„Wo man singt, …“

Mutige Wirklichkeiten in der DDR

„Ich glaube, die große Chance der politischen Kunst wird besonders auf dem Territorium des kommenden Gesamtdeutschlands liegen, in der für meine Begriffe ziemlich sicher ins Haus stehenden politischen Polarisierung. Leider geht die Polarisierung der Rechten schneller als die der Linken, was gleichzeitig wieder ein Thema für die politische Kunst ist, aber ich würde das nicht unbedingt für das einzige Thema halten. Da würde man es sich zu leicht machen, und wir haben da auch schon schwere Fehler gemacht – also, Ursachen suchen, woher der Neofaschismus kommt zum Beispiel. Der wird einfach von drüben rübergeschwemmt. Ich denke, da ist schon was dran, aber natürlich kann von drüben immer nur das bei uns Fuß fassen, wofür es tatsächlich eine Lücke gibt – das war auch in der Zeit, als die Mauer noch nicht offen war, oder in den Anfängen der Öffnung so.“ (Gina Pietsch am 2. Mai 1990)

Dieser Text ist nachzulesen in Michael Kleff / Hans-Eckardt Wenzel (Hrsg.), Kein Land in Sicht – Gespräche mit Liedermachern und Kabarettisten der DDR (Berlin, Ch. Links Verlag, 2019). Die beiden haben in den Jahren 1990 bis 1992 27 Liedermacher*innen und Kabarettist*innen interviewt. Ein Interview hat Michael Kleff mit Hans-Eckardt Wenzel geführt, beide Herausgeber haben ein Vorwort geschrieben. Das Buch enthält von Lutz Kirchenwitz zusammengestellte Informationen über die Biographien der interviewten Personen.

Michael Kleff zum Ziel des Buches: „Es geht darum, einmal geäußerte Ansichten zu dokumentieren, auch wenn sie sich mittlerweile geändert haben. Nur so lässt sich das Verwischen von Geschichte verhindern.“ Dies gelang nicht mit allen Interviewten. Barbara Thalheim, die mit einer Veröffentlichung des Interviews nicht einverstanden war, wird mit folgenden kurzen Sätzen zitiert: „Die Mehrheit der Menschen in diesem Teil Deutschlands möchte so werden wie die Mehrheit der Westdeutschen. Ich möchte das nicht. Und ich möchte das öffentlich sagen dürfen.“ Das Überleben nach der DDR als eine Art Kaspar-Hauser-Syndrom (im Sinne Peter Handkes)? Doch was ging verloren, in dem Land, in dem man nicht umziehen musste, um in einem anderen Land zu landen?

Das neue Interesse an der DDR

Das Erscheinungsdatum – 30 Jahre nach der Grenzöffnung – ist gut gewählt, denn Anfang der 1990er Jahre wären die Interviews vielleicht kaum beachtet worden, während sie heute in einer Zeit erscheinen, in der die DDR aus unterschiedlichen Gründen wieder Interessierte beschäftigt.

Der Grund, warum die DDR wieder interessant ist, ist nicht unbedingt koscher. Die Wahlerfolge einer Partei mit ziemlich unappetitlichen Ansichten werden von vielen Akteur*innen von Politik und Medien den Verhältnissen in der DDR vor 1989 und ihrer mangelnden „Aufarbeitung“ zugeschrieben. Die Antwort auf die Frage, ob man sich damit im „Westen“ aus der eigenen Verstrickung in diverse Probleme mit der Vergangenheit, auch im Hinblick auf die rabiate Kolonisierung der DDR nach 1989, herauswinden oder ob man nur die im „Westen“ schon immer gepflegte Dämonisierung von allem, was sich östlich des sogenannten „Eisernen Vorhangs“ befand, mit dem Ziel der eigenen Selbstsicherheit wiederaufleben lassen möchte, überlasse ich mal meinen Leser*innen.

Auf mich macht der Text von Gisela Pietsch einen geradezu prophetischen Eindruck. Die fast ausschließlich aus dem „Westen“ in das Gebiet der ehemaligen DDR übergesiedelten Politiker*innen der Partei mit den unappetitlichen Ansichten erreichten dort bei den Wahlen der vergangenen drei bis vier Jahre jeweils über 20 % der Bürger*innen. Viele der Wähler*innen haben die DDR gar nicht oder nur als kleine Kinder erlebt. Die erwähnte Partei hat offenbar eine „Marktlücke“ entdeckt, die unabhängig vom persönlichen Erleben der SED-Herrschaft zu bestehen scheint. Nicht dass es diesen Markt im „Westen“ nicht gegeben hätte bzw. nicht gäbe: die erwähnte Partei und ihre Vorläufer haben gute Wahlergebnisse in der Vergangenheit immer wieder auch im „Westen“ erreicht, nicht zuletzt im Heimatland der „schwäbischen Hausfrau“.

Aber nicht diese „Marktlücke“ ist Gegenstand des Buchs von Michael Kleff und Hans-Eckardt Wenzel, auch nicht dieser Rezension. Mindestens genauso interessant ist es, dem musikalischen und kabarettistischen Alltag in der DDR nachzuspüren, der vielfältiger war als man es im „Westen“ wahrhaben wollte und will. Es gab Menschen im „Westen“, die sich politisch eher links definierten, für die die DDR vor 1989 als Land eines Traums sozialer Gerechtigkeit und Gleichheit wirkte, der es erlaubte, über Repressionen hinwegzusehen, wenn man vielleicht von der Zeit rund um die Ausbürgerung von Wolf Biermann absieht. Für andere war die DDR das Land des kommunistischen Gottseibeiuns und ständige Bedrohung. Wer welche Verhältnisse auch immer in der alten Bundesrepublik kritisierte, musste sich vor 1989 oft genug den Spruch anhören: „Geh doch nach drüben.“ Sie alle aber verstanden den von Egon Bahr propagierten „Wandel durch Annäherung“ nicht als diplomatische Strategie, sondern als inhaltliches Gebot. Mit dem Alltagsleben in der DDR hatte das alles kaum etwas zu tun.

Die Produktionsverhältnisse

Wesentliche Veränderungen für Liedermacher*innen und Kabarettist*innen – und nicht nur für diese – nach 1989 betrafen Produktionsbedingungen und Publikum. Gisela May (Interview vom 8. September 1992) weist darauf hin, dass das Berliner Ensemble auf einmal zu etwa 80 Prozent „westliches Publikum“ hatte und dass die „ehemalige DDR-Bevölkerung (…) die drei- oder vierfachen Eintrittspreise, die es jetzt gibt, nicht mehr bezahlt.“ Andererseits: das neue Publikum sei „begeisterungsfähig“. Die Nachfrage veränderte sich jedoch, sodass viele Künstler*innen aus der inzwischen „ehemaligen“ DDR ihr Auskommen mit der Zeit eher durch Mitwirkung in westlichen Fernsehserien sicherten als durch Auftritte in Theater und Kleinkunstbühne (Gisela May in „Adelheid und ihre Mörder“, Wolfgang Stumph mit der Klamotte „Go Trabi go“ und mit der auf ihn zugeschnittenen Krimiserie „Von Fall zu Fall“, andere in verschiedenen Folgen des „Tatort“ oder dem ursprünglichen DDR-Format „Polizeiruf 110“,).

Dies ist die eine Seite des Neuen. Die andere ist die, dass die Künste nach 1989 einen Markt brauchten, während sie in der DDR auch dann ein Auskommen hatten, wenn sich nur wenige Interessierte fanden. In der DDR konnten manche von Lyrik leben. Damit veränderten sich auch die Hindernisse des Erfolgs: Die Rolle, die bis 1989 die von der DDR-Führung gesetzten Schikanen gegen ungeliebte Texte und ihre Autor*innen hatten, übernahm nach 1989 der „Markt“. Barbara Kellerbauer am 9. September 1992: „Ab Sommer neunzig liefen ja kaum noch Angebote, weil sämtliche unserer Häuser schlossen und das eine ganze Weile so ging. Ich hatte ein paar Konzerte in den alten Bundesländern und dann ab und an auch mal hier, aber das war schon schwierig.“

Volkslieder – schön und gut

Perry Friedman (1935 – 1995) war Kanadier. Er ließ sich 1959 nach einer auf einem KP-Kongress in London ausgesprochenen Einladung in der DDR nieder. Er war einer der Gründer des „Hootenanny-Klubs Berlin“, den die FDJ 1967 in „Oktoberklub“ umbenennen ließ. Klang zu amerikanisch. Er musste erleben, dass seine englischsprachigen Lieder wegen der Sprache nicht mehr gespielt wurden. Er wurde rehabilitiert, in die Beratergruppe der Singebewegung berufen und erhielt 1969 den Kunstpreis der FDJ.

In dem Interview vom 8. Februar 1991 berichtet er von seiner Verwunderung, „dass kaum Volkslieder gesungen wurden, vor allem von der Jugend nicht. Mir wurden viele Erklärungen dafür gegeben, von denen eine war, dass die Volkslieder während der Zeit des Dritten Reichs missbraucht worden seien, und ich habe gesagt: Na gut, aber die Volkslieder sind nicht verantwortlich dafür, dass sie missbraucht wurden. Die Leute, die sie missbraucht haben, waren verantwortlich, aber viele Volkslieder bleiben das, was sie waren, schön und gut.“

Das war nicht nur in der DDR so. Ich habe selbst erlebt, dass Volkslieder in Westdeutschland bei Linken und Liberalen lange Zeit verpönt waren und es oft genug heute noch sind, wie die mitunter recht merkwürdigen Debatten um den Heimatbegriff belegen. Auf internationalen Konferenzen geschah es abends immer wieder, dass alle Delegierten etwas vorsingen konnten, nur die Westdeutschen nicht. Volkslieder galten als Relikte einer zu überwindenden Vergangenheit und wurden mit der Zeit auch im „Westen“ zum politischen Kampfobjekt.

Die CDU beantragte in den Ländern mehr oder weniger regelmäßig, deutsches Liedgut auf den Lehrplan zu setzen. Solche Anträge stellt heute eine andere Partei. Der ehemalige hessische Kultusminister Christean Wagner (CDU) musste bei einem solchen Versuch erleben, wie die komplette grüne Landtagsfraktion, an ihrer Spitze Joschka Fischer, aufstand und eine eigene Version von „Im Frühtau zu Berge“ sang: „Wir sind schon losgegangen, den Wagner einzufangen“. Noch merkwürdiger wurde das Bashing von Volksliedern im „Westen“ bei denjenigen, die jeden, der ein Volkslied anstimmte, als Protofaschisten betrachteten, aber gleichzeitig jede türkische Volkstanzgruppe, selbst wenn sie von den „Grauen Wölfen“ gekommen wäre, als emanzipatorische Bewegung priesen.

Ost und West waren sich in diesem Punkt ähnlicher als sie glaubten. Volkslieder hatten und haben es schwer. Vielleicht ist auch das ein Grund für den Erfolg und die Wirkungen der amerikanischen Folk-Songs in West und Ost.

„Über den Wolken ….“

Die DDR war nicht nur „grau“. Sie war auf ihre Art ein buntes Land. „Ich will es nicht dramatisieren, es war nicht so, dass wir dauernd um unsere Freiheit oder unseren Landesaufenthalt bangen mussten, und einigermaßen davon leben können haben wir auch, aber es war schon für jeden, der es ernsthaft betrieb, eine ziemliche Gratwanderung. (…) und es gab Momente der wirklichen Gesellschaftskritik, die leider unter sehr vielen repräsentativen und großen Dingen verschüttet waren. Vor allem Geschichten, mit denen sich die FDJ ihren Internationalismus aufmotzen wollte, um ihn der DDR-Jugend glaubhaft zu machen.“ (Stefan Körbel am 3. Mai 1990)

Deutlicher kann man den Widerspruch, in dem alle, die sich in der DDR für Politik interessierten, lebten, kaum beschreiben. Internationalismus war nationale Aufgabe, doch zeigte das Lied, das in der FDJ gerne gesungen wurde und das im Titel des Vorworts von Hans-Eckardt Wenzel erscheint, unfreiwilllige Selbstironie: „Unser Lied die Ländergrenzen überfliegt ….

Lieder konnten fliegen, vielleicht nicht über Ländergrenzen hinweg, aber innerhalb des Landes erreichten sie etwas, das andere nicht erreichten. Welche Sänger*innen die Ländergrenzen überfliegen durften, war eine andere Frage. Gisela May berichtet, dass Reinhard Mey gebeten wurde, das Lied „Über den Wolken …“ in ihrer Sendung nicht zu singen, worauf er dies zugestand, aber den Wunsch äußerte, „einmal mit dem Flugzeug über Berlin zu kreisen. Dann würde er alles singen, was wir haben wollten. Das war natürlich noch viel schlimmer.“ (Interview vom 8. September 1992)

Mehrere der interviewten Liedermacher*innen und Kabarettist*innen heben hervor, dass sie mit ihren Liedern Dinge sagen konnten, die Journalist*innen und andere nicht sagen und schreiben durften. Vielleicht waren sie sogar die eigentliche Opposition. Oft enthielten Lieder und Texte Anspielungen, die das Publikum verstand, die aber möglicherweise von den Funktionsträger*innen in SED und FDJ entweder nicht verstanden oder vielleicht sogar aus welchen Gründen auch immer – zumindest zeitweilig – toleriert wurden.

Kontroversen und Verstrickungen

Im „Westen“ konnte man sich kaum vorstellen, dass in der DDR politisch kontroverse Ansichten offen ausgesprochen wurden. Aber es gab sie, auch wenn sie von der Parteiführung unterbunden wurden, mit Auftrittsverboten, mit Zensur, mit Verlust eines attraktiven Studien- oder Arbeitsplatzes, mit Verhaftung oder anderen Schikanen.

Noch viel weniger konnte man sich – wenn man von „gewerkschaftlich orientierten“ Linken in DKP und einigen mit ihr verbündeten politischen Gruppen absieht – im „Westen“ vorstellen, dass jemand an das Gute in der DDR glaubte. Mit geradezu inquisitorischer Beharrlichkeit wurde auch nach 1989 jahrelang von allen, die in irgendeiner Form sich der PDS bzw. der Linken verbunden fühlten, verlangt, die DDR in toto als „Unrechtsstaat“ zu bezeichnen, eine Art von Sippenhaftung, denn Unrecht wird nie von Staaten begangen, sondern von den Menschen, die diesen Staat machen. Eine Praxis, die Schule machte: Ähnliche Formen politischer Brandmarkung erleben heute Türk*innen, wenn sie für die Politik von Erdoĝan, oder Jüdinnen und Juden, wenn sie für die Politik von Netanjahu verantwortlich gemacht werden, jeweils unbeschadet ihrer tatsächlichen Ansichten, nach denen aber niemand fragt.

Gerhard Gundermann am 30. April 1990 zu den Hintergründen seines Lieds „Halte durch“, das 1988 erstmals veröffentlicht wurde, aber auch im Zeitalter von Fridays for Future immer noch aktuell ist: „Ich arbeite im Berg- und Tagebau, mache da die Kohle weg. Der offensichtliche Zwiespalt bei mir ist, dass ich genau auf das Haus zu baggere, in dem ich wohne. Die Bergleute sind Leute, die an dem Ast sägen, auf dem sie sitzen, und das bezahlt kriegen. Und wir können uns aussuchen, ob wir den Ast erhalten oder ob wir uns irgendwie weiter von unserer Arbeit ernähren wollen, und das ist ziemlich schwierig. Jetzt entscheiden das offensichtlich Umstände für uns, und das finde ich auch ganz gut.“

Gerhard Gundermann lebte und durchlitt den Grundkonflikt eines kritischen Geistes in der DDR. Er glaubte an das Gute im Kommunismus, trat in die SED ein, trat in der SED für seine Meinung ein, wurde wegen seiner kritischen Äußerungen wieder ausgeschlossen, ließ sich als IM „Gregori“ auf die Zusammenarbeit mit der Stasi ein. Er ist nicht der einzige der interviewten Liedermacher*innen mit einer solch schillernden Vergangenheit.

Die Aufrichtigkeit, mit der diese ehemaligen IM‘s jedoch mit ihrer Verstrickung umgehen, verbietet jede Verurteilung, nicht zuletzt weil eine solche Verurteilung nach 1989 eine der beliebtesten Methoden war, sich unliebsamer und ungeliebter Konkurrent*innen in welchem Lebensbereich auch immer zu entledigen, in West und Ost. Ich erlaube mir die These: NS-Täter*innen hatten es nach 1945 erheblich leichter, sich in die neuen Gesellschaften von BRD und DDR zu integrieren, als diejenigen, denen nach 1989 eine Stasi-Verstrickung nachgewiesen werden konnte. Es lohnt sich, auch unter diesem Gesichtspunkt den 2018 erschienenen Film „Gundermann“ von Andreas Dresen anzuschauen (auch auf Netflix verfügbar).

Tragische Aufarbeitung

Hans-Eckardt Wenzel berichtet in seinem Vorwort von „einem Polsterer, der kurz nach der Vereinigung von BRD und DDR ein Schild in sein Fenster stellte, um den absehbaren Ruin aufzuhalten und Kunden anzulocken: ‚Aufarbeiten hilft immer!‘“

Die Tragik der DDR liegt vielleicht darin, dass ihre Führung die von Marx und Engels zur Weiterentwicklung gesellschaftlicher Prozesse entwickelte dialektische Methode nicht anwenden wollte. Kritiker*innen aus dem „Westen“ machten sich dies zunutze und konnten all ihre negativen Sichtweisen fremder und eigener Welten auf die DDR und ihre Bewohner*innen übertragen, so auch heute noch. Gut und Böse, Schwarz und Weiß, alles sauber getrennt.

Peter Ensikat am 9. September 1992: „Was habe ich in diesen vierzig Jahren falsch gemacht? Ich muss es einfach, ich brauche das für mich selbst, und da sammelt sich natürlich eine ganze Menge. Wer vierzig Jahre DDR erlebt hat, der muss Fehler gemacht haben, das geht gar nicht anders. Wobei ich glaube, wer vierzig Jahre Bundesrepublik erlebt hat, der wird auch Fehler gemacht haben, aber der muss jetzt nicht mit sich abrechnen. Ich muss mit mir abrechnen lassen, und ich muss mit selbst abrechnen, und das ist etwas, das man tun sollte, so schmerzhaft es bei manchen Dingen ist.“ Wer diese Form von Aufarbeitung ernst nimmt, hat es vielleicht leichter, doch muss es auch jemanden geben, der dieses Bemühen um Aufarbeitung, beispielsweise von Gerhard Gundermann, ernst nimmt. Doch dazu braucht es Tiefe.

Bettina Wegner, die in Westdeutschland vor allem mit dem Lied „Sind so kleine Hände“ (1979) bekannt wurde, bedauert die „Verflachung von Beziehungen, die ich im Westen erlebt habe“ und fährt fort, „im Osten haben die Leute alles sehr ernst genommen, Freundschaften, Beziehungen. Wir hatten die schärfste Scheidungsquote, aber wenn man aufs Standesamt ging, war es ganz ernst und nicht wegen Steuernsparen und solchem Scheiß. Hier kenne ich das eigentlich nur so: Wie kann man sich am besten was finanziell aufteilen, ohne eigentlich Verantwortung zu übernehmen. Man ist hier clever, das müssen wir lernen. Mir ist das in neun Jahren nicht gelungen.“ (Interview vom 11. September 1992)

Ob Bettina Wegners Eindruck zu dem von Stefan Körbel passt, vermag ich nicht zu beurteilen. Er sagte am 3. Mai 1990: „Ich denke schon, dass diese DDR-Identität, die eine merkwürdige mit absurden und schlimmen Momenten war, wie jedes Leben auch etwas Schönes hatte. Ich kann mir nicht vorstellen, dass hier jemand nur unglücklich war und nur gelitten hat. Es war auch hier ungeheuer viel möglich.“

Und hier liegt das große Verdienst der beiden Herausgeber: sie machen mit ihrer Dokumentation Möglichkeiten und Wirklichkeiten – beide gibt es nur im Plural – gleichermaßen begreifbar, die kreative Menschen in der DDR erlebten, erlitten und nutzten, in all ihren Facetten, in all ihren Widersprüchlichkeiten und nicht zuletzt in ihrem Wechselspiel mit „westlichem“ Unwissen. Ehrlich, aufrichtig. Und vor allem eines: Kritik an politischen Entscheidungen oder Verhältnissen im „Westen“ war wohlfeil, in der DDR gehörte Mut dazu, viel Mut und bei allem Frust – auch Hoffnung und Zuversicht.

Norbert Reichel, Bonn

(Anmerkungen: Erstveröffentlichung im September 2019, die Internetlinks zu den drei folgenden Songtexten wurden am 17. September 2022 auf ihre Richtigkeit überprüft.)

Drei Kostproben:

Lied der Weltjugend (erste Strophe): „Jugend aller Nationen! Uns vereint gleicher Sinn, gleicher Mut! Wo auch immer wir wohnen, unser Glück auf dem Frieden beruht. In den düsteren Jahren haben wir es erfahren: Arm war das Leben wir aber geben Hoffnung der müden Welt. Unser Lied die Ländergrenzen überfliegt: Freundschaft siegt! Freundschaft siegt! Über Klüfte, die des Krieges Hader schuf, springt der Ruf, springt der Ruf: Freund, reih dich ein, dass vom Grauen wir die Welt befrein! Unser Lied die Ozeane überfliegt: Freundschaft siegt! Freundschaft siegt!“ (Anmerkung: Der Mainzer Karnevalist Ernst Neger übernahm in der Session 1964 die Melodie von Anatoli Nowikow und sang darauf den Text „Humba, Humba, Humba, Humba, Täterä“).

Gerhard Gundermann: „Halte durch“: „halte durch wenn’s irgendwie geht / bist doch ’ne kluge Frau / bist doch ein erfahrner Planet / wir machen dich zur Sau // Adam hat nach dem Apfel geblickt / du hast ihn freundlich rausgerückt / wir ham uns auf dir breit gemacht / am Anfang hast du noch gelacht // wir ham von unsern hohen Rossen / die Wildbahn zum Highway freigeschossen / Flora ist schon fast K.O./ Fauna stirbt in irgendeinem Zoo // halte durch . . .// wir ham den Amazonaswald zersägt / zur Strafe hast du Afrika das Wasser abgedreht / ach Mama das ist doch die falsche Adresse / das Abendland braucht auf die Fresse // du mußt uns so lange schlagen / bis wir lernen bitte zu sagen / bis wir stolz und glücklich sind / mit ’nem Appel und ’nem Ei und ’nem warmen Wind // halte durch . . . // was kann ich für dich tun ich weiß es nicht / bin zwar ein grünes doch ein kleines Licht / und bin auch ein feindlicher Soldat / der schon an deiner Haut gefressen hat // ich steh gegen dich an der Front / überlaufen hab ich noch nicht gekonnt / doch ich bin dein treuer Sohn / irgendwann da komm ich schon // halte durch.“

Bettina Wegner: „Ach, wenn ich doch als Mann auf diese Welt gekommen wär“: „Ach, wenn ich doch als Mann auf diese Welt gekommen wär, / da wär ich besser dran und wüsste, wie sie sind / und alles, was ich machte, wär sicher halb so schwer / und von der Liebe kriegte dann der andere das Kind. // Ich hätte monatlich nurmehr noch finanzielle Sorgen, / beim Tanzen könnt ich einfach fragen: Tanzen Sie? / Und würde ich mal wach mit einem Schmerz im Kopf am Morgen / würd es nicht heißen: Deine Migräne, Liebling, das ist Hysterie. // Ich könnte mich allein in jede Kneipe setzen, / kein Mensch würd in mir leichte Beute sehn / und mich mit widerlichen Blicken hetzen / ich könnte ungeschorn an jeder Ecke stehn. // Und dürfte auf der Straße seelenruhig rauchen, / kein giftger Blick von Damen würd mich streifen, / das kann man noch zur Männlichkeit gebrauchen / und alle Damen würden das begreifen. // Und wenn mir auf der Straße irgendwer gefiele, / da ging ich ran und würde ein Gespräch beginnen / und keiner hätte da so komische Gefühle, / dass ich ne Frau bin: Mensch, die Olle muss doch spinnen.// Beim Singen würde jeder auf die Worte hören, / kein Blick auf meine Beine oder Brust, / den Hörer würd nicht der Gedanke stören: / Na, könntste mit der Alten oder hättste keene Lust? // Und dann, wenn ich mal furchtbar nötig müsste, / vorausgesetzt, dass es schon dunkel ist, / da hätt ich heimlich, wenn das jemand wüsste, / ganz schnell an irgendeinen Baum gepisst. // Zu Hause würd ich stets das meiste Essen kriegen, / ach Mensch, ich wünsch mir so, ein Mann zu sein / und auch im Bett da dürft ich immer oben liegen / und keiner sagte: Kommse, ich helf se in den Mantel rein. // Das ist mir immer peinlich, weil ich das alleine kann / und Feuer geb ich selber furchtbar gern / und Türaufhalten dürfte ich als Mann / und müsst mich nicht bedanken bei den Herrn. // Und schließlich würd ich alle jene mal verprügeln, / die ihre Kinder mit in Kneipen zerrn, / ich würd ihn‘ ordentlich eins überbügeln, / wenn die besoffen lalln, sie hätten Kinder gern. // Das, was ich denk und sage, würde ernst genommen, / weil niemand dächte, dass ein Weib nicht denken kann / und wär ich mit dem Auto mal zu Fall gekommen, / hieß es nicht gleich: Lasst doch die Weiber nicht ans Steuer ran. // Ich hab genug von diesem kleinen Unterschied, / ich will das gleiche machen wie der Mann, / will, dass man einen Menschen in mir sieht / und dass ich wirklich gleichberechtigt walten kann. // Ach Gott, da müsste ich ja schließlich auch zur Volksarmee. / Na denn lieber nee? / Oder doch? / Und denn die kurzen Haare! / Na wärn ja bloß anderthalb Jahre!“