Der bestimmte Artikel
Passt nie, auch nicht nach dem 24. Februar 2022
Die deutsche Sprache verfügt über eine Besonderheit, die es in vielen anderen Sprachen nicht gibt: den bestimmten Artikel. Im Plural: „die Juden“, „die Türken“, „die Russen“, „die Chinesen“. Im Singular lässt sich, in der Regel in der männlichen Form verwendet, die damit konnotierte Verallgemeinerung noch steigern: „der Jude“, „der Türke“, „der Russe“, „der Chinese“. Der bestimmte Artikel sorgt im Plural wie im Singular dafür, dass eine Gruppe als fester Block, als Einheit präsentiert wird, in der es keine individuellen Differenzierungen gibt. Es wird der Eindruck erweckt, als gäbe es nur Pro und Contra, als gäbe es keine Ausnahmen, als reichte es, Zugehörigkeit zu einer Gruppe in einer Gattungsbezeichnung zu fixieren und schon wären alle Individuen dieser jeweiligen Gattung erfasst. Hundertprozentig!
Und schon sind wir im Fahrwasser von Diskriminierung, Diffamierung, Rassismus, Antisemitismus, wir sind in einer Welt ohne Abweichungen und Ambivalenzen. Nichts schillert, nichts flackert, es herrscht Eindeutigkeit. Carl Schmitt könnte sich freuen, wenn er noch lebte. Es gibt einen Feind. Vor etwa zwei Jahren war es ein Virus, das allen asiatisch aussehenden Menschen angelastet wurde. Sie waren schuld, „die Chinesen“. Diejenigen, die nicht an das Virus glauben wollten, suchten sich einen anderen Feind und fanden „die Juden“, die angeblich mit einem Impfstoff die Welt beherrschen wollten.
Jetzt sind es „die Russen“. Sie sind Putin. Carl Schmitt stünde wohl auf seiner Seite, denn Putin ist derjenige, der den Ausnahmezustand definiert, in dem sich die Welt befindet. Das gefiele Carl Schmitt. Wir leben – so formulierte es Ivan Krastev in der New York Times – in „Putins Welt“. Es wäre eigentlich recht einfach, Putin als den – wieder der bestimmte Artikel – Hauptschuldigen, vielleicht sogar einzig Schuldigen an dem durch russische Truppen in der Ukraine und vorher an anderen Orten, in Aleppo, in Grosny, in Georgien, in Tschetschenien verursachten Leid zu identifizieren. Dass er Unterstützung und Zustimmung braucht, um überhaupt so handeln zu können, wissen viele, doch beschuldigen viele die falschen.
Offenbar neigen viel zu viele Menschen in Deutschland – und so in anderen westlichen Ländern – dazu, die Verantwortung Putins für diesen von ihm befohlenen Krieg all den Menschen zuzuschreiben, die nur in irgendeiner Weise irgendeine Eigenschaft mit Putin zu teilen scheinen, vor allem die, dass sie Russen sind. Schuldig sind „die Russen“. Und das sind unabhängig vom Pass auch all diejenigen, die russisch oder mit einem als russisch identifizierten Akzent sprechen. Sogar Ukrainer*innen, denn viele Menschen in der Ukraine sind Russ*innen und sprechen russisch. Putin hielt sie für Verbündete, doch er täuschte sich. Wir erleben jedoch: russische Restaurants werden angegriffen, russische Künstler*innen inquisitorisch befragt, wie sie es mit Putin halten, russische Kinder, die in Deutschland geboren sind, Kinder von russlanddeutschen Aussiedler*innen werden von Klassenkamerad*innen, Studierende von Kommiliton*innen gemobbt. Es gibt ihn, auch wenn manche es nicht glauben möchten: anti-slavischen Rassismus.
Es ist immer dasselbe Prinzip: Menschen werden ethno-nationalistisch markiert. Da gibt es kein Vertun. Jüdinnen und Juden mussten sich schon immer für die israelische Regierung rechtfertigen, die viele von ihnen gar nicht gewählt hatten und viele auch mangels Staatsbürgerschaft gar nicht wählen können. Menschen mit türkischer Familiengeschichte müssen sich für den türkischen Staatspräsidenten, Amerikaner*innen für Donald J. Trump und seine Unterstützer*innen rechtfertigen. Die Liste ließe sich endlos fortsetzen. Vielleicht sollten sich Deutsche, genauer: Deutsch-Deutsche, sich vor Augen halten, dass auch sie in manchen Ländern solche Merkwürdigkeiten erleben? Wer reist, wird wissen, wovon ich spreche: dort gibt es sie tatsächlich, „die Deutschen“, oft verbunden mit „die Nazis“.
Gibt es ein Gegenmittel gegen das Virus der – ich verwende den von Wilhelm Heitmeyer geprägten Begriff so problematisch er auch ist – „gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit“? Was lässt sich gegen solche Kollateralschäden der Rede über den Krieg Putins gegen die Ukraine tun? Vielleicht lohnt sich sogar eine Reflexion über die Frage der „Kollektivschuld“, die die Deutschen für die NS-Zeit immer weit von sich wiesen. Natürlich gibt es per se keine „Kollektivschuld“, schuldig werden immer einzelne Menschen. Es gibt allerdings einen großen Unterschied zwischen totalitären und autoritären Systemen. Sowjetkommunismus und Nationalsozialismus waren totalitäre Systeme, die von der Interaktion zwischen charismatischen Führern und jubelnden Massen lebten. Aufmärsche, kollektive Feste, Sanktionierung jeden Ausscherens – all das gehörte dazu. Dies ist in autoritär regierten Staaten anders. In Russland gibt es keine Massenbewegung für Putin, es gibt viel Gleichgültigkeit und es gibt drakonische Strafen gegen Protestierende, die aber erst in den letzten Jahren gesteigert wurden, zuletzt mit dem Verbot von Memorial oder der Androhung von bis zu 15 Jahren Haft für Menschen, die sich nicht der von Putin gewünschten Lesart des Krieges anschließen.
Wer die Kriegsschuld „den Russen“, mit dem Subtext „alle Russen“, alle Menschen, die in irgendeiner Form sich der russischen Kultur, der russischen Geschichte verbunden fühlen, zuschreibt, diffamiert all die mutigen Menschen, die in Russland, in Belarus, in der Ukraine und in vielen anderen Orten als Russ*innen gegen den Krieg aufstehen, Menschen, die in Russland höchste Risiken für sich und ihre Familien eingehen. All diese Menschen würdigen wir erst, wenn wir uns um ein differenziertes Bild der russischen Geschichte bemühen. Wir sollten uns nicht scheuen, Putins Ansichten zu widerlegen. Schwer wäre es nicht, wir müssen nur genau hinsehen. Andreas Kappeler schrieb am 10. März 2022 in seinem Essay „Der lange Weg zur Unabhängigkeit“: „Der Hobby-Historiker Putin hat in seinen Darlegungen weit ausgeholt. Wer ihn widerlegen will, muss es ihm gleichtun.“
Andreas Voßkuhle, ehemaliger Präsident des deutschen Verfassungsgerichts und Vorsitzender des Vereins Für Demokratie gegen Vergessen e.V. bat darum, „sorgfältig“ darauf zu achten, mit welcher Sprache und mit welchen Bildern man über den Krieg berichtet. „Es muss darum gehen, sich von dem, was geschieht, nicht überwältigen zu lassen, sondern mit klarem Kopf die Lage einzuschätzen und nach Lösungen zu suchen, um das große Leiden zu beenden.“ Wir sollten uns alle bemühen, diesem Anspruch gerecht zu werden. Ob es immer gelingt, weiß ich nicht, aber ich denke, so geht es allen. Vor allem sollten wir uns aber hüten, Russ*innen pauschal zu verurteilen.
Am 2. März nahm die russische Polizei eine alte Dame fest, weil sie gegen den Krieg demonstrierte. Es handelte sich um Elena Osipova, eine berühmte Überlebende der deutschen Belagerung von Leningrad. So viel zum Thema: Putin und der „Große Vaterländische Krieg“. Katarina Niewiedzal, Integrationsbeauftragte des Berliner Senats: „Meine Erfahrung bis jetzt zeigt, dass die russische Community mit der ukrainischen an einem Strang zieht. Gegen die aufkeimenden anti-russischen Ressentiments müssen wir als Staat eine klare Haltung zeigen. Es ist wichtig zu sagen: Es ist Putins Krieg.“ Und die vielen Russ*innen, die für Demokratie und Frieden kämpfen, sind unsere Bündnispartner*innen. Sie kämpfen mit höchstem Risiko, sie riskieren Leib und Leben– meine Leser*innen mögen die militärische Vokabel entschuldigen, aber ich denke, hier passt sie – an vorderster Front.
(Anmerkungen: Erstveröffentlichung im März 2021, Internetzugriffe wurden am 23. Dezember 2022 überprüft. Titelbild: Hans Peter Schaefer).