bild zu zerstören ist in etwa so, als würde man ein Theater niederbrennen, weil einem das Stück vom Vorabend intolérable erschienen ist.

Die Angeklagten

Norbert Reichel: Wir kehren zurück nach Mexiko. Du hast für die Serie der „Mujeres Castigadas“ 40 Frauen gemalt, die in mexikanischen Gefängnissen inhaftiert waren und mit dir über ihre Gewalterfahrungen gesprochen haben. Wie bist du vorgegangen, was hast du erfahren und wie nahmen die Frauen deine Bilder auf?

Aus der Serie Mujeres Castigadas, 2010, Öl auf Leinwand, 90x140cm © Thomas Oyen

Sandra del Pilar: Bei dem Projekt „Mujeres Castigadas“ war der Auslöser eine kleine Zeitungsnotiz über einen Ehrenmord. Der Vater des jungen Mädchens hatte es als Verrat an seiner Familie empfunden, dass sie einen Freund hatte. Die Zeitungsnotiz war in einer deutschen Zeitung erschienen, ich selbst befand mich aber gerade in Mexiko, wo der Begriff des „Verrats“ mit der historischen Persönlichkeit der Malinche in Verbindung gebracht wird, was ihr Bild bis heute bestimmt, besonders, nachdem der Wandmaler Diego Rivera sie mit blutigen Zähnen wie einen Vampir dargestellt hatte, wurde ihr doch angelastet, die Indigenen an die spanischen Eroberer zu haben. Die Wahrheit über die Malinche war allerdings erheblich komplexer.

Norbert Reichel: Die Malinche war unter anderem Dolmetscherin des Hernán Cortes. Sie kann vielleicht auch als ein Gegenbild zur nordamerikanischen Pocahontas gesehen werden. Dieselbe Verachtung finden wir bei gegenüber den Frauen, die beispielsweise in Frankreich während der deutschen Besatzung sich mit Nazis eingelassen hatten und denen nach der Befreiung die Haare geschoren wurden, oder – vielleicht nur weniger handgreiflich – gegenüber den Frauen, die nach 1945 in Deutschland ein Kind von einem Schwarzen amerikanischen GI bekamen.

Sandra del Pilar: „Verrat“ ist auch ein zentraler Begriff im Alltag, wenn es darum geht, zu begründen, warum Männer ihre Frauen schlagen, fremdgehen oder abwertend behandeln, wobei seine Auslegung sehr – sagen wir mal – flexibel ausgelegt wird. Um dem gezielter auf die Spur zu kommen, begann ich zunächst, Frauen aus meinem unmittelbaren Umfeld zu ihren Gewalterfahrungen zu befragen und stieß auf große Resonanz und ein mindestens ebenso großes Bedürfnis darüber zu reden. Also weitete ich den Kreis meiner Gesprächspartnerinnen weiter aus, wobei mir bald auch eine Universität, die Presse und die Kommission für Menschenrechte halfen.

Aus den vielen Gesprächen, die ich im Vorfeld führte, ergab sich bald, dass ich die Frauen nicht nur interviewen, sondern auch malen wollte, und zwar so, wie sie von der Gesellschaft gesehen wurden: als Angeklagte, die sich des „Verrates“ an ihrer Weiblichkeit, an ihrer Jugend, an ihren Männern, am Patriarchat schuldig gemacht hätten. Deshalb waren die ersten ca. 40 Bilder des Projektes als Doppelportraits in der Art konzipiert, wie man Kriminelle fotografiert, einmal von vorn und einmal im Profil. Dabei hielten sie auch die typischen schwarzen Tafeln in der Hand, die allerdings in meinen Bildern leer waren. Diese „lagerte“ ich gewissermaßen aus, indem ich kleinere Leinwände komplett Schwarz malte und darauf die Synthesen der Geschichten schrieb, die mir die Frauen erzählt hatten. Die Loslösung der Geschichten von den entsprechenden Frauen hatte zwei Konsequenzen: erstens bekamen die für sich stehenden Texte ein größeres Identifikationspotenzial für die Betrachter*innen, zweitens konnte ich so die Frauen schützen, die nicht öffentlich mit ihren Erfahrungen in Verbindung gebracht werden wollten. Einigen Frauen war es zudem wichtig, nicht unmittelbar erkannt zu werden; deshalb bot sich das Medium der Malerei an, in dem ich den „Ähnlichkeitsgrad“ steuern und definieren konnte. Das betraf insbesondere die Frauen, die ich im Frauenhaus und im Gefängnis interviewt hatte. Hinzu kam, dass insbesondere sie nicht gestattet hätten, Fotografien von sich ausgestellt zu wissen, mit gemalten Portraits hingegen hatten sie weniger Schwierigkeiten, der Malerei schienen sie mehr „Vertrauen“ entgegenzubringen, sie mehr als „Schutzraum“ zu sehen, außerdem empfanden sie ein gemaltes Portrait als eine Art Würdigung ihrer Person. Das war eine sehr interessante Erfahrung für mich.

Norbert Reichel: Wie nahmen die portraitierten Frauen deine Arbeit auf?

Sandra del Pilar: Das Projekt der „Mujeres Castigadas“, das ich in Mexiko durchführte, zog sich bis zu seiner Präsentation im Museum von Cuernavaca, über ein Jahr hin. Danach setzte ich es in Deutschland fort. Dort allerdings musste ich künstlerisch umdisponieren, denn der Kontext der Gewalt, den ich hier feststellen konnte, war ein anderer. Gewalt war hier nicht gekoppelt an den Begriff der Schuld oder des Verrats, sondern eher schambehaftet, und so bat ich die Frauen, jeweils so zu posieren, wie sie sich fühlten. Auch wurden die Bilder jetzt kleiner, intimer. Sie wurden von einer Größe von 140 x 70 (der „mexikanischen“ Bilder) jetzt auf ca. 40 x 60 cm reduziert. Das wiederum ermöglichte es mir, die Arbeiten auf der Biennale für Zeitgenössische Kunst in La Paz, Bolivien auszustellen. Die Zeit, die ich dort in diesem Zusammenhang verbrachte, reichte leider nur für einen Workshop, allerdings nicht, um die Teilnehmerinnen zu portraitieren. Interessant war allerdings, dass die Haltung der Frauen gegenüber der von ihnen erfahrenen Gewalt wieder anders war, nämlich sehr kämpferisch.

Die Frauen im Gefängnis haben die Bilder nur in einer PPP gesehen, die ich ihnen vorstellte, nachdem die Ausstellung gehängt war. Sie waren sehr interessiert an allen Details und freuten sich, über ihre Portraits irgendwie doch aus dem Gefängnis herausgekommen zu sein… und da ist sie wieder… die Identifikation des Bildes mit dem, was es Darstellt… das scheint, wie ja auch Schwan zeigen konnte, in der Tat im Menschen angelegt zu sein….

Ambivalenzen der Freiheit

Norbert Reichel: In einem anderen Projekt hast du inhaftierte junge Männer gemalt.

Sandra del Pilar: Nach diesen knapp drei Jahren intensiver Auseinandersetzung mit den Opfern von Gewalt, erschien es mir nur konsequent, mir nun auch die Täterseite anzusehen.

Los decididores, 106, Öl und Acryl auf Leinwand und transparenter Synthetikfaser, 140x140cm © Thomas Oyen

Die Gelegenheit ergab sich, als das Museum in Siegburg mich einlud, eine Ausstellung zu konzipieren, die ich „Anderwelt“ nannte. Es würde hier zu weit führen, im Einzelnen zu beschreiben, wie sich das Projekt entwickelt hat, an dieser Stelle sei nur so viel gesagt, dass ich über die Vermittlung des Museums die Möglichkeit hatte, zur dortigen Justizvollzugsanstalt Kontakt aufzunehmen. Einmal die Woche fuhr ich nach Siegburg, um dort mit einer Gruppe junger Männer zu arbeiten, mit ihnen gemeinsam zu sprechen, Einzelinterviews zu führen und szenische Darstellungen zu erarbeiten, die sie selbst entwarfen und die sich dann zum Teil in den Gemälden wiederfanden, die ich anfertigte.

Bald schälte sich heraus, dass sie der Begriff der Freiheit sehr beschäftigte: die rein physische Freiheit, über die sie in der JVA nicht mehr verfügten, aber auch die Freiheit der Entscheidung, die sie in diese Lage gebracht hatte. Freiheit scheint überhaupt ein zentraler Begriff unserer Zeit zu sein, das zeichnete sich bereits 2014 ab, als ich das Projekt initiierte. Er taucht nicht nur in der zeitgenössischen Philosophie und Demokratiediskursen immer wieder auf, sondern auch in der Werbung, z.B.: „Weniger Laufzeit, mehr Freiheit“, so lautete vor einigen Jahren der Werbespruch eines Mobilfunkanbieters. So allgegenwärtig, dass sie einem kaum noch wirklich auffallen sind auch entsprechende Sprüche, die in, wie ich finde, problematischer Weise Freiheit und Leistung korrelieren: ‚Du musst es nur wollen, dann kannst Du alles erreichen.‘, ‚Wer nichts leistet hat auch nichts verdient‘, ‚Man ist was man kann‘ und so weiter. Diese schleichend daherkommenden eingesetzten Brandings geistern durch unsere Vorstellungswelt.

Das wiederum brachte mich dazu, Kontakt zu einer anderen Gruppe junger Männer, einer Gruppe von Studenten, aufzunehmen, die NICHT in der JVA waren, die weniger schwierige Lebenssituationen zu bewältigen hatten und aus so genannten gut-bürgerlichen Verhältnissen stammte, die aber eben deshalb mit dem Leistungsanspruch konfrontiert war. Mit fünf von ihnen veranstaltete ich einen intensiven zweitägigen Workshop in meinem Atelier. Wir führten intensive Gespräche miteinander und ich stellte ihnen die gleiche Requisitenkiste zur Verfügung, die ich auch mit in die JVA zu nehmen pflegte. Auch sie stellten Szenen, von denen ich Fotos und Skizzen anfertigte, die dann in die Gemälde einflossen. Den Begriff der Freiheit empfanden diese jungen Männer, das stellte sich allmählich heraus, oft als Überforderung.

Und so wurde der Freiheitsbegriff zum roten Faden der Ausstellung. In ihr sollte der Betrachter*in ihn in seiner Ambivalenz und Komplexität – die die Zusammenarbeit mit den Jugendlichen beider Gruppen offenbart hatte – sozusagen selbst nachvollziehen und erfahren. Zur Verfügung stand dem Publikum lediglich die Information, dass die Bilder junge Männer zeigten, von denen einige gerade in der JVA einsaßen. Es war jedoch nicht ersichtlich, wer diese waren. Hinzu kamen Performances, die während der Vernissage stattfanden. Einige der abgebildeten Männer waren ins Museum gekommen und lasen die Interviews oder Texte aller Teilnehmer vor, die sie für das Projekt zu Verfügung gestellt hatten. Allerdings waren auch hier Autor und Leser durcheinandergewirbelt. Welche Geschichte gehört zu wem? Wer ist überhaupt wer? Wo hört das Bild auf und wo beginnt die Realität? Welche Kriterien habe ich als Außenstehende*r, um ein Urteil zu fällen? Bin ich hier überhaupt noch Außenstehender*r oder Teil des Systems? Das waren die zentralen Fragen der Präsentation.  

Kunst oder Journalismus?

Norbert Reichel: Vielleicht darf ich in diesem Zusammenhang auf die Arbeiten von Lydia Cacho Ribeiro verweisen, eine mexikanische Investigativjournalistin. Sie hat dazu beigetragen, dass ein Ring von Männern aufgedeckt wurde, die aus den höchsten Kreisen kamen und Kinder sexuell missbrauchten. Lydia kann sich nicht mehr in Mexiko aufhalten, weil ihr Leben bedroht ist. Auf youtube gibt es ein längeres Interview mit ihr, in dem auch ein Video gezeigt wird, wie sie wegen ihrer Recherche verhört wird. Sie wurde gefoltert, konnte fliehen. Lydias Bücher sind leider auf Deutsch nicht zu haben, mit Ausnahme des Buches über moderne „Sklaverei“ (Frankfurt am Main, Fischer, 2010, auch über die Landeszentrale für politische Bildung NRW in Düsseldorf erhältlich). Lydia arbeitet meines Erachtens ähnlich wie du. Sie hat beispielsweise Männer interviewt, die ihren Frauen Gewalt antaten, der spanische Titel „Ellos hablan – Testimonios de Hombres, la relación con sus padres, el machismo y la violencia“ (2018 in der Penguin Random House Group erschiene). Männer, die Gewalt erfuhren, die Gewalt ausübten. Du bist keine Journalistin, aber ich kann mir vorstellen, dass deine Arbeit in Mexiko nicht ungefährlich ist.

Sandra del Pilar: Im Gegensatz zu investigativen Journalisten habe ich die Hoffnung, dass bildende Künstler eine Art Narrenfreiheit haben, solange sie keine konkreten Namen nennen, was Lydia ja tut. Einmal war ich versucht, mich daran nicht mehr zu halten, es ging um ein Thema, das mir sehr wichtig war und im Bildtitel kam eben dieser Name vor. Ich habe mich am Ende von meinem Mann überreden lassen, den Namen aus dem Titel zu streichen, als das Bild ausgestellt wurde.

Zirkuläre Zeitlichkeit

Norbert Reichel: Bevor wir inhaltlich über das Bild „Treat Me Like A Fool, Treat Me Like I’m Evil“ sprechen, sollten wir über die hier angewandte Technik sprechen. Wir sehen jede Person zwei Mal.

Treat Me Like A Fool, Treat Me Like I’m Evil, 2017, Öl und Acryl auf Leinwand und transparenter Synthetikfaser, Slg. Gustav-Lübcke-Museum, Hamm © Carlo Sintermann

Sandra del Pilar: Seit 2015 arbeite ich in einer Technik, die sich neben der klassischen Leinwand auch einer transparenten synthetischen Faser bedient, die über die eigentliche Leinwand gespannt wird. Sie kann ebenfalls bemalt werden und so habe ich im Grunde zwei Bilder, die übereinander geschaltet sind. Es ist ein bisschen so wie früher, wenn man aus Versehen einen analogen Film doppelt belichtete. Wiederholt sich dann, wie in diesem Fall, dasselbe Motiv mit einer leichten Abweichung, dann kann man einen kleinen zeitlichen Ablauf simulieren. In diesem Bild halten die Bildfiguren die Köpfe einmal gesenkt und einmal erhoben. Interessant an dieser bildimmanenten Zeitlichkeit ist, dass sie nicht gerichtet ist, sich also nicht in ein vorher, jetzt und nachher gliedert, sondern gewissermaßen zirkulär ist, denn wir wissen nicht, ob die Bildfiguren die Köpfe erst erhoben haben und dann senken, oder erst gesenkt hatten, um sie anschließend zu erheben.

Norbert Reichel: Du hast mir zu diesem Bild gesagt, dass es viel mit Donald J. Trump zu tun habe, nicht zuletzt wegen seiner Ankündigung, eine Mauer an der mexikanischen Grenze zu bauen, und der Art, wie er sich über Menschen südlich des Rio Grande äußerte.

Sandra del Pilar: Ja, wie so oft habe ich auch hier mit aktiv am Arbeitsprozess beteiligen Modellen gearbeitet. In diesem Fall waren es durchweg enge Freund*innen. Ihnen habe ich eines Nachmittags, als sie zum Essen bei mir waren, erzählt, dass ich ein Gegenbild zu Trumps Mauer malen wollte. Nach vielen intensiven Diskussionen und unzähligen durchprobierten Konstellationen einigten wir uns darauf, eine „alternative“ Mauer aus Menschen zu „bauen“, die jedoch, im Gegensatz zu Trumps Mauer, durchlässig, menschlich und widerständig sein sollte, ohne die Demütigungen zu verhehlen, als Trumps Äußerungen empfunden wurde, als er die Mexikaner pauschal als Verbrecher, Drogendealer, wilde Tiere und Vergewaltiger bezeichnete, vor denen er sein Land mit eben dieser Mauer schützen wollte. Jeder posierte so, wie er es für richtig hielt. Einige hielten den Kopf erst gesenkt, dann erhoben, andere umgekehrt.

Die Bedrohung aus dem Nichts

Norbert Reichel: Sprache schafft die Atmosphäre, in der Gewalt möglich wird, Sprache ist Gewalt. Wir sind im Grunde wieder bei der Frage, die das zuerst gezeigte Bild über Abu Ghraib im Titel stellt, beim Diskurs über die Macht. Wer die Macht hat, legitimiert Gewalt, wer den Mächtigen verehrt, legitimiert sich selbst zur Gewalt.

Amenaza, 2015, Öl auf Leinwand und transparenter Synthetikfaser, 45x70cm

Das letzte Bild, das wir uns heute gemeinsam anschauen, zeigt dich, auch wieder zwei Mal, ein Revolver bedroht dich. Das Bild gibt es leider nicht mehr, es wurde zerstört, aber ich darf sagen, es zeigt für mich alles, was du in deinen Bildern zeigst, in einem Bild. Wer sind die Opfer, wer sind die Täter? Die Bedrohung aus dem Nichts, doch vielleicht sollten wir uns mit dem Nichts näher beschäftigen. Es ist in all deinen Bildern Wirklichkeit geworden, die wirkliche Wirklichkeit.

Sandra del Pilar: Das Nichts, das du benennst, spielt in der Tat eine wichtige Rolle in meinen Arbeiten. Über das „Nicht Zeigbare“ haben wir bereits gesprochen. Es kann aber auch in anderer Form auftauchen, z.B. als das Nicht-Sichtbare einer bedrohlichen Situation oder einer diffusen Angst. Es kann auch etwas sein, um dessen Existenz wir zwar genau wissen (Gewalt z.B.) und deren Folgen wir sehr real erleben, deren innere Dimensionen aber jenseits des Be-Greifbaren liegen. Oder das Nichts – das sich im Übrigen auch zwischen der Leinwand und der Synthetikfaser befindet – ist etwas, was unsere Sinne anspricht und zum Klingen bringt, obgleich wir es nicht formulieren können, ich jedenfalls kann den beglückenden Vertrauen erregenden Geruch nach frischer Ölfarbe nicht einmal ansatzweise beschreiben.

(Anmerkung: Erstveröffentlichung im Mai 2021, alle Zugriffe im Internet wurden am 15. September 2022 noch einmal auf ihre Richtigkeit überprüft.)