„Demokratie in Maßen?

Verfassungsschutz im Rechtsstaat“

Was sind die Ergebnisse der Untersuchungsausschüsse zum Breidscheidplatz und zum „Nationalsozialistischen Untergrund (NSU)“? Darum ging es im Grünen Salon Bonn/Rhein Sieg am 7. Februar mit Dr. Irene Mihalic. Sie ist ehemalige Polizistin, promovierte Kriminologin, Abgeordnete des deutschen Bundestags und innenpolitische Sprecherin der Bundestagsfraktion von Bündnis 90/ Die Grünen. Gegenstand der Debatte war u.a die Frage, wie der Verfassungsschutz in die Lage versetzt werden könnte, seine Aufgabe im freiheitlich-demokratischen Rechtsstaat sachgerecht zu erfüllen.

In beiden Fällen gibt es trotz der akribischen Recherche der Abgeordneten nach wie vor offene Fragen, insbesondere dazu, ob es sich bei dem NSU-Trio und bei Amri A. um Einzeltäter*innen handelte oder ob sie ggf. auch Teil eines größeren Netzwerkes waren, das – zumindest im Falle des NSU – nach wie vor tätig sei. Für die Staatsanwaltschaft habe es durchaus Grenzen gegeben, sich mit diesen Fragen zu befassen weil sie sich bei der Anklageerhebung – an Fristen gebunden – an das halten musste, was als gerichtsfeste Erkenntnis bewertet werden konnte.

Manches spricht dafür, dass es um den NSU ein größeres Netzwerk gegeben haben muss, denn ohne Grundwissen über die jeweiligen Tatorte wäre die Ausführung der Morde kaum möglich gewesen. Offen bleibt auch, welche Erkenntnisse noch laufende „Strukturermittlungsverfahren“, die zum Teil mit Anzeigen gegen Unbekannt geführt werden, ergeben werden. Im Fall „Amri A.“ steht fest, dass die ursprüngliche Aussage der Bundesregierung, der Täter sei ein Einzeltäter und damit ein „reiner Polizeifall“ und nur im BAMF bekannt gewesen, sich als falsch herausgestellt hat. Der Verfassungsschutz führte eine Akte, auch das Terrorabwehrzentrum hatte sich mit ihm befasst.

Details zu den diversen Pleiten und Pannen, nicht zuletzt zur Zerstörung von Unterlagen durch die sogenannte „Aktion Konfetti“, aber auch zu den großen Abstimmungsproblemen zwischen den unterschiedlichen Bundes- und Landes- sowie örtlichen Polizeibehörden lassen sich in dem Buch von Prof. Dr. Tanjev Schultz, „NSU – Der Terror von rechts und das Versagen des Staates“, erschienen bei Droemer im Jahr 2018, nachlesen. Herr Schultz hat den NSU Prozess für die Süddeutsche Zeitung während der gesamten Zeit begleitet und dokumentiert. Mehrere Untersuchungsausschüsse tagen nach wie vor, u.a. auch in Erwartung des Ergebnisses einer Klage der grünen Bundestagsfraktion vor dem Verfassungsgericht auf Herausgabe bisher zurückgehaltener Unterlagen.

Mit (Selbst-)Enttarnung des NSU gab es durchaus Hinweise auf einen rechtsextremistischen Hintergrund, von einzelnen Mitarbeiter*innen des Verfassungsschutzes, aber auch aus der Politik vom ehemaligen bayerischen Innenminister und Ministerpräsidenten Günter Beckstein, der nach den ersten Morden bereits konkret nachfragte, ob wir eine „braune RAF“ entdeckt hätten. Es ist nach wie vor unklar, warum diesen Hinweisen nicht weiter nachgegangen worden ist und wie auch interne Interessenskonflikte innerhalb der Behörden bzw. das Misstrauen zwischen verschiedenen Behörden eine weitere Aufklärung in diese Richtung be- bzw. sogar verhinderten.

Frau Mihalic stellte fest, dass der Verfassungsschutz bei der Erfüllung seines Aufklärungsauftrags Analysekompetenz vermissen ließe. In diesem Rahmen werden zurzeit verschiedene Modelle zur Neukonzeption des Verfassungsschutzes diskutiert, u.a. im Hinblick auf eine stärkere wissenschaftliche Beteiligung, ggf. auch im Hinblick auf eine Aufteilung in ein wissenschaftliches Institut mit dem Auftrag der Analyse und den eigentlichen Nachrichtendienst.

Unterschiedliche Einschätzungen der politischen Parteien, von Regierungs- und Oppositionsfraktionen in Bundestag und Landtagen und zur Bedrohungslage erschweren die Erfüllung des Aufklärungsauftrags. Frau Mihalic hob jedoch die Bedrohungslage von Seiten des Rechtsextremismus hervor, die sich auch im Lichte der jüngsten pogromähnlichen Ereignisse in Chemnitz nach wie vor als die zurzeit größte Bedrohung der Demokratie erweist. Erstaunlich ist, dass die Bundesregierung sich bisher nicht dazu durchringen konnte, die wachsende Zahl sogenannter „Reichsbürger“ und „Selbstverwalter“ dem Rechtsextremismus zuzuordnen. In diesem Zusammenhang sei auch die Frage von Interesse, wie und mit welchen Ergebnissen der Verfassungsschutz seine Aufgabe im Hinblick auf die AfD erfüllt, die nach umfangreichen Gutachten als „Prüffall“, bei den Teilorganisationen „Junge Alternative“ und „Der Flügel“ als „Verdachtsfall“ eingestuft worden ist. Bei einem „Verdachtsfall“ können auch nachrichtendienstliche Mittel eingesetzt werden, während die Aufgabe sich bei einem „Prüffall“ auf öffentlich zugängliche Dokumente und Äußerungen beschränkt.

Prävention ist in der schwierigen Gemengelage unterschiedlicher Erkenntnisse und Zuständigkeiten schwierig. Umso wichtiger wäre es, Programme wie das vom Bundesjugendministerium geförderte „Demokratie leben“ konzentrierter anzulegen und sich von der aktuellen „Gießkannenförderung“ zu verabschieden. An vielen Orten gibt es zwar gute Programme zur Primär- und zur Sekundärprävention, auch Ausstiegsprogramme, doch kann von einer systematischen flächendeckenden Wirkung nicht gesprochen werden, auch nicht von entsprechenden Kooperationen von Polizei, Jugendhilfe, Schule und anderen für Prävention relevanten Einrichtungen.

Norbert Reichel, Bonn

(Anmerkung: Erstveröffentlichung im März 2019.)