Der ehrliche Diktator
Oder der Mangel an Vorstellungsvermögen im „Westen“
„Man muss Diktatoren wie Putin oder den Mullahs im Iran immer auch glauben, was sie sagen. Sie kündigen ihre Verbrechen ja stets unverblümt an. In unserer manchmal gutgläubigen Welt ist das Gespür dafür leider verloren gegangen.“ (Daniel Donskoy im Gespräch mit Ralf Balke, in Jüdische Allgemeine 31. März 2022)
In den US-amerikanischen Medien dominieren drei Verschwörungszerzählungen, die Erzählung der Corona-Leugner, hinter Impfkampagnen stecke „The Great Reset“, die Erzählung von „The Big Lie“ zur angeblich Trump gestohlenen Wahl und seit wenigen Wochen die Erzählung vom gedemütigten russischen Volk, wie sie Tucker Carlson und die Fox News verbreiten. Wir dürfen davon ausgehen, dass mehr als die Hälfte der Anhänger*innen der „Grand Old Party“ diesen drei Erzählungen Glauben schenken. Umso bedrohlicher ist die Nachricht, dass Donald J. Trump 2025 wieder in das Weiße Haus einziehen könnte. Es sind noch etwa 30 Monate bis zur nächsten Präsidentschaftswahl, aber beruhigen kann das nicht. Und das Ergebnis der französischen Präsidentschaftswahl vom 24. April 2022 ist noch offen, auch wenn wir das Ergebnis der ersten Runde vom 10. April 2022 vorsichtig als Entwarnung verstehen dürften.
Wir erleben immer wieder, wie erfolgreich Lügen wirken. Dies gelang George W. Bush und seinem Freund Tony Blair mit der Behauptung, es gäbe Massenvernichtungswaffen im Irak, es gelang Boris Johnson mit dem Brexit, es gelang Viktor Orbán am 3. April 2022 mit der Lüge, die Opposition wolle Sozialleistungen streichen und militärisch in den Krieg der Ukraine gegen Russland eingreifen. Wer die Medien beherrscht, hat es leicht, Lügen unwidersprochen zu verbreiten. Über die diversen Lügen Putins muss ich gar nicht reden. Er beherrscht das gesamte Arsenal: die Gegner werden als Nazis, Faschisten beschimpft, ihnen wird Völkermord unterstellt, es soll Forschungsstätten zur Herstellung von biologischen und chemischen Waffen geben, alles natürlich auf Befehl der USA. Und wer sich gegen den Krieg ausspricht, wird als Agent der USA und ihres Vasallen EU bezeichnet oder als Agent einer Lobby von Homosexuellen. Gayropa ist schon längere Zeit ein Kampfbegriff der russischen Nomenklatura. Memorial wurde ebenso wie andere zivilgesellschaftliche Akteure zerschlagen, ausländische Stiftungen wurden des Landes verwiesen. Putin ist es binnen kurzer Zeit gelungen, ein autoritäres System in ein totalitäres System zu verwandeln. Viele Menschen jubeln ihm und seinem Krieg in diversen inszenierten Veranstaltungen zu. Symbol ist ein Zeichen, das dem letzten Buchstaben des lateinischen Alphabets ähnelt.
Hilft eine ehrliche Aufarbeitung der Geschichte gegen solche Lügen und Inszenierungen? Vielleicht, aber man muss eine solche Aufarbeitung auch zulassen. Und das ist mitunter selbst in freiheitlich-demokratischen Staaten schwierig. Ein drastisches Beispiel für Realitätsverweigerung bot die Bundesregierung im Jahr 2000, als das damals von Hans-Henning Schröder geleitete Ostwissenschaftliche Institut in Köln aufgelöst wurde. Bundeskanzler war Gerhard Schröder, der Putin als „lupenreinen Demokraten“ schätzte. Hans-Henning Schröder sagte in einem Gespräch mit Ludwig Greven in der Aprilausgabe der Zeitung „Politik & Kultur: „2000 wurde das von mir geleitete Ostwissenschaftliche Institut aufgelöst. Und es gab von außen keine Nachfrage. Politiker sagten mir: Jetzt ist dort Demokratie, da brauchen wir euch nicht mehr, wir fragen die jetzt selbst.“
Eine andere Strategie gegen ehrliche Aufarbeitung ist die Verschleierung. Heather A. Conley schrieb in ihrer Analyse „The Kremlin Playbook“, dass die Russen überrascht gewesen sein müssen, wie leicht der Westen zu kaufen war. Im Gespräch mit Thomas Kirchner in der Süddeutschen Zeitung sagte sie: „Es funktionierte so: Wenn Russland eine größere Investition in einem Land tätigte, brauchte es die Zustimmung der dortigen Regierung, es ging meist um hohe Staatseinnahmen. Die Politik kümmerte sich dann darum sicherzustellen, dass niemand das Projekt stoppen konnte. Je stärker der politische Einfluss wurde, umso größer wurden die Investitionen, und die Abhängigkeit wuchs.“ Als Beispiele nennt sie Ungarn, Bulgarien, Montenegro und die Fähigkeit der russischen Behörden, über Umwege, beispielsweise über die Niederlande, die wahre Herkunft der Investitionen zu verschleiern. Die lokale Ebene profitierte und war leicht zu beeindrucken. So lief es bei Nordstream und die mecklenburgisch-vorpommersche Landesregierung freute sich. Ein drastisches Beispiel ist „Londongrad“, wo Boris Johnson russische Oligarchen freudig begrüßte, einem von ihnen sogar einen Sitz im Oberhaus verschaffte.
Zum Verschleiern gehören immer zwei, jemand, der verschleiert, und jemand der nicht hinschaut. Ein wichtiger Akteur war Frank-Walter Steinmeyer. Der Tagesspiegel erinnerte am 4. April 2022 an eine Rede, die er am 15. August 2016 in Jekaterinburg gehalten hatte. Er sagte: „(…) wenn endlich eine Zeit des Wiederaufbaus in Syrien kommt, dann sollten besonders Deutschland und Russland Hand in Hand arbeiten – in Palmyra, in Aleppo oder in Homs, um nur diese Beispiele zu nennen. Ich bin überzeugt: Wenn wir gemeinsam Verantwortung für das kulturelle Erbe der Menschheit in dieser Krisenregion übernehmen, dann leisten wir zugleich einen Beitrag für eine kulturelle Annäherung zwischen unseren Ländern. Von deutscher Seite haben wir in dem Projekt „Stunde Null“ unsere Kräfte hierfür gebündelt und ich würde mich sehr freuen, wenn Russland das Angebot der Zusammenarbeit annehmen würde!“ War das naiv oder grob fahrlässig? Die Bilder von Steinmeyer und Sergej Lawrow, die die ZEIT am 5. April 2022 veröffentlichte, lassen vermuten, dass jedes Problembewusstsein verdrängt wurde.
Manche manchen sich jetzt einen schlanken Fuß, beispielsweise Friedrich Merz, der in der ZEIT vom 30. März 2022 im besserwisserischen Ton des Hochbegabten mit Entscheidungen von Angela Merkel abrechnete, mit der Abschaltung der Atomkraftwerke, der Verweigerung der NATO-Mitgliedschaft von Georgien und der Ukraine. Was hilft es jedoch, mit dem Finger auf andere zu zeigen? Vier Finger der Hand zeigen immer auf einen selbst zurück. Lenz Jacobsen schrieb in dem bereits zitierten ZEIT-Artikel vom 5. April 2022: „Denn hemmungslos empören kann sich über die Kuschelei der beiden nur, wer schon damals eine andere Haltung hatte als der Außenminister. Wer es damals schon besser wusste. Bei allen anderen fällt ein Teil der Empörung auf sie selbst zurück.“
Manuela Schwesig sagte am 31. März 2022: „Wie viele andere Menschen auch, hätte ich mir nicht vorstellen können, dass Putin die Ukraine angreift.“ Wenig später äußerte sich Frank-Walter Steinmeyer ähnlich. Sehr spät, und ohne die Hartnäckigkeit des ukrainischen Botschafters in Berlin, Andrij Melnyk, hätte er möglicherweise weiterhin geschwiegen. Aber was geschah in Grosny, in Georgien, mit der Krim, mit dem Donbass? Was war mit den Morden an Boris Nemzow, Boris Beresowski, Alexander Litvinenko, Sergej Magnitski, Natalja Estemirowa, Anna Politkowskaja, Juri Schtschekotschichin und etlichen weiteren Putin-Kritikern, den Anschlägen auf Sergej und Julia Skripal, Aleksej Nawalny, Pjotr Wersilow und Dmitrij Bykow (eine Aufstellung des Tagesspiegel)?
Die Art und Weise, in der manche Politiker*innen sich heute schwer tun zuzugeben, dass sie Putin falsch eingeschätzt haben, weil sie nicht wahrhaben wollten, dass der Teufel auch mal durch andere Türen kommen könnte als in den Zeiten des Kalten Krieges, gäbe genügend Anlass dazu. Malte Lehming am 4. April 2022 im Tagesspiegel: „Kaum ein Haupt bleibt ohne Asche“. Schnelles Vergessen scheint zu regieren, zwei Jahre nach der Annexion der Krim war es beim damaligen Bundesaußenminister schon so weit. Fast 70 Prozent der Deutschen glaubten noch im November 2019, dass von Putin keinerlei Gefahr ausgehe. Wir erleben eine russische Armee, deren Ziel zu sein scheint, alle Menschen, die sie nicht als Befreier bejubeln, aus der Ukraine zu vertreiben und diejenigen, die sich nicht vertreiben lassen, zu vernichten. Das war in Tschetschenien, in Georgien, in Syrien nicht anders.
Malte Lehming fordert Ehrlichkeit vor der Geschichte: „Aus seiner eigenen Vergangenheit sollte Deutschland drei Lehren gezogen haben: Nie wieder Angriffskriege. Nie wieder Massenmorde. Nie wieder Tyrannei. Spätestens seit 2014 hätte das Verhältnis zu Russland durch diese Lehren geprägt sein müssen. War es aber nicht. Der Wille zum Wegschauen war stärker als die Verpflichtung zum Hinschauen. Illusionen über Putin kann sich nun keiner mehr machen. Warum der Realitätsschock so lange gedauert hat, muss dringend geklärt werden.“ Dazu gehört auch, dass die Mittel der deutschen Friedensbewegung nicht geeignet sind, Putins Truppen Einhalt zu gebieten. Diejenigen, die in den kommenden Ostermärschen wie in den vergangenen Jahren Schilder mit sich führen, in denen der Austritt aus der NATO gefordert wird, sollten vielleicht einmal darüber nachdenken, was ein solcher Schritt tatsächlich bedeutet, nicht nur für Deutschland, für Polen, für die baltischen Staaten, für alle, die von russischen Waffen bedroht sind. Robert Habeck hatte Recht, als er schon vor längerer Zeit Waffenlieferungen an die Ukraine forderte. Möglicherweise wäre das ein deutliches Zeichen gewesen, das Putin verstanden hätte.
Und jetzt? Sabine Brandes kommentierte in der Jüdischen Allgemeinen vom 24.3.2023 die Rede von Volodymyr Selenskyj vor der Knesset: „Es ist sicher eine der größten Ängste, die Selenskyj hat: dass die Welt gleichgültig wird. Vielleicht nicht heute oder morgen. Aber werden wir in einem Monat noch weinen, wenn wir die Bilder der verzweifelten Menschensehen? Werden wir in einem Jahr noch spenden, um das größte Leid zu lindern? Werden wir unsere Länder und Häuser öffnen, wenn weitere Millionen von Geflüchteten ankommen? Oder werden wir zur Tagesordnung übergehen und die Menschen in der Ukraine ihrem Schicksal überlassen“ Ich erlaube mir zu ergänzen: wir tun weder Ukraine noch Russland keinen Gefallen, wenn wir pauschal alle Russ*innen in Kollektivhaftung nehmen. Was ist mit all den mutigen russischen Künstler*innen, Wissenschaftler*innen und Intellektuellen? Wollen wir wirklich eine Kollektivschulddebatte? Wir sollten uns nicht nur mit der Ukraine solidarisch erklären, sondern auch mit allen Russ*innen, die sich gegen das totalitäre Regime des russischen Staatspräsidenten wenden. Der Überfall Putins bedroht alle Demokrat*innen, unabhängig von der Nationalität.
Zurück zum Anfang dieses Editorials. Was mag geschehen, wenn Donald J. Trump oder ein gleichgesinnter Kandidat die US-Präsidentschaftswahl 2024 gewinnt? Meines Erachtens zeigt diese Aussicht, vor welcher Aufgabe die Europäer wirklich stehen. Zur Vorstellungskraft von Politiker*innen sollte auch die Fähigkeit gehören, sich auch auf Worst Case Szenarien vorzubereiten. Wirtschaftliche Unabhängigkeit von russischen Rohstoffen ist die eine Seite, militärische Unabhängigkeit die andere. Wirtschaftliche Macht alleine wird nicht ausreichen, wenn in den USA ein unberechenbarer und autoritären Versuchungen zugeneigter Präsident regiert. Es ist an der Zeit, dass Europa außen- und sicherheitspolitisch autark wird. Das stellt die NATO nicht in Frage, sondern stärkt sie.
Solange Deutsche und andere Europäer*innen weiterhin ängstlich und wankelmütig, mitunter geradezu weinerlich auf sich fixiert agieren, weil Benzin- und Lebensmittelpreise steigen, bleiben sie erpressbar. Das weiß Putin. Er weiß auch, wovor wir uns fürchten. Doch Angst ist immer ein schlechter Ratgeber. Putin und die Rechtspopulist*innen dieser Welt wissen, wie sie sich eine solche Stimmung zunutze machen. Auch solche Szenarien müssen wir bedenken: sonst schlägt das Pendel schnell wieder in die andere Richtung aus, die Ukraine verschwindet aus öffentlichem Bewusstsein und Berichterstattung, die Klimakrise scheint dies ohnehin schon zu tun. Die Art und Weise, in der zurzeit manche Politiker*innen versuchen, die berechtigten Hinweise von Andrij Melnyk abzumoderieren, sind dann nur der Anfang einer Entwicklung. Schaden nehmen werden die freiheitlichen Demokratien des Westens.
Norbert Reichel, Bonn
(Anmerkungen: Erstveröffentlichung im April 2022, Internetlinks wurden am 26. Dezember 2022 überprüft. Titelbild: Hans Peter Schaefer.)