Das Tagebuch von Mariupol

Bericht der Augenzeugin Nataliia Sysova

Zum Jahrestag des russischen Angriffs auf die Ukraine veröffentlichte das Magazin des Landesverbandes der Jüdischen Gemeinden von Westfalen-Lippe (J.E.W.) seit April 2023 in fünf Folgen Auszüge aus dem Tagebuch von Nataliia Sysova, Augenzeugin der schrecklichen Ereignisse, die auf dem Gebiet des eingenommenen Mariupol geschehen sind.

Nataliia Sysova hat es wie durch ein Wunder geschafft, sich zu retten und ihr Tagebuch nach Deutschland zu bringen, das sie heimlich führen musste, ihr eigenes Leben riskierend. Die J.E.W.-Redaktion hat auf meine Anfrage hin den Text und die ihn illustrierenden Fotografien dem Demokratischen Salon zur Verfügung gestellt, damit wir ihn auch weiteren Öffentlichkeiten zugänglich machen. Dafür danke ich der Redaktion, namentlich dem Chefredakteur, Ramiel Tkachenko, dem Vorsitzenden der Jüdischen Gemeinden von Westfalen-Lippe, Zwi Rappoport, und ganz besonders der Autorin, Natalia Sisowa.

Besonderer Dank – so die Redaktion der J.E.W. – gebührt auch dem Vorsitzenden der jüdischen Gemeinde Kreis Recklinghausen, Dr. Mark Gutkin, der Nataliia Sysova persönlich getroffen, mit ihr gesprochen hat und der J.E.W. die wertvollen Tagebücher für die Publikation zur Verfügung gestellt hat. Auch diesem Dank schließe ich mich ausdrücklich an.

Die Kopien des handschriftlichen Tagebuchs werden sorgfältig in der J.E.W.-Redaktion aufbewahrt.

Die Anmerkungen der Autorin sind im Folgenden kursiv geschrieben.

Nataliia Sysova: Das Tagebuch von Mariupol

Vor Kurzem las ich bei Wikipedia, dass die Stadt Mariupol laut der Auswertung der UNO von Februar bis Ende April 2022 der tödlichste Ort in der Ukraine war und dass 350.000 Einwohner zu Flüchtlingen wurden.

Das Tagebuch von Mariupol, Seiten 1 bis 2. Foto: J.E.W.

Meine Geschichte handelt von der Lebensphase der Menschen, die aus verschiedenen Gründen nicht ausgereist sind: Pflege kranker, alter Menschen, Behinderung, Mangel an Transportmitteln oder an finanziellen Möglichkeiten, Ungläubigkeit, dass so etwas im 21. Jahrhundert geschehen konnte, dass man so lange unter Beschuss leben muss, ohne Licht, Wasser, Gas, Verbindung zur Außenwelt, Medikamente und Lebensmittel. Insgesamt ohne alle gewohnten Vorzüge der Zivilisation, die man im normalen Leben für selbstverständlich hält.

Mein Name ist Nataliia Sysova. Am 24. Februar 2022 war ich 56 Jahre alt, meine Mutter 86 Jahre, mein Schwiegervater 84 Jahre und meine Tante 80 Jahre alt.

Mein Haus wurde zu unserer Festung. Um den Verstand nicht zu verlieren, habe ich angefangen Tagebuch zu führen. Außerdem führte ich Tagebuch, weil die Überlebenschancen mit jedem Beschuss immer geringer wurden, ich aber wollte, dass die Kinder von den – wie es zu dem Zeitpunkt schien – letzten Tagen unseres Lebens erfahren. Erst später kam die Erkenntnis, dass diese Aufzeichnungen zu den Zeugenaussagen hinzugefügt werden müssen, welche Tausende von Menschen aus der ganzen Ukraine über den Genozid am ukrainischen Volk machen. Das, was wir gesehen haben und was wir durchstehen mussten, kann man nicht anders nennen.

Mir und meinen Familienangehörigen ist es gelungen, zu überleben. Ja, mehr noch, zwei Monate der Okkupation durchzustehen, zu überleben, was sich als noch schlimmer herausgestellt hat, als bombardiert zu werden. Ich habe die Stadt am 4. Juli 2022 verlassen. Ich fange von Anfang an.

„Der HERR ist meine Zuversicht“, Psalm 91:9

„Natascha, ehrlich gesagt, HABE ICH GROSSE ANGST.“ Mein Enkel Jan, 9 Jahre alt

24.Februar 2022

Der Krieg hat angefangen. Es ist der zweite Tag, seit ich von meinem Besuch bei Nastja (meine Tochter) aus Kiew zurückgekehrt bin. Besondere Vorräte an Lebensmitteln haben wir nicht zu Hause und die Erkenntnis, was geschieht, hat sich noch nicht eingestellt. Korrespondenz mit den Kindern, Anrufe, wachsende Sorge. Es gibt Licht, Wasser, Gas, Verbindung zur Außenwelt, Internet. Iwano-Frankiwsk, Kiew, Charkiw, Schtschastja werden beschossen und bombardiert.

25. Februar 2022

Der Flughafen wurde von Bomben getroffen. (3 Kilometer von meinem Haus entfernt) Ich habe mich im Bad versteckt. Der bargeldlose Geldverkehr wurde eingestellt, an den Tankstellen gibt es kilometerlange Schlangen, alle fliehen. An den Geldautomaten gibt es kein Geld, die Banken wurden geschlossen. Ich habe es noch rechtzeitig geschafft, Trockenfutter für Frosja (die Katze) zu kaufen. Sie bombardieren uns, doch es ist weit entfernt. Es gibt Licht, Wasser, Gas, Verbindung zur Außenwelt, Internet. Ich habe mit Olja (meine Schwiegertochter) telefoniert. Sie fahren fürs Erste nach Saporischschja. Möge der Schutzengel sie auf allen Wegen begleiten.

26. Februar 2022

Den ganzen Tag wird Sartana (Vorort von Mariupol, Bahnhof, Verkehrsknotenpunkt der Stadt) bombardiert, praktisch ohne Pause. Hnutove, Talakiwka und Wolnowacha sind unter Beschuss. Es gibt Licht, Wasser, Gas, Verbindung zur Außenwelt, Internet, das Fernsehen funktioniert. Geschäfte wurden geschlossen, Apotheken ebenfalls.

27. Februar 2022

Die Luftangriffe auf Sartana gehen weiter, Häuser wurden zerbombt, man versucht, die Menschen zu evakuieren. Die ganze Zeit fallen Schüsse und es sind Einschläge aus Grad-Raketen und Panzern zu hören. Lewobereshje und Kirow wurden beschossen. Noch gibt es alles: Licht, Wasser… Die Evakuierung der Zivilbevölkerung ist ein eigenes Gesprächsthema. Hatte die Stadtverwaltung eine solche Möglichkeit? Das ist eine Frage, die nach einer gesonderten Analyse verlangt, doch weil alle Sicherheitsbehörden und die Stadtverwaltung die Stadt in den ersten Kriegstagen verlassen haben, war niemand da, der die Evakuierung hätte organisieren können. Die Menschen zu retten, wurde zum Problem der Menschen selbst, der Zivilbevölkerung der Stadt. Alles wurde auch dadurch erschwert, dass die Tankstellen in der Stadt außer Betrieb waren, die Straßen beschossen wurden, die grünen Korridore, die während der Verkehrszeit erklärt worden waren, schlossen noch bevor sie eröffnet worden waren.  Bahnverbindungen waren außer Betrieb. In den ersten Tagen fuhren die Menschen in Richtung Ukraine hinaus, über Felder und Schotterpisten, unter großer Gefahr, auf eine Mine zu treffen oder unter Beschuss zu geraten. Und viele erreichten ihr Ziel nicht.

28. Februar 2022

Sie bombardierten von Flugzeugen aus die Hochspannungsleitungen, ganz in der Nähe, das Haus erzittert. Es gibt kein Licht, sie stören die Verbindung zur Außenwelt, der Wasserdruck ist schwach, sie bombardieren überall.

1. März 2022

Ich habe Schura (meine 86 Jahre alte Mutter) und Valja (meine 80 Jahre alte Tante) zu mir genommen. Tolik (mein Schwiegervater, 84 Jahre alt) weigert sich noch, er will seine Wohnung nicht zurücklassen. Die Menschen sitzen schon den vierten Tag in den Kellern. Es wird überall bombardiert. Wir haben uns nach unten im Haus begeben, in den Vorraum zum Keller. Es gibt immer weniger Wasser, wir haben keine Verbindung zur Außenwelt, auch kein Internet. Licht bekommt man nicht mehr.

2. März 2022

Sie beginnen aus der Richtung Berdjansk, Staryj Krym hereinzukommen. Der Beschuss kommt immer näher. In jedem Haus gibt es jetzt Flüchtlinge aus dem Bezirk Mariupol-Ost, vom Linksufer Mariupol, aus Sartana (Stadtteile, die als Erste unter Beschuss geraten sind). Das Unglück hat uns sehr miteinander vereint. Wir alle helfen uns gegenseitig. Jetzt verstehe ich noch mehr, was es bedeutet, wenn Nachbarn füreinander einstehen. Tolik kommt jeden Tag zu uns. Bleiben will er nicht. (Damit die Leser es besser verstehen: Ich lebte in der Nähe des Flughafens und des Handelshafens von Mariupol. Ich habe ein eigenes Haus und unsere Eigenheime wurden „Südliche Siedlung“ genannt, weiter waren da der Bezirk Tscherjomuschki und der Hafen. Alle meine Empfindungen, Zeugenaussagen und Fakten über den Krieg sind mit diesem Teil von Mariupol verbunden. In einen anderen Stadtteil zu gehen und zu fahren war nicht mehr möglich.) Es tut mir in der Seele weh um die Kinder und Enkel, ich weiß nichts von ihnen, alles wird blockiert. Habe im Arbeitszimmer Radio DNR (Volksrepublik Donezk) empfangen, doch es ekelt mich an, diesen Schwachsinn zu hören, ich habe wieder ausgeschaltet. Nichts als Lügen. Andere Informationen gibt es nicht. Es gibt noch Gas und unten läuft Wasser in einem dünnen Strahl, doch es ist grün. Trinkwasser gibt es seit dem 1. März nicht mehr, die Wasservorräte gehen zur Neige.

3. März 2022

Es fallen Schüsse, ganz in der Nähe und die ganze Zeit. Das Gebet rettet mich, ich höre nicht auf, zu beten und um Gnade der Rettung zu bitten, für uns alle, für meine Kinder und Enkelkinder und für die ganze Ukraine.

4. März 2022

Ein schrecklicher Tag. Der Süden und Tscherjomuschki wurden bombardiert, das Haus von Jakowlewitsch (unser Garten-Nachbar) wurde zerstört, Häuser, die Schule und die Kirche wurden getroffen.

Es ist unmöglich, die Angst wiederzugeben, doch so nah sind die Geschosse noch nie explodiert, es geht den ganzen Tag so, der Hof ist voller Splitter. Das Auto des Nachbarn wurde beschädigt, die Fenster seines Hauses sind geplatzt. Wir sitzen im Keller und kommen nicht heraus. Wir haben große Angst!

5. März 2022

Wir haben von einem Evakuierungskorridor für die Bevölkerung erfahren, von 11:00 bis 16:00 Uhr in Richtung Saporischschja. Jura Gubskij mit Natascha und Sascha (meine Nichte mit ihrer Familie, ihr Haus wurde zerbombt) und Zhenka mit Egor (die zweite Nichte und ihr Sohn) sind angekommen. Sie versuchten mit zwei Autos durchzukommen und kamen nach einer halben Stunde zurück, um 12:00 Uhr begann der Beschuss, der Korridor wurde geschlossen, alle sind auf der Otradnaja (die Straße, in der wir wohnen). Heute wird weniger bombardiert, aber in der Nähe.

6. März 2022

Wieder wird in der Nähe geschossen, eine Straße weiter brennen Häuser, am Anfang unserer Straße (500 Meter von meinem Haus entfernt) sind Einschläge von den Geschossen, der Zaun des Nachbarn wurde abgerissen, die Gasleitung wurde durchlöchert, Geschäfte, Apotheken und Häuser in Tscherjomuschki wurden zerstört, es gibt Opfer. Das Gas wurde abgestellt. Jetzt gibt es nichts mehr – Licht, Wasser, Gas, Internet, Verbindung zur Außenwelt.

Auf der Otradnaja sind Panzer eingefahren. (Zu dem Zeitpunkt habe ich zum ersten Mal das Z-Symbol auf Panzern und Schützenpanzerwagen gesehen, an deren Seiten Maschinenpistolenschützen gingen, die auf die Fenster zielten. Wie wir später verstanden haben, hatten sie veraltete Karten. Aus ihren Gesprächen per Funkgerät haben wir verstanden, dass sie sich verfahren und umgedreht hatten… Solche Bilder hatte ich nur in Kriegsfilmen gesehen, doch es war das Gefühl da, als seien die Faschisten gekommen.)

Meine Kinder, ich liebe euch und bete für euch!!! Gott schütze uns!!!

7. März 2022

Es ist überraschenderweise ruhig. Die Rede ist von Verhandlungen. Überhaupt gibt es viele Spekulationen und wenig Informationen. Seit fünf Uhr früh laufe ich, um Holz zu holen, solange nicht geschossen wird, und bringe Holz für den Kamin und den Grill. Die Großmütter brauchen etwas zu essen. Für mich ist es leichter, die Fastenzeit hat angefangen. Ich koche auf dem Grill. Die Nachbarn haben eine Wasserquelle gebohrt und alle mit Wasser versorgt. Man hat mir Eier, Mehl und zwei Dosen Büchsenfleisch gegeben. Ich werde es schaffen, meine alten Leute durchzubringen. Slavik (Nachbar) hat eine Zucchini mitgebracht. Vetal und Igor (Nachbarn) sind immer in der Nähe, jede Bitte um Hilfe wird sofort erhört. Kolja (Nachbar) bringt Milch (er hat eine Kuh). Auf der Otradnaja gehst du nicht unter, solange nur nicht geschossen wird. Vieles ist zerstört, die Stadt ist voller Ruinen. (Familie Gubskiy ist zu uns mit dem Wagen durchgekommen. Ihr fünfstöckiges Haus wurde von einer Bombe getroffen. Das Haus brennt.) Herr, erbarme dich unser und verzeih uns unsere Sünden!!! Olja und Nastja, Maksim, Janja, Sawwa, Alicia, Artur (meine Kinder und Enkelkinder). Ich liebe euch sehr!! Ich hoffe, wir sehen uns wieder!! (Sehr oft hatte ich das Gefühl, dass ich nicht überlebe, dass es der letzte Tag ist.) Ich möchte euch Osterbrot backen!!! In der Nacht wurde bombardiert. (In jener Nacht und in den darauffolgenden habe ich bis zu 50 Abflüge von Flugzeugen gezählt. Und dies, ohne umzudrehen. Die nächtlichen Bombardements waren furchteinflößender als alles andere. Das Bangen, wo die Bombe landet, ist unbeschreiblich.

8. März 2022

Am Morgen wurde wenig geschossen und ins Feld. Es ist Schnee gefallen. Etwa um 8 Uhr begann der Panzerbeschuss vom äußersten Ende der Otradnaja (d.h. hinter unseren Zäunen am Ende des Gemüsegartens standen die Zs und beschossen die Häuser). Sie beschossen Tscherjomuschki den ganzen Tag. Alles zitterte. Wieder gibt es Zerstörungen und Tote. Ich bete pausenlos, den ganzen Tag haben wir im Vorraum zum Keller gesessen. Es ist kalt, vor allem aber haben wir große Angst und davon fröstelt man noch mehr.  Am Abend sind die Panzer etwas weiter nach links in Richtung der Datschen weitergefahren und haben von dort aus geschossen. Ein schrecklicher Tag.

9. März 2022

Das Tagebuch von Mariupol, Seiten 3 bis 5. Foto: J.E.W.

Der Beschuss begann um 4 Uhr früh. Drei der Explosionen waren ganz in der Nähe. Ich habe gelernt zu verstehen, wo geschossen wird. Abends werden diese Stellen von Signalraketen beleuchtet und am Morgen wird dort bombardiert.  Am Morgen kam Tolik angelaufen, er ist am Leben und das ist gut. Alle Nachbarn arbeiten wieder zusammen. Igor pumpte Wasser. Er wirft den Wasserschlauch über unseren Zaun und in unserem Hof stehen Kannen, Plastikflaschen und Töpfe. Dann wirft er den Wasserschlauch in ein neues, nicht fertiggebautes Haus. Dort wohnt jetzt Iwan mit seiner Familie (das Haus von Jakowlewitsch wurde zerbombt) und noch irgendwelche Leute. Alle sind im Keller. Vitja Stupak hat Eier mitgebracht. Ich habe es noch rechtzeitig geschafft, auf dem Grill Borschtsch zu kochen und Fladenbrote zu backen. Über unseren Köpfen aber herrscht Lärm von den Schüssen. So ein Picknick habe ich noch nie erlebt. Der Samowar rettet uns, es gibt heißes Wasser. Ich habe mir sogar Kaffee gekocht. Tscherjomuschki brennt und wahrscheinlich auch eine Tankstelle. Der Qualm ist sehr schwarz. Das Radio empfängt nur DRN. Einen solchen Blödsinn habe ich in meinem ganzen Leben nicht gehört.

Alles ist zu Ende! Meine Kinder, ich sehe mir eure Fotos an, vermisse und liebe euch, ich hoffe und bete, dass bei euch alles gut wird. Wo seid ihr? Wie geht es euch? Das Schlimmste ist, nichts von der Familie zu wissen. Am Abend habe ich Frosja Baldrian gegeben. Wegen der Schießereien zittern die Tiere ohne Ende und haben einen irren Blick. Heute werden die ganze Zeit Grad-Raketen geschossen, Panzer, Kanonen, ich kann sie schon am Geräusch voneinander unterscheiden. Draußen ist es frostig und es schneit. Im Haus sind es +7°C. Es gibt wenig Informationen. Das Radio empfängt nur die russische Welle und DNR. Das kann man sich nicht länger als eine Minute am Stück anhören.

10. März 2022

Es wurde von fünf Uhr früh bis in den Abend geschossen. Es ist wieder der Bezirk 23 und etwas nähere Gebiete. Den ganzen Tag fliegen Flugzeuge, ihr Dröhnen ist schrecklich, es ist unklar, zu welcher Seite sie gehören (jetzt kann ich sagen, dass es russische Flugzeuge waren, es gibt inzwischen mehr Informationen über jene Tage, die wir in Kellern verbrachten – doch damals waren es nur Geräusche von Flugzeugen und Angst, weil es unklar war, wo die Bomben fallen). Überhaupt ist alles unklar – wer schießt, wo wessen Geschütze stehen, es ist einfach nur Kanonendonner, den ganzen Tag. Wenn es weiter weg ist als einen Kilometer, kommen wir alle in den Hof hinaus, zu den Grills und Öfen, wir haben uns an die Explosionen der Geschosse gewöhnt, man muss es rechtzeitig schaffen, Wasser zu erhitzen und irgendwas zu kochen. (Die Lage mit den Lebensmitteln wurde immer schlechter, die Geschäfte sind zerschlagen und ausgeraubt, es gibt keine humanitäre Hilfe, alle sammelten ihre ganzen Vorräte und teilten sie nach Tagen ein, doch auch dies ging zur Neige, es kam die Angst auf, dass ich es nicht schaffe, meine alten Leute durchzubringen. Ihre Kindheit war während des Zweiten Weltkriegs, sie erinnern sich an den Hunger…).

Ich verstehe, wie schwierig es jetzt für uns alle ist, besonders für meine Großmütter, denn ihre Krankheiten sind nicht verschwunden, der Krieg fügte nur noch hinzu, wie es ist, sich in ein kaltes Bett zu legen, in voller Bekleidung und in Mützen unter zwei Decken zu schlafen, mehrmals in der Nacht seine Notdurft zu verrichten – ohne Licht, nur dem Tastsinn nach – und sich wieder ins kalte Bett zu legen, dabei die ganze Zeit Explosionen der Geschosse hörend… Das Wort „baden“ wird zu einem Traum. Und dennoch ist auch das erträglich, aber wie ist es mit kleinen Kindern oder mit bettlägerigen Kranken? Die Nachbarin hat eine onkologische Diagnose. Wie soll das gehen?

Wir alle sitzen im Keller, überall ist Ruß, das Waschen von Kleidung ist im Moment auch ein Problem, die gewohnte Methode funktioniert nicht, weil es kein Licht und kein Wasser gibt. Ich bemühe mich, das Haus sauber zu halten, es ist eher ein Beruhigungsmittel als ein Bedürfnis.

Sie schießen die ganze Zeit, woher haben sie so viele Geschosse? Ich hörte im Radio (habe auf dem Telefon FM empfangen, die Telefone haben wir nacheinander bei den Nachbarn am Generator aufgeladen, haben Benzin von Motorrädern und Autos abgelassen, um nicht ganz ohne Verbindung zu bleiben) die Ergebnisse der Verhandlungen von Lavrov und Kuleba in der Türkei (es gab noch Hoffnung, dass dieser ganze Albtraum bald zu Ende ist), den unseren (Radiosender, Anm. d. Red.) hat man uns natürlich nicht hören lassen (Übertragung auf Radio DNR), Lavrov aber hat nichts Neues gesagt, so überzeugt zu lügen hat er in so vielen Jahren der diplomatischen Tätigkeit wahrscheinlich gut gelernt.

Ich küsse euch, meine Lieben, und liebe euch!

11. März 2022

Der Beschuss hat um 5:30 Uhr am gleichen Ort angefangen. Heute ist es sehr kalt, es ist viel Schnee gefallen, ich habe mich, mein Sohn, erinnert, wie wir ohne Gas überlebt haben, als wir das Haus gebaut haben, und bin hingegangen, um das Frühstück am Kamin zuzubereiten. Es hat geklappt, es gibt jetzt Holzvorräte im Haus, für den Fall, dass man wegen des Beschusses nicht auf die Straße gehen kann, habe ich gelernt, Holz von Kleinholz bis zu Holzscheiten zu hacken, auch wenn es keine Freude macht, gibt es im Leben viele andere angenehme Momente. Die Omas und der Opa sind satt und ich habe sogar Kaffee mit Konfitüre getrunken. Ich habe den Hof gereinigt, Igor Stupak (Sohn meiner Nachbarn, ist mit seiner Familie vor dem Beschuss des Stadtteils Wostochnij geflohen, ihre Wohnung und das Haus sind zerstört) kam an und hackte Holz für den Grill. Ich habe Fladenbrote aus Erbsen anstatt Brot auf dem Feuer im Hof gebacken und für Dima (Nachbar, 7 Jahre alt) Süßes, mit Kakaopulver, einen Schokoladenkuchen.

An die Explosionen der Geschosse haben wir uns gewöhnt, Hauptsache man rennt schnell ins Haus, wenn es in der Nähe ist, und schafft es nach unten bis zum Vorraum zum Keller. Igor (Nachbar) pumpte Wasser aus der Quelle, wieder haben wir im Hof eine Schlange am Zaun. Es ist ähnlich wie in Leningrad während der Blockade, die Menschen kommen mit Eimern, Behältern, Schüsseln, Plastikflaschen (die meisten kannte ich nicht einmal, man sagte Freunden weiter, dass man hier Wasser holen kann, und sie kamen von überall hergelaufen) und natürlich gibt es die aktuellsten Nachrichten, wer was wo gehört und gesehen hat. Schade, dass es gar keine guten Nachrichten gibt – ich habe beschlossen, mir die schlechten nicht anzuhören, davon haben wir auch so genug… Das Einzige, was erfreulich war, dass Kiew standhaft ist; ich hoffe, mein Mädchen (Tochter), dass bei dir alles klappt und ihr irgendwie zusammen überlebt. Wie gerne ich euch alle umarmen würde, meine Kinder und Enkel, meine Lieben, meine Teuersten. Ich gehe nach oben (ins zweite Stockwerk meines Hauses), dort gibt es Radioempfang, ich sitze in deinem Anglerstuhl neben deiner Kleidung, mein Sohn, die Sachen riechen noch nach dir, ich streichle sie.

Nastena (Tochter), deine Creme-Kerze ist sehr hilfreich, die Hände trocknen von Feuer, Kälte und Ruß aus und die Haut wird rissig und es gibt viele Wunden an den Händen. Abends zünde ich deine Kerze an, creme die Hände mit dem geschmolzenen Wachs ein und spreche mit dir, sehe dich, wie du sie mir geschenkt hast… Ich liebe dich. Wir überstehen alles, wir hoffen nur, dass sie aufhören zu schießen. Heute ist der 14. Tag, an dem wir bombardiert werden, und der 16. Tag seit Beginn des Krieges – aber es scheint eine Ewigkeit zu sein!

Jetzt schlafen wir alle unten, die Omas auf dem Sofa im Sportraum, ich aber habe ein Klappbett aus Odessa mitgebracht und es im Flur vor dem Heizungskeller aufgestellt, und in den Vorraum zum Keller zwei Sessel für die Omas getragen.

Wenn stark bombardiert wird, sitzen wir dort, da gibt es keine Fenster, es fällt kein Glas hinein und es gibt eine tragende Wand. Alles wird gut! Mit G“ttes Hilfe!!!

12. März 2022

Um vier Uhr bombardierten sie von Flugzeugen aus, fünf Flugzeuge mit je drei Bomben, im Bereich des Saporischschja Verkehrstraktes (den Geräuschen nach bestimmten wir die Richtung, von meinem Haus aus sind es nur ein paar Kilometer). Es ist furchtbar und unheimlich, wenn man das Dröhnen des Flugzeugs hört und nicht weiß, wohin es fliegt. Danach war es still und wieder beängstigend, jetzt ist es neun Uhr und es schlagen Grad-Raketen ein. Ich schaffe es nicht einmal, daran zu denken, was jetzt dort mit den Menschen passiert, wohin das alles fliegt… Wieder fliegen die Flugzeuge. Mein Herr, hilf uns, rette uns und erweise uns Sündern Gnade!!!

13. März 2022

Seit dem Morgen bombardierten sie von Flugzeugen aus, und das für lange Zeit. Von der Stadt ist nur noch wenig übriggeblieben. Igor, Vetal und Jura Gubskij sind mit Fahrrädern zu einer Erkundungsfahrt aufgebrochen und brachten traurige Bilder auf ihren Telefonen mit: Viele zerstörte Häuser im Stadtzentrum, das Hauptziel der Fahrt war es, etwas zu essen zu finden, Geschäfte sind geschlossen, „Zerkalny“ (das Geschäft) öffnet manchmal noch, die Leute stehen ab fünf Uhr früh in der Schlange, um 2kg gefrorene Kartoffeln für 350 Hrywnjas (ca. 8,69 €, Anm. d. Red.) zu bekommen, sonst gibt es nichts. Alle warten auf humanitäre Hilfe, doch niemand versteht, wo und wann es sie gibt. Vetal hat es geschafft Olja (Schwiegertochter) und Nastja (Tochter) SMS zu schicken, doch sie kamen nicht an… wo seid ihr? Wie geht es euch? Wenn weniger bombardiert wird, versuche ich es, bis zum „Kaskad“ (Geschäft in Tscherjomuschki, dort gab es manchmal mobilen Empfang) zu laufen, dort hat man Empfang. Ich habe allen zu essen gegeben, es sind noch Vorräte für etwa sieben Tage übrig, weiter weiß ich nicht…

14. März 2022

In der Nacht und am Morgen bombardierten sie von Flugzeugen aus. Die ganze Stadt, von diesem Dröhnen zieht sich innen alles zusammen. Tagsüber habe ich im Hof Essen zubereitet und direkt über dem Haus flog eine Rakete, über dem Kopf, sehr tief, in Richtung der Fabriken, mit dem Geräusch eines Schnellflugzeugs, nur schrecklicher. So eine schöne Stadt haben sie zerstört, und wofür??? Heute ist es warm geworden, alle sind draußen, im Haus ist es kälter. Von den Stepanischewyje bis zu den Schapowalowyje leben wir alle wie eine Familie (es sind 6 Häuser), die Zäune sind wie ausradiert (zu dem Zeitpunkt habe ich noch nicht gewusst, dass sie zwei Wochen später nach einigen Volltreffern auch im wörtlichen Sinn verschwunden sein werden), und das ist sehr unterstützend. Wenn ich noch wüsste, wie es den Kindern geht, wäre es leichter. Ich liebe euch, meine Liebsten!!!

15. März 2022

Ich mag schon nicht mehr über die Bombardements schreiben, ich weiß nicht, was von der Stadt übrig ist – die ganze Nacht bombardieren sie von Flugzeugen aus. Sie können die Stadt nicht auf dem Landweg einnehmen, also geben sie uns vom Himmel aus den Rest. Ich habe erfahren, dass Nastja in der Slowakei ist, wahrscheinlich ist das gut, Details gibt es nicht. Ich denke, dass Artur (Schwiegersohn) sie nicht alleine mit Manjunja (Alicia, Enkelin, 1 Jahr und 4 Monate alt) geschickt hat. Es gibt viele Fragen, doch die Hauptsache ist, dass sie am Leben und möglichst weit weg von diesem Schrecken sind. Wenn ich nur wüsste, wie es Artur selbst geht? (Wie sich später herausgestellt hat, war er in der Heimatverteidigung in Kiew.) Wo ist Olja mit den Kindern? Sie sind doch nicht etwa… Nein! Wir werden uns wiedersehen!!! Mögen die Mutter Gottes und der Herr euch beschützen, meine Kinder!!! Ich liebe euch!!!

16. März 2022

Zwei Seiten aus dem Originaltagebuch. Jüdische Gemeinde Recklinghausen.

Ich habe heute Nacht bis zu 59 Bomben von Flugzeugen aus gezählt, danach bin ich durcheinandergekommen, sie bombardieren die ganze Nacht. Heute bin ich in Mamas Wohnung gegangen, um die Reste ihrer Vorräte zu holen, das sind 200g Buchweizen und eine Packung Nudeln (ein neunstöckiges Haus in Tscherjomuschki, von hier aus zu Fuß sind es 10 Min.). Bin in einen Beschuss geraten, als ich in der 5. Etage war, das neunstöckige Nachbarhaus und das Krankenhaus der Eisenbahner wurden getroffen, das Haus begann wie ein Kartenhaus zu schwanken, ich dachte, ich komme dort nicht mehr raus, die Leute rannten nach unten, Schreie und Staub, es flogen Balken durchs Treppenhaus, ich aber wurde aus irgendeinem Grund langsamer, verließ die Wohnung (den Buchweizen habe ich übrigens nicht mitgenommen), schloss die Tür ab und begann nach unten zu gehen, über die Balken steigend. Der Hof war leer, es brannten nur Autos und irgendwas fiel herunter, aus dem Hauseingang nebenan rief irgendeine Frau hysterisch nach Kolja, ich aber ging langsam über den Hof und sah das alles aus irgendeinem Grund wie von der Seite, von oben: mich selbst, den Hof, die brennenden Autos, und das Haus, es war ein Gefühl, als wäre die Seele aus mir herausgeflogen.

Leute haben mich in den Keller des Nachbarhauses geschleppt, ich war die Letzte, die in Mamas Wohnung war – ein Geschoss hat das Haus getroffen, dann mehr als eins und alles ist niedergebrannt, danach aber kam noch mehr geflogen und vom Haus blieb nur die Rückwand übrig. 9 Stockwerke, 8 Hauseingänge, nichts ist übriggeblieben. Leute, bettlägerige Invaliden, alle, die es nicht geschafft haben, herauszukommen, sind bei lebendigem Leibe verbrannt, viele sind im Hof umgekommen, sie hatten es nicht mehr bis zum Unterschlupf geschafft… in einem Haus ist das Schicksal der ganzen Stadt. Ich bin später zu Bewusstsein gekommen, auf dem Weg nachhause, Explosionen und Schreie hörend, hörte ich nicht auf, das „Jungfrau Maria, freue dich“ zu beten. Danke, mein G“tt, dass du mich am Leben gelassen hast… So schrecklich ist es noch nie vorher gewesen.

17. März 2022

In der Nacht wurde bombardiert, man gewöhnt sich an alles, auch daran. Es ist nur beängstigend, wenn ein Flugzeug über das Haus hinweg fliegt… Es ist erstaunlich: Seit 20 Tagen beschießt man uns dauernd mit allen möglichen Waffen und bombardiert uns von Flugzeugen aus, und man gewöhnt sich an diese Erschütterungen durch die Kanonade der Explosionen. Andauernd ist da die Angst, die innere und äußere Kälte, der Wunsch sich zu waschen, sauberes Wasser zu trinken und normal zu essen – an etwas Höheres denkt man nicht mehr, keine Kunst, Literatur, Malerei; es sind nur noch die Überlebensinstinkte. Das Gebet und das Lesen von Psalmen helfen. Ja, es gibt auch viel körperliche Arbeit, man muss sich um Feuerholz, die Wasserversorgung, das Räumen der Splitter von zerborstenen Geschossen auf dem Hof, man wird immer müder. Die Tränen von Tante Valja, Mamas unnötige Ratschläge und Anweisungen, die Aggression des Schwiegervaters, der Mangel an Wasser, Licht und Wärme fangen an, mich zu ermüden… Ich warte auf den zweiten Atem, hoffe auf G“ttes Erbarmen.

Es geht das Gerücht um, dass man am Hafen Mitarbeitern Arbeitsbücher ausgibt. Der Hafen hat am 26. Februar seinen Betrieb eingestellt, doch die Hafenverwaltung hat Wohnraum auf einem Eisbrecher organisiert, für Mitarbeiter, deren Häuser zerstört wurden. Die Verwaltung hat die Menschen noch eine Weile mit Lebensmitteln unterstützt, auf dem Hafengelände waren zu der Zeit noch ukrainische Truppen. Wobei aktiv Gerüchte verbreitet wurden, dass im Hafen schon russische Schiffe stehen. Mein Bruder Jura und meine Nichte Zhenja konnten auf Fahrrädern hinfahren, um Arbeitsbücher zu holen, und haben das Gerücht über die russischen Schiffe in die Welt gesetzt. (Wenig später standen dort tatsächlich zum Angriff bereite Kriegsschiffe und beschossen die Stadt vom Meer aus.)

18. März 2022

Heute habe ich erfahren, dass Nastja (Tochter) schon in Tschechien ist und Olja (Schwiegertochter) in Deutschland. Es ist gut, dass ihr all dieses Grauen nicht seht, bleibt für immer dort, hier gibt es nicht so bald irgendwas. Es wäre schön, wenn Artur (Schwiegersohn) es schaffen würde, zu Nastja durchzukommen, doch ich verstehe, dass es jetzt unrealistisch ist, denn er hat den Weg des Kriegers gewählt und verteidigt unsere Heimat.

(Zu der Zeit schien mir, als würde dieses Grauen niemals enden, die Stadt zerfiel vor unseren Augen, wie Häuser auf Sand, man beerdigte die Menschen in den Höfen von Hochhäusern und in Gemüsegärten, es lagen aber auch viele Leichen einfach auf der Straße, dort wo der letzte Moment des Lebens sie ereilte. Solche Herausforderungen wünscht keine Mutter der Welt ihren Kindern.)

Uns erwartet die Volksrepublik Donezk, wie wir weiterleben sollen, weiß ich nicht. Ich lebe von Tag zu Tag mit einem Wunsch: zu überleben und dass das Haus stehenbleibt und heil bleibt. Weiter weiß ich nicht. Allein der Gedanke, dass hier ein TERRITORIUM, kein Staat, sein wird, ist gruselig und traurig. Diese Isolation von der ganzen zivilisierten Welt ist ein dunkles Loch. Ich will nicht in der Volksrepublik Donezk leben, in einem Land, die meine Welt zerstört hat. Doch daran denke ich später – wie Scarlett O’Hara – jetzt aber muss ich im Kamin Suppe und Brei für die Omas kochen. Außerdem sind es, als wäre es Absicht, -10° bis -12°C, das Zittern ist zum normalen Zustand geworden. Es fühlt sich an, als wäre ich in irgendeinen Horrorfilm geraten, hoffentlich hat er ein Happy End.

Ich liebe euch, meine Kinder und Enkelkinder, ich bete für euch, trinkt für mich einen Kaffee in einem Café und nehmt ein heißes Bad… ich werde es aushalten… ich küsse und umarme euch!!!

19. März 2022

Seit heute Morgen wird geschossen.

Die Stadtteile Bachchik, Komsomolez, Balka und die Richtung nach Melekino (das ist der Stadtteil Primorskij und Vorstadtsiedlungen, von meinem Haus ist das alles fünf bis zehn Kilometer entfernt). Gestern wollten viele Leute die Stadt mit Autos verlassen, die Schlange in Richtung Melekino begann am Geschäft „Grazia“, oder besser gesagt an seinen Überbleibseln, das sind etwa 15-20 km bis zur Stadtgrenze. Es findet eine Säuberung statt, einmal kam ein Flugzeug an, die Ukrainischen Streitkräfte werden in Richtung Rybatskij (Vorort von Mariupol in Richtung Berdjansk) verdrängt.

Heute holte man mit einer Pumpe Wasser aus der Quelle, jetzt wird es einmal in vier Tagen Wasser geben, das Benzin für den Generator geht zur Neige, wir haben es schon aus allen Autos und Motorrädern abgepumpt. Man lebt von Tag zu Tag… Jetzt ist es glasklar, was „hier und jetzt“ bedeutet. Man möchte, dass alles schneller vorbeigeht und dass sie aufhören zu schießen. Selbst im Albtraum konnte ich mir nicht vorstellen, dass ich in so ein Leben gerate. Danke G“tt, dass wir am Leben sind!!! Ich schreibe jetzt am Kamin, während darin etwas zubereitet wird und man die Hände aufwärmen kann. Wir warten darauf, dass es wärmer wird, wir wollen die Sonne sehen…

20. März 2022

Dass geschossen und bombardiert wird, braucht man nicht mehr zu schreiben – das ist alltäglich geworden, findet nur an unterschiedlichen Orten in der Stadt statt, doch vor allem in unserem Stadtteil, Primorskij. Ich wache von der Schießerei aus einem Panzer in unserem Stadtteil um vier Uhr morgens auf, dann kommen die Grad-Raketen, und vorher flogen nachts die Flugzeuge. Eigentlich klingt der Ausdruck „ich wache auf“ seltsam, während aktive Kriegshandlungen stattfinden. Es ist die Zeit des Friedens, in der du dich in ein warmes, sauberes Bett legst, dich streckst, dich in die Decke einkuschelst, die kleine Lampe ausmachst und in süßen, tiefen Schlaf fällst. Jetzt ist es anders. Dein Bett ist weit davon entfernt, warm und sauber zu sein, du trägst keinen Pyjama, sondern einen warmen Sportanzug, darüber eine Pelzjacke mit einer Kapuze und eine Mütze; dann muss man zwei Decken um den ganzen Körper feststecken, um sich gegen Wind zu schützen; am Kopfende versucht die Katze unter die Kapuze zu kriechen, an den Füßen liegt der Hund, sie haben die meiste Angst vor den ständigen Explosionen – und das alles nennt man Schlaf…

Heute ist ein weiterer Nachbar, Slawik Stupak, abgereist. Die Lebensmittel gehen uns aus und die Menschen verlassen die Stadt auf alle möglichen Weisen. Es gibt Leute, die daran verdienen wollen, 250 $ pro Person bis Berdjansk. Es ist jedes Mal traurig, alle versuchen die Stadt zu verlassen, egal wie, zu Fuß und in Autos, es bleiben vor allem diejenigen, die die Kranken und Alten nicht zurücklassen können, die keine Mittel für die Abreise haben oder einfach nichts in ihrem Leben verändern wollen, auch wenn Krieg herrscht.

Ukrainische Nachrichten gibt es praktisch keine und das Radio Donezk kann man nur schwer länger als zwei Minuten hören. Ich liebe mein Land, die Ukraine, und bete dafür!

21. März 2022

Schwarzer Rauch über der ganzen Balka, Cherjomushki brennt, Hochhäuser brennen, darin sind Menschen, kranke oder alte, diejenigen, die es nicht geschafft hatten, aus dem Haus herauszukommen; es brennen private Häuser, Geschäfte, Tankstellen, Krankenhäuser und Kindergärten, und überall hatten sich Menschen versteckt. Es wird pausenlos geschossen und bombardiert.

Es ist wärmer geworden, wir wärmen uns draußen auf, im Haus ist es kälter. Heute habe ich Artur telefonisch erreicht, die erste vertraute Stimme seit so vielen Tagen, jetzt weiß ich mehr darüber, wie es den Kindern geht, und es hat mich beruhigt. („Telefonisch erreicht“, noch ein Ausdruck aus der Friedenszeit. Ein gewöhnlicher Anruf auf dem Handy ist für uns die einfachste Möglichkeit, die Stimme eines Verwandten zu hören, Informationen zu bekommen. In jenen Tagen aber musste man es schaffen, das Telefon am Generator aufzuladen, während Wasser gepumpt wurde, was selten geschah, dann einen Moment erwischen, wenn das Feuer nachgelassen hat, und zu dem Punkt laufen, wo man Handyempfang bekommt, etwa 1,5 km von zuhause entfernt, sich dann hin und her drehen, bis man Empfang hat, und in der Position stehenbleiben, um miteinander zu sprechen. Und man hatte viel Glück, wenn man jemanden erreicht hatte. Ich habe probiert, alle bekannten Nummern aus dem Telefonbuch anzurufen, damit man den Kindern Bescheid gab, dass wir noch leben. Irgendwie hat es geklappt, jemanden zu erreichen, der die Stadt am ersten Tag des Krieges verlassen hatte und in dem Moment schon in Deutschland war; ich habe ihm erklärt, dass ich meine Schwiegertochter nicht erreichen kann und ihn bitte, sie nochmal anzurufen. Derjenige antwortete mir: „Dann versuchen Sie es doch über Viber.“ Ich verstand, dass wir nun auf dem gleichen Planeten, aber in verschiedenen Dimensionen lebten. Das Leben in Frieden ist ganz anders, mit anderen Gewohnheiten. Die Hölle, in der wir uns befanden, war natürlich unverständlich für die Menschen, die weiterhin in einer friedlichen Umgebung lebten. Deswegen möchte ich, dass die Leute wissen, wie schrecklich es ist – der Krieg – dass sie wissen, dass niemand davor sicher ist, dass sie den Frieden schätzen, ihn wirklich schätzen und alles tun, was jeder von uns Erdenbewohnern tun kann, damit sich so etwas nicht wiederholt.)

Es ist unheimlich und schmerzhaft, durch Cherjomushki zu gehen, Häuser sind zerstört, fünf- und neunstöckige Gebäude stehen wie riesige Invaliden, nicht ein Haus ist heil geblieben, das zerbrochene Glas liegt als dicke Schicht auf dem Asphalt, vor den Treppenhäusern haben die Leute Öfen gebaut, sie holzen die Bäume ab und kochen, was man aus den kargen Vorräten zubereiten kann. In die Wohnungen geht man nicht, man wohnt in den Kellern, die Gesichter… alle sind müde. In Blumenbeeten sind Grabstätten. Ganze Familien mit Kindern, Kreuze aus abgeholzten Bäumen und handgeschriebene Schilder, wer, und das ungefähre Datum. Alle Geschäfte, Apotheken und die Post sind geplündert worden, man trägt alles hinaus, was man im Feuer verbrennen kann. Die meisten, die eine Möglichkeit haben, sind weggefahren.

22. März 2022

Heute sprach ich 20 Minuten mit Maxim!!! (Mein Sohn, der zu Beginn des Krieges auf Dienstreise in Amerika war.) Durch welches Wunder ich ihn telefonisch erreichen konnte, weiß ich nicht. (Später hat sich herausgestellt, dass er mich nicht erreichen konnte und jedes Mal Geld auf mein Telefonguthaben eingezahlt hat, weil er dachte, das Problem bestehe darin. Dies sind Kategorien, in denen man in friedlichen Zeiten gedacht hat, deswegen hat sich eine ordentliche Summe fürs Roaming angesammelt und ich habe ihn erreicht, einen weiteren Versuch unternehmend, vertraute Stimmen zu hören.) Zu der Zeit wurden ukrainische Mobilnetz-Betreiber schon stummgeschaltet, doch an einigen „glücklichen Orten“ konnte man doch noch durchkommen. Später wird es auch diese Möglichkeit nicht mehr geben. Die ukrainische Mobilfunkverbindung wird gekappt, andere Quellen der Verbindung wird es auch lange nicht mehr geben.

Dann rief Olja an (die Frau des Sohnes) – so viel Freude an einem Tag hat es lange nicht mehr gegeben. (Vor dem Krieg waren das aber die gewöhnlichen Momente des Lebens.) Alle meine Kinder bestehen darauf, auszureisen, es fällt ihnen schwer zu verstehen, dass die Stadt abgeriegelt ist, es kein Benzin gibt (was übrig war, hat man für die Generatoren abgelassen) und die Mutter, die sich in friedlichen Zeiten jederzeit hinters Steuer setzte und jede Entfernung zurücklegte, jetzt hier fest sitzt, durch eine Menge von Umständen an Händen und Füßen gefesselt, und nicht einmal bis Melekino fahren kann, was nur 10 km von der Stadt entfernt ist und wo es alles gibt: Licht, Wasser, Wärme, Verbindung. Zu ihnen fahren kann ich noch nicht, weder zu Olja noch zu Nastja. Arthur besteht auch darauf, in die Pension Melekino herüberzufahren, die Schlüssel liegen für mich bereit. ICH KANN NICHT! Danke, Kinder, dass ihr euch kümmert! Das gibt zusätzliche Kraft und festigt den Willen, zu überleben. Ich liebe euch und hoffe sehr auf ein Treffen!

Die Omas und der Opa sind meine hauptsächlichen Anker! 80, 84 und 86 Jahre alt, eine Menge Wehwehchen, seniles Grummeln, auch wenn man sie verstehen kann, die Kinder des Zweiten Weltkrieges sind im Alter in ihre schreckliche Kindheit zurückgekehrt und sind wieder hilflos, erschrocken, sie frieren und ich kann nicht sagen, dass sie Hunger leiden, doch das Essen und die Freude am Leben sind sicher nicht im Überfluss. Solange ich nicht sicher sein kann, dass für sie gesorgt sein wird, kann ich nicht wegfahren. Die Möglichkeit zusammen auszureisen wollen sie nicht einmal in Betracht ziehen – „sterben werden wir hier“.

Ich möchte ein heißes Bad, ein sauberes Bett und Stille. Welch einfache Dinge am wichtigsten geworden sind und wie ich es früher nicht einmal bemerkte, es waren gewöhnliche Elemente des friedlichen Lebens.

Die Stadt … so schön war die Stadt am Meer und jetzt bist du fort, nur noch Ruinen sind übrig.

23. März 2022

Heute ist wieder ein Fest – zwei Gespräche mit Arthur und Nastja!!! Ich habe Nastja und Manjusha (meine Enkelin Alicia war zu der Zeit 1 Jahr und 5 Monate alt) gehört, meine lieben Mädchen. Ich bin glücklich, dass meine Kinder selbstständig sind, ich mache mir keine Sorgen um sie, man braucht ihnen nicht beim Laufen zu helfen, sie machen alles richtig. Olja wartet in Deutschland, Nastja in Tschechien. Man sucht Freiwillige, Benzin für mich … Am Abend habe ich geweint, hatte große Sehnsucht und war wahrscheinlich auch müde von den Explosionen, der Kälte, dem Ruß und vielem mehr … Ich bin mir sicher, dass früher oder später Mariupol eine schöne ukrainische Stadt in der europäischen Familie sein wird! Ich will in einem demokratischen Staat leben, nicht in einem autoritären, und ganz bestimmt nicht auf einem Territorium, dass von der ganzen Welt nicht anerkannt wird; es ist nicht mal mehr wie in den 90ern, es ist ein Albtraum und man möchte schneller aufwachen.

Die Flugzeuge bombardieren, ich lief von Tscherjomushki nachhause, von der Stelle, wo es telefonischen Empfang gibt, in der Nähe gab es Explosionen.

24. März 2022

Seit dem Morgen herrscht ein solcher Schusswechsel ganz in der Nähe, heute gehe ich nicht zum Telefonieren, es ist sehr gefährlich, ich koche im Hof Mittagessen auf dem Grill. Heute gibt es Erbsensuppe, Erbsen in Wasser mit Zwiebeln und Karotten angereichert, von gegrillten Rippchen träumen wir nicht einmal, Zwieback gibt es auch nicht und Brot gibt es auch lange nicht mehr … ich habe den Omas und dem Opa zu essen gegeben. Es schmerzt, auf die Hände zu schauen, der Ruß hat sich festgefressen und die Haut an den Ecken der Fingernägel ist brüchig geworden, es sind tiefe kleine Wunden, die nicht über Nacht heilen, so sieht jetzt die Maniküre aus. Aber das macht nichts, das kann man ausbessern…

Heute werde ich im Haus aufräumen, ich will dem Krieg nicht an allem die Schuld geben und das Haus verkommen lassen, ich halte Ordnung, so gut ich es unter diesen Umständen kann. (Später habe ich erfahren, dass solche Handlungen in der Psychologie „Ablegen von Ängsten“ genannt werden: Angstzustände durch körperliche Arbeit überstehen. Auch wenn es genug körperliche Arbeit gab, sogar mehr als nötig, gab es so viel Angst, dass man sie schwer messen und auf physikalischer Ebene bewerten kann, es ist eine animalische Angst und der Kampf ums Überleben.) Vielleicht schaffe ich es in die Sauna der Nachbarn, heute ist Frauentag. Alle zwei Wochen haben die Nachbarn mit Holz in ihrem Keller die Sauna angeheizt, um die Mutter zu waschen, der Krebs war der Hauptgrund für die Schwäche meiner Nachbarin Galina, G-tt hab sie selig, sie hat den Krieg nicht überlebt, sie hätte in die Klinik nach Kiew für weitere Behandlungen fahren müssen. Es hat nicht geklappt … die Stadt ist abgeriegelt und es gab niemanden und keine Stelle, um in der Stadt Hilfe zu leisten.

Die Sauna wurde schnell kalt, man hat uns nicht gerufen, wir badeten bei uns in der Wanne bei 7°C, doch der so mühsam erhitzte Eimer mit heißem Wasser sollte nicht verschwendet werden. Auch wenn es kalt ist, ist es besser als nichts …

Am Abend kamen die Kraniche angeflogen … Krieg und Frieden …

25. März 2022

Wieder wurde die ganze Nacht bombardiert und es kamen neue, gewaltigere Explosionen aus Geschützen dazu. Nah, ganz in der Nähe. Heute lief ich wieder zum Telefonieren und hörte die vertrauten Stimmen. Ich habe mich sehr erschrocken, als irgendeine raupenförmige Technik mit den Jungs von den ukrainischen Streitkräften vorbeifuhr. Erst hörte man ganz nahe das laute Geräusch einer sich nähernden Rakete, dann tauchte auf dem Weg das da auf (ähnlich einer Selbstfahrlafette).

26. März 2022

Auf der Parussnaja (Nachbarstraße) wurde um 5 Uhr morgens ein Privathaus zerbombt. Das Haus ist abgebrannt, im Keller haben Leute überlebt: sechs Erwachsene und zwei Kinder. Es stellte sich heraus, dass es Verwandte der Koroljowy sind, deren Haus auch abgebrannt ist. Ein Haus, das mit eigenen Händen mit viel Liebe gebaut wurde, mit einer Geschichte der Geburt und des Aufwachsens von Kindern in diesem Haus, mit Familientraditionen und Schaschlik an Feiertagen im Hof.

Ich kann mich nicht damit abfinden, dass uns im 21. Jahrhundert russische Flugzeuge und russische Panzer erschießen. Denn in diesem Haus war niemand außer zivilen Einwohnern. Gegen wen führen sie Krieg??? Wie lange werden solche Herausforderungen noch dauern? Antworten gibt es noch nicht.

Heute pumpten wir Wasser, ich bin wieder im Hof dran. Viele haben bereits Herzanfälle, Panikattacken, Müdigkeit …

Ich versuche Tolik (Schwiegervater) nach Aksaj zu schicken, er hat dort Verwandte. Igor Stupak (der Nachbar) verspricht, ihn die Tage mitzunehmen, sobald er die Frage nach dem Benzin gelöst hat. Er versucht die Frau, das Kind und die Großmutter im Auto eines Freundes durch Rostow herauszubringen, sie sind schon zu fünft, doch er verspricht … dann bleiben nur die Omas, der Hund und die Katze. Für mich ziehe ich eine Flucht durch Russland nicht in Betracht, überhaupt nicht. Doch ich verurteile die jungen Leute nicht, jeder entscheidet für sich selbst. Das Leben der Familie steht auf dem Spiel und hier kommen die Geschosse jeden Tag näher.

Ich denke darüber nach, nach Melekino zu fahren, doch im Moment wird stark geschossen. Die Strecke nach Saporischschja ist geschlossen, aus Berdjansk fahren schon viele heraus, ich möchte nicht auf dem Weg ohne Tankstellen steckenbleiben, und das wäre nicht einmal die schlimmste Variante. G-tt, gib mir Kraft und Geduld!!!

27. März 2022

Nachts wurde nicht geschossen, doch morgens schoss man auf Tscherjomushki und Kirowka (ein Stadtteil neben Tscherjomushki), ganz nah, von der Nachbarstraße aus.

Igor hat Benzin mitgebracht!!! Zwischen Mariupol und Melekino hat man zwei Straßensperren errichtet – eine davon durch russische Militärs, dahinter Miliz der Volksrepublik Donezk. Es hat geklappt, dort zu passieren, 10 km von uns entfernt gibt es alles. Die Männer werden bis auf die Unterhosen ausgezogen, man schaut sich ihre Tätowierungen, Spuren am Körper vom Tragen von Waffen, Verletzungen an. Man muss den Pass und das Arbeitsbuch bei sich führen, das nachweist, dass man vor dem Krieg in Mariupol gearbeitet hat.

Morgen plant man herauszufahren, ich mache Tolik für die Reise fertig, viele dieser Vorbereitungen lasse ich zwischen den Tagebuchzeilen, es gibt einen enttäuschenden Nachgeschmack, der Krieg offenbart leider nicht nur die guten, sondern auch die schlechten Seiten der Menschen.

Nach dem morgendlichen Beschuss verschwand die gesamte Verbindung! Und unsere Mobilfunk-Betreiber waren für uns nun für immer nicht erreichbar. Das Telefon hat nur noch eine Funktion, als Taschenlampe. Es ist wieder kalt geworden und es ist sehr windig. Über die Schrecken des Krieges möchte ich schon gar nicht mehr schreiben. Wer das nicht selbst gefühlt hat (wie Grishkowez schrieb: „Man muss hier nicht verstehen, man muss es selbst fühlen.“), der wird diesen Zustand NIEMALS begreifen!!! Und G-tt sei Dank ist es so! Beschuss, Angst bis zu Schüttelfrost am ganzen Körper, die Kälte, der Dreck, der Ruß überall: Das Zepter-Geschirr ist nichts mehr wert und unterscheidet sich nicht mehr von einem gewöhnlichen Emaille-Topf, alle Teller und Tassen sind ganz gewöhnlich, das Wichtigste ist die Menge der Lebensmittel richtig einzuschätzen, um die Alten durchzubringen … wie man überhaupt überlebt und morgens aufwacht, wenn man es denn geschafft hat zu schlafen, Nörgeleien und hysterische Anfälle der Menschen um sich herum zu überstehen, die durch Müdigkeit und Angst entstehen. Ständig kommen Leute zu den Nachbarn, meine Bekannten, deren Häuser und Wohnungen zerbombt wurden. Sie haben keinen Ort zum Wohnen mehr. Immer mehr von uns sind auf der Straße. Man kann nicht alles aufzählen, ich weiß schon nicht mehr, was mehr Angst macht – wenn sie schießen oder wenn es ruhig ist. Alle bitten nur um eines: Sie sollen aufhören zu schießen!!! Keine Psyche übersteht eine solche Anspannung für so lange…

28. März 2022

Heute ist meine Mutter 86 Jahre alt geworden, es ist der zweite Krieg in ihrem Leben. Den ersten hat sie als Kind am Kursker Bogen im Timsky Bezirk mit ihrer Mutter, ihrer Tante, ihren zwei minderjährigen Brüdern und der Schwester erlebt, als Russin. Jetzt aber sind die Russen gekommen, um sie vom ruhigen Leben, der Rente, der Wohnung zu „befreien“ (Mutters neunstöckiges Haus ist wegen der Bombardements und dem Beschuss niedergebrannt) – G-tt, lass sie diesen Krieg überleben, den Russland uns gebracht hat!

Sie bombardierten die ganze Nacht …

Heute ist Tolik weggefahren. Die ganze Straße verabschiedete sich von Igors Wagen. Tränen. Niemand wusste, wie diese Reise endet, ob wir uns wiedersehen. Wie und wann sie ankommen, weiß ich nicht, seit gestern sind wir vom Netz getrennt. Wie der Krieg uns alle verstreut hat, wie stark er die gewohnte Lebensweise verändert hat. (Später erfuhr ich, dass sie zwölf Tage lang 40 km von uns entfernt an der Grenze gestanden hatten, eine Filterung durchmachten, die ganzen Tage im Auto).

Die Strecke nach Saporischschja ist schon den fünften Tag geschlossen und jetzt erfahre ich nicht einmal mehr etwas über Korridore. Wahrscheinlich werde ich es nicht mehr schaffen, hinauszufahren.

Witalij und ich fuhren nach Melekino, unsere erste Fahrt hinaus „in die Gesellschaft“. Auch dort gibt es keine Verbindung und man sagt, in keinem der eroberten Territorien gibt es sie. („Phönix“ ist das Mobilnetz der Volksrepublik Donezk.) Jetzt erwartet uns die innere Verbindung der Volksrepublik Donezk. In Melekino, dort wo die Pension ist, fand ich niemanden. Irgendjemand namens Sascha hat die Schlüssel, Vodafone funktioniert nicht mehr, wo man danach suchen soll, weiß ich nicht, wahrscheinlich hat das auch keinen Sinn mehr – die Miliz der Volksrepublik Donezk hat ihre Flagge an der Einfahrt aufgehängt und alle gewarnt, dieses Territorium bis zum 3. April zu verlassen. Was danach kommt, ist unklar, wahrscheinlich werden sie ihre Leute wie Hausbesetzer ansiedeln, bis zum Meer sind es 100 Meter, die Wohnbedingungen sind großartig. (Zu dem Zeitpunkt ahnte ich nicht einmal, was uns Anfang April erwartet.) Es wird also nichts daraus, eine Weile mit Licht und Wasser zu leben.

Das Hauptziel jeder Fahrt über die Stadtgrenzen ist die Suche nach Lebensmitteln und Benzin. Und überhaupt schien es an diesem Tag auf einmal, als würde im Leben etwas klappen, wenn auch mit Mühe, durch Straßensperren – wir haben es geschafft, die Stadt zu verlassen, dorthin, wo es Anzeichen für gewöhnliches Leben und Lebensmittel gab. Am Busbahnhof wurde ein Markt organisiert. Händler verkaufen von den Autos aus Spirituosen, Zigaretten, Konfekt, Zwiebeln, Karotten, Rote Bete und Kohl. Die Leute tragen sich in eine Liste für Brot ein, das es in einigen Tagen gibt. Alles erinnert sehr an die 90er, nur noch schlimmer, man hat uns um 50 Jahre in die Vergangenheit zurückversetzt. Ich habe einen Kohlkopf für 90 Hrywnjas gekauft (vor dem Krieg kostete es maximal 10 Hrywnjas) und für die Omas gekochte Wurst für 260 Hrywnjas pro Kilo (50 Hrywnjas vorher). Wir standen vier Stunden für Benzin in der Schlange an … Das Leben wird wieder besser?!

Die Bücher sind die Rettung, doch das ist zu wenig, um die Realität zu vergessen. Wie lange kann ein Mensch es noch unter solchen Bedingungen aushalten? Am Straßenrand stehen kaputte Panzer, Autos, in den Feldern sind schwarze Krater von den explodierten Geschossen, die Zerstörung ist riesig. Im Radio informierte man über die Verwaltungen der Bezirke der Volksrepublik Donezk in Mariupol. Die Einwohner meines Primorsker Bezirks können jetzt die Machthaber in Melekino suchen, das mit dem administrativen Teil der Stadt nichts zu tun hat. Die Absurdität geht weiter. Wie in dem Klassiker: „Es haben sich Pferde und Menschen zu einem Haufen vermischt.“ Es fühlt sich an, als sei ich auf einem anderen Planeten gelandet – er gefällt mir nicht, doch es gibt kein Ticket zurück. Jeden Tag grüßt das Murmeltier – Beschuss, Lagerfeuer, Ruß, verrußte Töpfe und man muss das Geschirr mit kaltem Wasser waschen. Viele Menschen fliehen auf verschiedene Weise, unter großem Risiko für Leib und Leben. Von uns sind immer weniger übrig, doch es gibt immer mehr Fragen.

Meine lieben Kinder, ich glaube fest daran, dass wir uns wiedersehen!!! Ihr sollt wissen, dass ich mich immer mit euch gefreut und mitgelitten habe, ihr seid meine Besten, ich bin stolz auf eure Erfolge, versucht in diesem Leben zusammenzubleiben. Die Familie ist eine große Kraft! Ich liebe euch! Schafft es, die Aufrichtigkeit in euren Beziehungen und das Vertrauen zu bewahren. Ohne den Glauben aneinander ist es sehr schwer, eine wirkliche Familie zu gründen, macht eure Familien nicht zu einer einfachen Wohngemeinschaft. Ich liebe euch, meine Lieben!

29. März 2022

Ich bin nach Portivske, Manhusch und Wolodarskoje gefahren, um Lebensmittel zu besorgen (Siedlungen in der Nähe von Mariupol). Das erste Mal fuhr ich mit dem eigenen Auto, ich habe das normale Leben vermisst (frei in der Auswahl des Ortes, der Zeit und der Handlungen zu sein). Es hat geklappt, vor dem Beschuss rauszufahren und man hat uns durch die Straßensperren gelassen, die Nachbarn hatten aber kein Glück, sie hat man in die Stadt zurückgeschickt. Wir sind ins oberste Stockwerk des Verwaltungsgebäudes durchgekommen, haben das WLAN-Passwort erfahren und – oh Wunder! Ich habe Olja telefonisch erreicht. Ich habe meinen lieben Enkel Jan gehört! Mein lieber Janusja (Anm.: Kosename), wie gerne möchte ich dich umarmen! Das größte Glück am heutigen Tag ist es, zu fühlen, dass meine Kinder sich um mich sorgen. Danke, Maksim, mein Sohn, für deine Sorge, meine liebe Olja, Nastja und Arthur, danke euch!!! Es gab keine Möglichkeit, euch zu erklären, dass in der Stadt gerade eine andere Realität herrscht, ich freue mich, dass ihr Möglichkeiten für mich wegen des Benzins und Autokolonnen mit Freiwilligen sucht, damit ich hinausfahren kann, doch hier und jetzt wird das nicht klappen. Es ist unrealistisch, die Stadt wie in friedlichen Zeiten zu durchqueren, um zum Treffpunkt zu gelangen. Alle Straßen sind durch Fliegerbomben zerstört, innerhalb der Stadt wird ständig geschossen, zu Fuß kommt man nicht zwischen den fliegenden Geschossen durch und erst recht nicht mit dem Auto. Wir haben es geschafft, auf der Suche nach Lebensmitteln auf Schotterpisten und Landstraßen die Stadt über die Felder zu verlassen. Die Metalurhiv Allee wird den zweiten Tag bombardiert, die Schießereien in der Stadt hören nicht auf, Richtung Melekino fahre ich über die Gärten, und dort danach zu Straßensperren der Volksrepublik Donezk. Die Männer werden bis auf die Unterhosen ausgezogen, Witalij wäre heute beinahe festgehalten worden.

Doch euer Wunsch, mir zu helfen und eure Suche nach Lösungen wärmt mein Herz, danke, meine Lieben. Wir werden einen Ausweg aus der Sackgasse suchen. Glaubt mir, ich kann hier besser sehen, wann man wegfahren kann. Noch geht das nicht. Der Hauptgrund ist die Sicherheit auf dem Weg und die Abwesenheit grüner Korridore. Ich möchte euch sehr gerne sehen und umarmen, in die Zivilisation und die Wärme zu kommen, doch man muss warten. Und wie gerne hätte ich ein Tässchen guten Kaffee!

30. März 2022

Wieder die Kanonen, wieder sind Panzer hinter dem Zaun, sie schießen in Richtung der Morjakow-Siedlung (etwa 2 km von meinem Haus entfernt). Doch das wundert nicht mehr. Es wundert, dass Kinder auf unserer Straße zu dem Geräusch der explodierenden Geschosse Fahrrad fahren und wir Wasser tragen. Heute wasche ich auf eine schon lange vergessene Weise die Wäsche – mit den Händen in einer Schüssel. Ich bereite Mittagessen auf dem Grill zu. Alle Nachbarn sind in den Höfen. Es versteckt sich schon niemand mehr und lässt sich von diesen Schüssen nicht ablenken. Man hat sich daran gewöhnt. Ich ging in den Garten, um nachzuschauen, was mit den Rosen ist. Es ist Zeit, sie wie jeden Frühling zu stutzen. Folgendes Bild bot sich mir: Im Nachbarhof sind vor dem Hintergrund des zerstörten Hauses (das Geschoss flog durchs Dach) nur die Wände übriggeblieben, unter den Schüssen der Panzer sitzt eine Frau in einem Korbstuhl und liest ein Buch. Die Beine sind mit einer Decke bedeckt und man sieht, dass sie ganz bei ihnen, bei den Helden des Buches, ist. Es ist ein Bild für einen Film über den Krieg in Mariupol und ich habe schon viele solcher Bilder in meinem Kopf.

Gestern, als ich WLAN empfangen habe, strömten Meldungen auf allen Social-Media-Kanälen herein. Danke an alle, die sich an mich erinnern, mit mir mitleiden, Hilfe und Obdach anbieten. Doch mit mir passiert etwas, das für mich selbst bisher unerklärlich ist. Je länger dieser Albtraum andauert, umso schwächer wird mein Wunsch, wegzufahren. Mein Haus ist mir sehr wichtig, meine Stadt, wie es sich herausgestellt hat, auch die Beziehungen, die man unter den Nachbarn während des Krieges aufgebaut hat. Natürlich verstehe ich, dass es eher die Emotionen sind, das Leben diktiert uns andere Regeln des Überlebens und des Handelns, doch in diesem Moment bin ich G-tt dafür dankbar, dass ich am Leben bin und mein Haus meine Festung ist!!!

Und noch mehr, heute Abend wurden wir ins Dampfbad der Stupaks eingeladen, das Glück verbirgt sich in den Kleinigkeiten!!!

Wieder fliegt ein Flugzeug und wieder ist es unheimlich: Wo? Wen wird es treffen? Herr, erbarme dich uns Sündern und verzeih!!! Alle haben nur eine Frage: Womit haben wir all das verdient??? Und warum bricht so viel Unglück und Zerstörung über Mariupol herein? 10 Kilometer von uns entfernt gibt es Licht, Wasser, Essen, es ist warm, es wird nicht geschossen und alle leben ihr gewohntes Leben. Meine arme Stadt. Sie war so schön, mit Parks und Grünanlagen, mit einer Anlegestelle am Meer, Cafés, Springbrunnen. Und was ist übrig? Nichts … Nicht einmal im Albtraum konnte man ein solches Bild träumen. Wer kommt wann hierher zurück? Es gibt keine Arbeit, keinen Wohnraum, die Schulen sind zerstört, nichts ist heil geblieben. Und trotzdem glaube ich (denn ich bin eine Optimistin), dass unsere Stadt wieder erblühen wird, dass die Leute zurückkehren und dass es wieder Leben geben wird … Und allen, die nach dieser Blockade in Mariupol überleben, sollte man einen Heldenstatus verleihen – ja, man braucht nicht mehr zu warten, kann diese Menschen jetzt schon Helden nennen, wenn sie so etwas durchgestanden und die Menschlichkeit bewahrt haben (nicht alle, natürlich, aber die meisten). Vielleicht gibt es heute viel Lyrik und Emotionen, doch man muss darüber sprechen und schreiben. (Später erfuhr ich, dass man Mariupol in jenen Tagen den Titel der Heldenstadt verliehen hat, und da soll man nicht glauben, dass Gedanken sich materialisieren können.)

31. März 2022

Die ganze Nacht wurde bombardiert und am Tag brannte ganz in der Nähe die Scheune meines Bruders nach einem Volltreffer ab (das ist nur 40 Meter von meinem Haus entfernt). Genau zu diesem Zeitpunkt war Jura dort, ein Bruchstück eines Betonblocks hat ihm den Kopf durchgeschlagen, die Wunde ist tief, es gibt keinen Ort, wo man sie nähen könnte, viel Blut im Gesicht, es wurde im Rahmen des Möglichen Hilfe geleistet. Die Explosionen der Geschosse sind ganz in der Nähe, wir sitzen im Keller, es ist unheimlich, sehr unheimlich …

1. April 2022

Dieser Tag wurde für mich zum Höhepunkt aller Kriegsereignisse …

Der Tag, an dem ich am Leben blieb!!! Herr, ich danke dir für das Leben! Sie zerbombten die ganze Straße: Der Hof vor dem Haus wurde getroffen, die Tanne hat uns gerettet, wir haben sie 1996 zu meinem Jubiläum als ganz kleinen Baum gepflanzt. 26 Jahre später hat sie mein Haus vor einem Volltreffer gerettet – sie wurde durch ein Geschoss gefällt. Die Druckwelle hat das ganze Fensterglas zerschlagen, die Hausfassade und das Dach wurden getroffen, 30 Minuten später flog etwas auf den Hinterhof, das Geschoss traf die Gartenlaube, ich sah aus dem Keller, wie das Feuer ins Haus flog und sofort zurückkehrte. Ein Horrorfilm wurde real. Die Zerstörungen genauso: Der Zaun und die Gartenlaube sind weg, die Wände sind eingeschlagen. Auf dem Boden liegen Glas, Stücke des Betonblocks, Erde und der Geruch von Schießpulver. Durch die Druckwelle wurde die eiserne Kellertür eingeschlagen, dahinter war eine hölzerne Tür – es hat sie ans Ende des Raumes geworfen, es gibt viel Zerstörung, doch all das ist unwichtig. Die ANGST, die du durchlebst, auf dem Boden im Vorraum sitzend und den Kopf mit den Händen bedeckend, während von oben alles einstürzt und zusammenfällt und die Geschosse in deinem Hof explodieren – kein Psychiater kann dich von ihr befreien. Es ist unklar, ob du am Leben bleibst!!! Am Abend haben sie (die Zs, die Russen) die Richtung des Beschusses geändert und der gleiche Schrecken traf die Nachbarstraßen. Man kann hinausgehen und sich das Ausmaß der Zerstörung anschauen: Es gibt nun keine Zäune mehr, wir besuchen einander ohne Tore. Lilis (meine Nachbarin) Haus brennt, die Familie (Oma, Opa, Enkel, Tochter) haben es geschafft, sich in Juras Keller zu retten; sie verstanden, dass das Haus brennt, als die Plastikrohre im Keller begannen zu schmelzen. Ihr Haus brannte noch drei Tage, es war windig, es gab nichts zum Löschen, es gibt kein Wasser, der Beschuss dauerte an. Versucht nur, euch den Zustand der Leute vorzustellen, die mehr als eine Generation in diesem Haus gelebt haben…

Wenn es im weiteren Verlauf nicht noch schlimmer wird, werde ich den 1. April als meinen zweiten Geburtstag feiern.

Wind zieht durchs Haus, Brandgeruch und Staub mischen sich mit Schießpulver, überall ist Glas …

Dokumente der Zerstörung (alle auf youtube)

(Anmerkungen: Einrichtung des Textes und redaktionelle Einführung – diese unter weitgehender Verwendung des Textes im J.E.W. – für den Demokratischen Salon Norbert Reichel, Veröffentlichung im Demokratischen Salon von April bis September 2023. Die Texte wurden anschließend in einem Dokument zusammengefügt. Internetzugriffe zuletzt am 25. September 2023. Die Bilder der Seiten des Tagebuchs wurden mir von J.E.W. zur Verfügung gestellt. Titelbild Hans Peter Schaefer. )