Der Kapitalismus und die Pandemie

Sozialpolitische Analysen zur Genese von Ungleichheit und Klassismus

„Wir haben es mit einer Wirtschaft zu tun, die sich anschickt, totalitär zu werden, weil sie alles unter den Befehl einer ökonomischen Ration zu zwingen versucht. (…) Aus Marktwirtschaft soll Marktgesellschaft werden. Das ist der neue Imperialismus. Er erobert nicht mehr Gebiete, sondern macht sich auf, Hirn und Herz der Menschen einzunehmen. Sein Besatzungsregime verzichtet auf körperliche Gewalt und besetzt die Zentralen der inneren Steuerung der Menschen.“ (Norbert Blüm, zitiert nach Michael Klundt, Kinderpolitik, Weinheim, Basel, Beltz Juventa 2016)

Norbert Blüm war von 1982 bis 1998 Bundesarbeits- und -sozialminister. Er war der einzige Minister, der ebenso wie sein Bundeskanzler Helmut Kohl 16 Jahre lang im Amt war. In seinen späteren Jahren wurden seine Einlassungen zunehmend antikapitalistisch und antiimperialistisch, so im Jahr 2006, aus dem die zitierten Sätze stammen. Ich kann mich noch gut an die Zeiten erinnern, in denen das von ihm geführte Arbeits- und Sozialministerium sich sehr schwertat, Arbeitslosigkeit, vor allem die Arbeitslosigkeit von jungen Menschen, überhaupt als Problem anzuerkennen. Andererseits vertrat er als Vorsitzender der Sozialausschüsse der CDU (CDA) durchaus die Interessen von Arbeitnehmer*innen im Kabinett.

Prekäre Arbeitsverhältnisse gab es auch in der Amtszeit von Norbert Blüm, noch prekärer wurden sie mit den Hartz-IV-Reformen des sozialdemokratischen Bundeskanzlers Gerhard Schröder, die die neoliberale Wende der SPD vollendeten. In dieser Zeit verloren auch die CDU-Sozialausschüsse an öffentlicher Aufmerksamkeit, ein Trend, der sich in den 16 Jahren der Amtszeit Angela Merkels fortsetzte, auch bei ihren diversen sozialdemokratischen Arbeits- und Sozialministern, wenn man vielleicht von Andrea Nahles absieht. Solidarität und soziale Gerechtigkeit wurden zu Fremdwörtern der politischen Debatte, wie ein Mantra wurde der von Ronald Reagan und Margaret Thatcher propagierte Trickle-Down-Effekt beschworen. Wenn die Reichen reicher würden, würden auch die Armen profitieren – so lautete die Botschaft.

Diagnose: wachsende Ungleichheit

Die Botschaft der Sätze Norbert Blüms war auch im Jahr 2006 nicht neu. Seit Jahren – oder sollte ich schreiben seit Jahrzehnten – wiederholen sich die Hinweise, dass die Reichen und die Superreichen reicher werden, während Arme ärmer werden, weltweit. Es gibt kaum ein Buch, das sich mit sozialen Disparitäten und Ungleichheiten beschäftigt, das diese Entwicklung nicht ausführlich dokumentiert und belegt. In den letzten beiden Jahren werden auch Zusammenhänge mit den Auswirkungen der Pandemie hergestellt, doch scheint sich herauszustellen, dass die Pandemie einen ohnehin bestehenden Trend nur verstärkte oder dort wo sie es vielleicht nicht tat, ihn zumindest sichtbarer machte.

Die folgende Überschrift des Berliner Tagesspiegels vom 9. Juni 2022 mag für viele gelten: „Weltweites Privatvermögen wächst auf Rekordwert.“ Und in der Tat gibt es eine Gruppe von Menschen, die von der Corona-Pandemie erheblich profitieren. Ein ähnliches Intro war am 25. Mai 2022 in der ZEIT in der doppeldeutig klingenden Rubrik „Womit keiner rechnet“ zu lesen: „Die Weltwirtschaft rutscht in die Krise, Hunger und Armut nehmen zu. Aber es gibt auch eine gegenläufige Entwicklung: Die Zahl der Milliardäre steigt – und sie werden schneller reich als je zuvor.“

In fast allen Ländern gibt es einflussreiche politische Parteien und Regierungen, die die Gruppe der Reichen und Superreichen schützen. So wurde in den wenigen Ländern, die eine Finanztransaktionssteuer befürworteten, der Anwendungsbereich mit der Zeit immer weiter herunterverhandelt. Erbschafts- und Vermögenssteuern haben keine Chance auf eine politische Mehrheit. Steuerhinterziehung wird nicht gerne gesehen, aber dennoch nicht systematisch verfolgt. Es gibt zwar immer wieder einige spektakuläre Einzelfälle wie die von Uli Hoeneß und Boris Becker, aber die beiden haben sich eben erwischen lassen. Eine der ersten Maßnahmen der schwarz-gelben Landesregierung in Nordrhein-Westfalen im Jahr 2017 war mit Übernahme der Regierungsverantwortung die Einstellung der Verfolgung von Steuerhinterziehung über den Ankauf von auskunftsfähigen Datenträgern. Der vormalige nordrhein-westfälische Finanzminister Norbert Walter-Borjans konnte über diesen Ankauf mehrere Milliarden zusätzliche Einnahmen verbuchen.

Immer wieder gelang und gelingt es der Lobby der Reichen und Superreichen, ihre Sicht der Dinge durchzusetzen. Straftäter*innen inszenieren sich als Opfer und Whistleblower werden zu Straftäter*innen erklärt. Eine weitere Täter-Opfer-Umkehr signalisiert die Formel „Fordern und Fördern“, die auch bei den Hartz-IV-Reformen ihre propagandistische Rolle spielte. Bereitwillig übernahm die deutsche Sozialdemokratie die Formel von konservativen und wirtschaftsliberalen Parteien. Mit dieser Formel wird Förderbedürftigen erst einmal unterstellt, dass sie nicht arbeiten wollen, dass sie die von ihnen verlangte gesellschaftliche Leistung nicht erbringen wollen. Daher sollen sie eben „gefordert“ werden, mit dem Ergebnis einer kaum noch überschaubaren Misstrauenskultur bei den Bewilligungsbehörden.

Bündnispartner der Lobby der Reichen sind viele Menschen, die einen solchen Reichtum nicht genießen, aber gleichwohl glauben, dass er ihnen – wenn sie ihn denn erreichten – zustünde. Diese Menschen neigen dazu, eine in der Realität nicht bestehende Möglichkeit für realistisch zu halten und daher präventiv gegen jede steuerliche Belastung einzutreten, die sie dann möglicherweise erwarten könnte. Vertreter*innen von Wirtschaftsverbänden wurden in Talkshows ohnehin immer schon der Status von Expert*innen zugebilligt, während Vertreter*innen von Gewerkschaften oder von Organisationen arbeitsloser und in prekären Beschäftigungsverhältnissen tätiger Menschen als Vertreter*innen von Partikularinteressen vorgestellt wurden. Das Schmähwort lautete „Besitzstandswahrer*innen“. Sozialleistungen stehen unter dem Generalverdacht, dass jemand von ihnen profitiere, dem sie nicht zustünden.

Dies hängt nicht zuletzt damit zusammen, wie sich die sogenannte „Mitte“ der Gesellschaft präsentiert. Diese „Mitte“ ist größer als man denkt, doch spielen Abstiegsängste eine stärkere Rolle als die tatsächliche soziale Position. Georg Cremer schrieb am 30. Juni 2022 in der ZEIT: „Wenn die breite Mitte in einem der reichsten Länder der Erde meint, ihr ginge es besonders schlecht, dann fördert dies den empathischen Blick der Mitte nach unten gerade nicht. Ohne diesen Blick findet eine Sozialpolitik für den unteren Rand keine politischen Mehrheiten.“ Solidarität verlangen dann die meisten von allen anderen für sich, Solidarität mit anderen, denen es schlechter geht, ist eher Fehlanzeige, von der Vision einer gerechten Gesellschaft ganz zu schweigen. Georg Cremers Fazit: „Das Problem ist eher ein gefühlter Abstieg – und der Mangel an Empathie.“ Mitunter – dies erlaube ich mir zu ergänzen – paart sich die Abstiegsangst mit der Ahnung der Unerfüllbarkeit von Aufstiegsträumen, sodass selbst die Bewahrung der aktuellen sozialen Position als Abstieg empfunden wird.

Es handelt sich durchweg um eine weitgehend männlich dominierte Politik, die sich nicht nur in der Besetzung von Aufsichtsräten manifestiert. Die meisten der öffentlich in Erscheinung tretenden Reichen und Superreichen sind Männer mit ausgesprochenem Selbst- und Sendungsbewusstsein. Kristina Lunz schreibt in „Die Zukunft der Außenpolitik ist feministisch“ (Berlin, Ullstein, 2022): „Folglich ist unsere Gesellschaftsform für alle mit Gerechtigkeitssinn schwer erträglich. Nichts von den folgenden Beispielen ist akzeptabel: Es ist ungerecht, dass das Vermögen der über 2000 Milliardäre des Planeten während der Corona-Pandemie zwischen März 2020 und März 2021 um 4 Milliarden US-Dollar oder 54 Prozent gestiegen ist (9 der Top 10 Milliardäre sind Männer), während der geschätzte Anstieg der weltweiten Armut im Jahr 2020 beispiellos war, wovon in besonderem Ausaß Frauen betroffen sind. Es ist nicht in Ordnung, dass weltweit unbezahlte Care-Arbeit von Frauen erwartet wird, sie sich also mehrheitlich um Kinder, kranke Angehörige und den Haushalt kümmern. Es ist empörend, dass in nur sechs Ländern dieser Welt Frauen die gleichen Arbeitsrechte haben wie Männer und dass Männer stark überproportional die Entscheider in Wirtschaft und in Politik sind. Im globalen Maßstab ist nicht hinnehmbar, dass bis zum Ende dieses Jahrhunderts große Teile der Erde unbewohnbar sein werden. Je patriarchaler eine Gesellschaft ist, umso wahrscheinlicher beutet sie die Umwelt aus.“

Eine andere Gruppe, die vom wachsenden Reichtum nicht profitiert, sind Kinder, vor allem die Kinder von Menschen in prekären Verhältnissen, nicht zuletzt von Alleinerziehenden. Selbst in einem so reichen Land wie Deutschland ist nach den regelmäßigen Berichten des Paritätischen Wohlfahrtsverbandes jedes fünfte Kind arm oder von Armut bedroht. Dies bedeutet, dass das Nötigste nicht zur Verfügung steht, gesundes Essen, Wohnraum mit geschützter Privatsphäre oder ganz einfach Schulmaterialien. All dies ist zwar immer wieder Thema der ein oder anderen öffentlichen Debatte, aber offenbar nicht Gegenstand des Regierungshandelns. Im jüngsten Familienbericht der damals noch schwarz-roten Bundesregierung kommt der Begriff der Kinderarmut nicht ein einziges Mal vor. Zuständig war das damals sozialdemokratisch geführte Familienministerium.

Immunschwäche Armut

Im Verlag Beltz Juventa sind im Jahr 2022 zwei Bücher erschienen, deren Autoren sich schon lange wissenschaftlich mit sozialpolitischen Fragen und Hintergründen befassen. Es handelt sich um die Bücher „Die polarisierende Pandemie – Deutschland nach Corona“ von Christoph Butterwegge sowie „Vergleichende Kinderpolitik-Wissenschaft – Kinderrechte und Kinderarmut in Corona-Zeiten“ von Michael Klundt. Beide Autoren haben bereits mehrfach bei Beltz Juventa zu diesen Themen publiziert und gelten als Experten ihres Fachs. Beide Autoren haben enge Verbindungen zu einer Partei, die sich oft genug gegen den allgemeinen Trend sozialpolitisch positioniert. Christoph Butterwegge wurde vor längerer Zeit als möglicher Sozialminister einer Regierung mit Beteiligung der Linken gehandelt, 2017 war er Kandidat der Linken für das Amt des Bundespräsidenten, seine Frau und gelegentliche Co-Autorin Carolin Butterwegge kandidierte 2022 als Spitzenkandidatin der nordrhein-westfälischen Linken. Michael Klundt arbeitete einige Jahre in der Bundestagsfraktion der Linken. er ist seit 2010 Professor für Kinderpolitik am Fachbereich für Angewandte Humanwissenschaften der Hochschule Magdeburg-Stendal, meines Wissens die einzige Hochschule, die „Kinderpolitik“ als eigenen Studiengang anbietet. Er leitet den Masterstudiengang „Kindheitswissenschaften und Kinderrechte“.

Die Parteinähe ließe Parteilichkeit vermuten, doch ergibt sich die Parteilichkeit der beiden Bücher nicht aus den politischen Vorlieben der Autoren, sondern aus den von ihnen ausführlich belegten Fakten. Beide Bücher erweisen sich als Fundgruben für einen Einblick in Forschungslage und politische Debatten. Beide Bücher belegen, dass die in den Jahren der Corona-Pandemie sichtbar gewordenen Benachteiligungen eben nicht erst mit der Pandemie entstanden sind, sondern eine schon längere Geschichte haben, die bis in die späten 1970er und 1980er Jahre zurückgehen dürfte. Vielleicht darf man es sogar als einen Kollateralnutzen der Pandemie betrachten, dass soziale Ungleichheit wieder ein Thema auch in der öffentlichen Berichterstattung geworden ist. Dies darf natürlich nicht dazu führen, dass Ursachenforschung auf die Pandemie verengt wird. Ein wesentlicher Aspekt der Genese der heutigen Ungleichheiten ist die Neoliberalisierung sozialdemokratischer Parteien im Zuge der Thesen des sogenannten „Dritten Wegs“, den in Europa vor allem Gerhard Schröder und Tony Blair, in den USA Bill Clinton („It’s the economy, stupid“) vertraten, der aber im Grunde nichts anderes war als der Abschied großer sozialdemokratischer Parteien von einer nachhaltigen und bedarfsgerechten Sozialpolitik. Beide Autoren sind keine Historiker, aber ihre politikwissenschaftlich gewonnenen Thesen ließen sich historisch belegen.

Christoph Butterwegge beginnt mit einem programmatischen Satz: „Weil die wirtschaftliche, soziale und politische Ungleichheit das Kardinalproblem unserer Gesellschaft ist, muss sie ins Zentrum der Diskussion über die Folgen der COVID-19-Pandemie rücken.“ Die Pandemie ist nicht nur ein Problem der Gesundheit der Bevölkerungen dieses Planeten. Christoph Butterwegge zitiert den Medizinhistoriker Malte Thießen, der betonte, „dass Pandemien stets politisch sind“. Die Tuberkulose war beispielsweise lange Zeit – abgesehen von der Zauberberg-Klientel – eine „Proletarierkrankheit“, die sogenannte „Spanische Grippe“ grassierte in einer Welt, deren Menschen durch Krieg und Mangelernährung geschwächt waren. Die Krankheitserreger profitierten von engen Wohnverhältnissen und Industrieanlagen, verbreiteten sich an Orten, sogenannten „Hotspots“, in denen Menschen eng miteinander in Kontakt standen. Die Palette der betroffenen Einrichtungen und Betriebe reichte in der Corona-Pandemie von Krankenhäusern und Pflegeheimen bis zu den Anlagen der Fleischindustrie, alles Einrichtungen, in denen Menschen arbeiten, die aufgrund ihrer schlechten Bezahlung auch in engen Wohnungen, oft auch in Gemeinschaftsunterkünften leben. Es gibt – so Christoph Butterwegge – eine „positive Korrelation zwischen der sozioökonomischen und der gesundheitlichen Ungleichheit“. Anders gesagt: „Finanz- sind auch immunschwache Gruppen“.

Geschützter Reichtum

Geschützt wurde die Wirtschaft, vor allem die großen Industriebetriebe: „Dass große Industriebetriebe nicht vom Lockdown erfasst und zur Schließung gezwungen wurden, diente hauptsächlich der Wettbewerbsfähigkeit des heimischen ‚Wirtschaftsstandortes‘ und entsprach der neoliberalen Standortlogik.“ Vom Home-Office profitierten weitgehend privilegierte bürgerliche Schichten, obwohl auch diese gelegentlich davon abhängig waren, welche Einstellung die jeweiligen Vorgesetzten zum Home-Office hatten. In diesem Kontext wäre interessant zu analysieren, warum die Wirtschaftsdaten während der Pandemie nur wenig litten und sich schnell erholten. Sogar Wachstumsraten wurden gemeldet. „Weltweit zählten einige der profitabelsten Unternehmen mit den reichsten Chefs zu den Hauptprofiteuren des Krisendesasters. Unter dem Druck der Coronakrise, die Einkommensverluste durch Kurzarbeit, Geschäftsaufgaben und Erwerbslosigkeit nach sich zog, kauften mehr Familien bei Lebensmittel-Discountern ein, um Haushaltsgeld zu sparen, wodurch die ohnehin zu den vermögendsten Deutschen gehörenden Besitzer von Ladenketten wie Aldi Nord und Aldi Süd noch reicher geworden sind.“ Dies muss nicht unbedingt ein Spezifikum der Coronakrise bleiben, angesichts der sich im Jahr 2022 auf höherem Niveau entwickelnden Inflationsraten zeichnet sich ein ähnliches Kaufverhalten ab. Von Krisen profitieren Unternehmen, die es sich leisten können, im Wettbewerb preiswertere Waren anzubieten. Massenproduktion ist eben billiger.

Die kleinen Betriebe, die während der Pandemie aufgaben, fallen bei der Bewertung der Wirtschaftslage nicht so sehr ins Gewicht, zumal deren Beschäftigte sich weitgehend anderweitig orientierten, mit dem Ergebnis eines verschärften branchenspezifischen Fachkräftemangels, beispielsweise in Gastronomie- und Tourismusbetrieben. „Am härtesten traf es kontaktintensive Dienstleistungsbranchen, in denen viele Geringverdiener/innen (besonders Frauen) arbeiten: Exemplarisch genannt seien Friseurinnen, Fußpflegerinnen und Beschäftigte in Fitnessstudios. Die ohnehin starke finanzielle Belastung von Transferleistungsbezieher(inne)n, Kleinstrenter(inne)n und Geflüchteten nahm gleichfalls stark zu.“ Christoph Butterwegge zieht folgendes Fazit: „Weil die Coronakrise ein sozioökonomischer Spaltpilz war, legte sie auch lange verschüttete Klassenstrukturen der Gesellschaft offen.“ Davon wollen Regierungen in der Regel nichts wissen, zumal der Klassenbegriff ohnehin zu den Tabubegriffen regierungsamtlicher Sprache gehört: „Weil die Bundesregierung das Problem der sozioökonomischen Ungleichheit – falls irgend möglich – zu relativieren sucht, finden sich diese Zahlen zur Verteilungsschieflage im Sechsten Armuts- und Reichtumsbericht nicht.“

Dies gilt auch für die Finanzhilfen des Bundes während der Pandemie, die aufgrund des Nebeneinanders von Gießkanneneffekt auf der einen Seite und hoher bürokratischer Hürden auf der anderen Seite die Unternehmen bevorteilten, die sich die erforderliche organisatorische Flexibilität leisten konnten. Ulrich Schneider stellt eine ähnliche Schieflage beim Entlastungspaket im Gefolge des Kriegs um die Ukraine fest. Er schrieb in der Ausgabe der „Blätter für deutsche und internationale Politik“ vom Juni 2022: „Das Entlastungspaket ist sozial unausgewogen, ökologisch kontraproduktiv und haushaltspolitisch unvernünftig, (…).“

Es ist nicht so, dass diejenigen, die finanzielle Entlastungen besonders nötig haben, nicht profitierten, aber alle anderen profitieren auch. Ulrich Schneider hat errechnet, dass höchste und hohe Einkommen genauso profitieren wie niedrige und niedrigste: „Der größte Brocken, die einmalige Energiepauschale von 300 Euro, kommt allen Erwerbstätigen unabhängig vom Einkommen zu. Sie wird zwar versteuert, wodurch Spitzenverdienern von diesem Geld nur 158 Euro verbleiben, doch drängt sich die Frage auf, weshalb Spitzenverdiener, sogar mit Millioneneinkommen, überhaupt gefördert werden müssen.“ Es ist im Grunde dasselbe Prinzip wie bei der Pendlerpauschale. Aus meiner Sicht ist es kaum verständlich, warum die Pendlerpauschale nicht längst in einen Mobilitätszuschuss für Menschen mit geringen Einkommen, Rentner*innen, Studierende umgewandelt worden ist. Die staatliche Unterstützung berufsbedingter Mobilität müsste vom Kopf auf die Füße gestellt werden.

Christoph Butterwegges sozialpolitische Analyse der Coronakrise und der mit ihr gewährten Unterstützungsleistungen durch Bund und Länder darf somit als Paradigma für die Struktur auch anderer Krisen beziehungsweise regierungsamtlichen Krisenmanagements gelten. Im Grunde verschärft jede Krise die Auswirkungen eines neoliberal ausgerichteten Kapitalismus. Die wirtschaftlichen Auswirkungen der Klimakrise sind noch nicht bei uns angekommen, aber es ist damit zu rechnen, dass sich die Belastung potenzieren wird. Defensive Haltungen wie die der FDP mit ihrem Beharren auf dem Verbrennungsmotor beziehungsweise E-Fuels und auf Autobahnen ohne Tempolimit, die Debatten um die Verlängerung der Laufzeiten für Atomkraftwerke oder den Weiterbetrieb von Kohlekraftwerken sind Vogel-Strauß-Politik. Letztlich fehlt es möglicherweise an dem Mut, die Verflechtung der diversen Krisen offen und ehrlich zu benennen. Eines der Verdienste Christoph Butterwegges ist die Betonung des Klassencharakters eine solchen Politik.

Kinderpolitik ist Gesellschaftspolitik

In der Pandemie wurden Kinder und Jugendliche immer wieder ermahnt, Rücksicht auf ältere Menschen zu nehmen und auf die Begegnung mit Gleichaltrigen zu verzichten. Christoph Butterwegge fragt mit Recht: „Mangelt es an Generationengerechtigkeit oder sind Jugendliche moderne Sündenböcke?“ Er verweist auf Michael Klundt, der belege, „dass schon lange vor der COVID-19-Pandemie eine Diskursverschiebung von der sozialen zur Generationengerechtigkeit stattgefunden hat, wodurch diejenigen begünstigt werden, denen es im Großbürgertum um Besitzstandswahrung geht.“ Und dies sind vor allem ältere, man möchte sagen arrivierte Menschen, darunter mehrheitlich Männer. Kinder und Jugendliche profitieren allenfalls als Kinder solcher Menschen oder als Erb*innen.

Christoph Butterwegge zitiert diverse Studien, die belegen, wie „die Pandemie als biografische Zäsur gewirkt“ hat. Hilfsangebote der Jugendarbeit wurden reduziert, ebenso die vielen außerschulischen Aktivitäten, mit denen Schulen ihr Bildungsangebot diversifizierten, Kultur, Sport, Betriebs- und Sozialpraktika, Besuch außerschulischer Lernorte, Klassenfahrten. Für Studierende ließe sich Ähnliches konstatieren. Der durch Corona ausgelöste „Kontaktmangel“ dürfte zum eigentlichen Problem von Long-COVID werden. Zumindest dürfte er erheblich mehr Menschen betreffen als die rein physiologischen Folgen, allerdings wirken sich auch psychische Belastungen mit der Zeit auf die physische Gesundheit aus. Nahe liegt die Frage, ob die Art und Weise des staatlichen Krisenmanagements während der Corona-Pandemie nicht gegen Buchstaben und Geist der UN-Kinderrechtskonvention verstoßen hat.

Die UN-Kinderrechtskonvention datiert aus dem Jahr 1989. Deutschland unterzeichnete mit Vorbehalten, die erst im Jahr 2010 zurückgezogen wurden. Grund für diese Vorbehalte war die deutsche Praxis, auch Kinder in Abschiebehaft zu nehmen. Das deutsche Ausländerrecht sollte vorrangig angewendet werden. Im September 2021, kurz vor der Bundestagswahl, scheiterten die Versuche, die Kinderrechte im Grundgesetz zu verankern. Es ging um zwei Wörter: sollten Kinderrechte „angemessen“ oder „vorrangig“ berücksichtigt werden? Dabei sollte die Botschaft der Kinderrechtskonvention eigentlich klar sein: „Bei allen Maßnahmen, die Kinder betreffen, gleichviel ob sie von öffentlichen oder privaten Einrichtungen der sozialen Fürsorge, Gerichten, Verwaltungsbehörden oder Gesetzgebungsorganen getroffen werden, ist das Wohl des Kindes ein Gesichtspunkt, der vorrangig zu berücksichtigen ist.“ (Artikel 3 der UN-Kinderrechtskonvention)

Nun ist „angemessen“ einer der unbestimmten Rechtsbegriffe, die es ermöglichen, ein Gesetz oder eine Vereinbarung nicht anzuwenden. Auch in internationalen Konventionen spielt der Begriff eine wichtige Rolle. Seine englische Version „where appropriate“ sorgt dafür, dass möglichst alle Staaten zustimmen, diejenigen, die Vorbehalte haben, aber sichern, dass sie darüber entscheiden können, ob die Anwendung des Vereinbarten „angemessen“ beziehungsweise „appropriate“ ist. Claudia Kittel und Sophie Funke haben diese Zusammenhänge in ihrem Beitrag zur Ausgabe „Kinder und Politik“ in der Zeitschrift „Aus Politik und Zeitgeschichte“ vom 28. März 2022 anschaulich beschrieben.

In derselben Ausgabe von „Aus Politik und Zeitgeschichte“ hat Michael Klundt einen Text mit dem Titel „Kinderpolitik (Wissenschaft) – Eine Einführung“ veröffentlicht. Dieser Essay lässt sich auch als Einstieg in die Lektüre seiner Bücher „Kinderpolitik“ (2016) und „Vergleichende Kinderpolitik – Wissenschaft“ (2022) lesen. „Kinderpolitik“ enthält darüber hinaus hinter jedem Kapitel Aufgaben für Studierende, die sicherlich auch als eigener Methodenband veröffentlicht werden könnten. Es gibt einige Wiederholungen in Essay und Büchern, doch stören diese die Lektüre nicht.

Wer Michael Klundts Texte liest, erhält ausführliche Analysen des Forschungsstandes, einen umfassenden Überblick über die politischen Auseinandersetzungen, die diversen Akteure, Parteien, Verbände, Gremien, in denen über das Wohl von Kindern debattiert wird, sowie historische Bezüge, die auf den ersten Blick verwundern mögen, aber andererseits zeigen, wie lange schon über Kinderrechte nachgedacht wird und wie lange schon bestimmte Erfordernisse ignoriert werden. Michael Klundt zitiert in „Kinderpolitik“ Ibn Khaldūn (1332-1406) und Michel Montaigne (1533-1592), die zu ihrer Zeit bereits ein Züchtigungsverbot forderten. In Deutschland wurde das Recht auf eine gewaltfreie Erziehung von Kindern erst am 3. November 2000 in den einschlägigen Gesetzen verankert. Das Züchtigungsrecht von Lehrkräften galt noch bis zum Jahr 1973, in Bayern bis 1983. Michael Klundt berichtet, dass der Bundesgerichtshof noch im Jahr 1988 entschied, dass eine „gelegentliche Tracht Prügel (…) nicht pauschal zu verdammen“ wäre. Kinder – so waren Theorie und Praxis – Objekte der Politik, sie gehörten im wahrsten Sinne des Wortes ihren Eltern, die über sie nach Gutdünken verfügen konnten.

Kinder- und Jugendpolitik – so Michael Klundt im Rekurs auf Richard Münchmeier sowie eine Stellungnahme des Bundesjugendkuratoriums von 2009 – gibt es als „Ressortpolitik, Querschnittspolitik, Zukunftspolitik sowie Beteiligungs- und Befähigungspolitik“ beziehungsweise als „Interessenpolitik“ und „Diskurspolitik“. Aus der Sicht der Kinder entscheidend ist die Frage, ob sie als „Objekt“ der Politik oder als ihr „Subjekt“ verstanden werden. Viel zu oft ist nur die erste Option der Fall. Dies gilt auch für alle politischen Diskurse zur Kindeswohlgefährdung und des Kindesschutzes. Dieser Aspekt der „Kinderpolitik“ hat sich inzwischen weitestgehend durchgesetzt, obwohl es auch hier noch Lücken gibt, beispielsweise in der Frage, wie weit Elternrechte eingeschränkt werden dürfen. Der Vorrang der Elternrechte vor den Kinderrechten war auch einer der Streitpunkte bei der gescheiterten Debatte um die Verankerung der Kinderrechte im Grundgesetz. Letztlich ist „Kinderpolitik“ im Sinne des 14. Kinder- und Jugendberichts von 2013 „Lebenslagenpolitik“, aus der sich die Konsequenz ergibt, „dass bei allen Debatten um eine eigenständige Jugendpolitik nicht der Fehler gemacht werden sollte, Jugendpolitik aus dem generationalen Gesamtkontext herauszulösen.“ „Kinderpolitik“ ist „Gesellschaftspolitik“, allerdings im Idealfall stets verbunden mit einem „Vorrang“ für das Wohl der Kinder als Subjekt gesellschaftlicher Entwicklungen.

Linke Politik – Sozialpolitik – Kinderpolitik

Michael Klundts Bücher und Aufsätze sind ein politisch engagiertes Plädoyer für das Thema der Bekämpfung von Armut als wesentliches und vorrangiges Thema einer sozial orientierten Politik, die wir in seinem Sinne eine zeitgemäße linke Politik nennen könnten. Kern von Kinderpolitik ist aus seiner Sicht die Bekämpfung von Kinderarmut. Die Pandemie mag ein Anlass sein, sich mit Kinderarmut und Ungleichheiten zu befassen und findet sich auch im Titel des 2022 erschienen Buches, ist aber nicht der Grund. „Neuere Ansätze der Kinderarmutsforschung nehmen Kinder als eigenständige Subjekte wahr, als von Armut Betroffene und Armut Bewältigende, anstatt sie lediglich als Angehörige armer Haushalte und als Auslöser von familiären Armutslagen zu betrachten.“ Es entwickelte sich mit der Zeit aus der „bürgerlich-patriarchalischen Befehls-Familie“, an deren Bild sich auch der autoritäre Staat orientierte, das Konzept, wenn auch noch nicht die Praxis eines „Familienverständnisses, welches alle Mitglieder der Familie als gefragte Subjekte umfasst und deren Beteiligung sowie Aushandlungen statt Gewalt impliziert (…).“

Michael Klundt formuliert im Grunde Eckpunkte für Parteiprogramme, die nicht unbedingt einer bestimmten Partei zugeordnet werden müssen, sondern in verschiedenen demokratischen Parteien angemessen beheimatet sein könnten. Er zitiert beispielsweise das Ahlener Programm der CDU vom 3. Februar 1947, das mit Recht als antikapitalistisches Programm bezeichnet werden darf. Von diesem Programm hat sich die CDU sehr schnell entfernt, aber auch die SPD tat sich im Zuge der Neoliberalisierung deutscher (sowie europäischer und amerikanischer) Wirtschaftspolitik immer schwerer.

Michael Klundt leitet seine Sicht der Dinge aus der Lektüre verschiedener Schriften von Karl Marx und Friedrich Engels ab. Er bezeichnet deren Analysen als „womöglich historisch erste dialektisch-materialistische Herleitung von ‚Kinderrechten‘“. Sie geben eine Linie vor, die die gesellschaftlichen und politischen Verhältnisse in den Vordergrund wissenschaftlicher und politischer Betrachtung stellt. Dies gilt beispielsweise für die Kinderarbeit. „Marx ist also nicht grundsätzlich gegen Kinderarbeit, sondern nur gegen die kapitalistische Form der Kinderausbeutung“.

In lateinamerikanischen Staaten, beispielsweise in Bolivien gibt es von Kindern geschaffene Nicht-Regierungsorganisationen, die sich dafür aussprechen, dass Kinder arbeiten dürften, um ihren Lebensunterhalt zu verdienen und nicht in Kriminalität und Prostitution gezwungen zu werden. Die Debatte über das Thema Kinderarbeit ist daher komplexer als es auf den ersten Blick scheint: „Aus all dem schließen die Gegner*innen, dass Kinderarbeit Mühsal und Belastung sei, Kinder durch Verbote davor geschützt werden müssten und arbeitende Kinder besser in die Schule gehen sollten. Und die Befürwortenden heben hervor, dass arbeitende Kinder angehört werden müssten, dass Verbote oft kontraproduktiv wirkten und Kinder durch Illegalisierung nur noch vulnerabler (verletzlicher) machten.“ Es geht somit um „Organisation und Interessenvertretung zur Einschränkung resp. Überwindung kapitalistischer Ausbeutungsverhältnisse.“ Solche Aspekte könnten beispielsweise bei den aktuellen Debatten um Konzeption und Umsetzung von Lieferkettengesetzen berücksichtigt werden. Kinderarbeit lässt sich ohne eine entsprechende Sozial- und Bildungspolitik, die allen Kindern und ihren Eltern ein auskömmliches Leben sichert, nicht beseitigen.

Michael Klundt formuliert in „Kinderpolitik“ eine Forderung an Forschung und Forschungsförderung: „Wissenschaftliche Kinderpolitik kann dazu beitragen, für Formen der Handlungs- und Aktionsforschung zu werben, welche das politische Interesse von Kindern und ihre politischen Kompetenzen in konkreten Handlungssituationen erkunden, in denen Kinder selbst Akteurinnen und Akteure sind.“ In den Kapitelüberschriften von „Kinderpolitik“ finden wir Begriffe wie „Generationengerechtigkeit“, „Bildungsungleichheit“, „Jugend(hilfe)politik“. Die Rede ist von einer „Parallelgesellschaft der Reichen und Superreichen“, von „Instrumentalisierung und kapitalisierte(n) Kindheiten“.

Im Grunde geht es um die Wiederentdeckung des Sozialstaats, den Claus Offe als „wichtigste Friedensformel fortgeschrittener kapitalistischer Demokratien“ bezeichnet (zitiert nach Michael Klundt). Der sogenannte „Sozialstaat“ steht nun jedoch vor einer Aufgabe, die unter den gegebenen Verhältnissen unerfüllbar erscheint. Michael Klundt vertritt die alles andere als abwegige These, dass eine Familie 180 Jahre brauche, um den „Aufstieg von Hartz IV bis in die Mitte der Gesellschaft“ zu schaffen. Politische Parolen wie „Aufstieg durch Bildung“ laufen ins Leere. „Somit ist Bildung kein Ersatz für eine gerechte Reichtumsverteilung“. Dies ist auch die Schwäche der Sozialindices, die inzwischen alle demokratischen Parteien für die Verteilung von Ressourcen an Schulen fordern und dort wo sie regieren auch in diversen Varianten anwenden. „Ungleiches ungleich behandeln“ – so lautet die Parole.

Mit der Zuweisung zusätzlicher Ressourcen ist wenig erreicht. Einzelne Schüler*innen schaffen in der Tat den Aufstieg, verlassen dann aber als Erwachsene in der Regel den jeweiligen Stadtteil, in den dann andere Menschen einziehen, deren sozialer Status in der Regel sogar niedriger liegt als der der Weggezogenen. Oft handelt es sich um Geflüchtete oder Zugewanderte aus armen EU-Ländern, beispielsweise aus Rumänien oder Bulgarien. An der sozialen Segregation ändert dies nichts. Im Gegenteil, der Stadtteil verliert weiter an Attraktivität, sofern er überhaupt eine hatte. Politiker*innen rückdelegieren die Verantwortung für diesen Zustand dann gerne an die Bewohner*innen und antworten mit mehr oder weniger repressiven Maßnahmen. Entwicklungen in Duisburg-Hochfeld, Essen-Katernberg, Hamburg-Wilhelmsburg, München-Hasenbergl oder Berlin-Neukölln belegen dieses Dilemma einer wenig durchdachten sozialdemokratischen Politik, die sich in euphemistisch benannten Programmen wie „Soziale Stadt“ oder „Stadtteile mit besonderem Erneuerungsbedarf“ gefiel und inzwischen in dieser Begrifflichkeit auch die FDP mit den von ihrem Vorsitzenden erfundenen „Talentschulen“ beeinflussen konnte. Wer in solchen Stadtteilen wohnt, wird zeitlebens unter Klassismus leiden. Die einzige Alternative scheint eine radikale Gentrifizierung zu sein, die aber dazu führt, dass die ursprüngliche Bevölkerung sich andere Wohnorte suchen muss, weil sie ihre ursprünglichen Wohnungen nicht mehr bezahlen kann.

Struktureller Klassismus

Michael Klundt und Christoph Butterwegge sind nicht die Einzigen die diese Zusammenhänge beschreiben. Gila Lustiger hat in ihrem Essay „Erschütterung – Über den Terror“ (Berlin Verlag 2016), den sie nach den Mordanschlägen auf die Redakteur*innen und Zeichner*innen von Charlie Hebdo geschrieben hatte, die französische „Politique de la ville“ beschrieben und die Hilflosigkeit dieser Politik bilanziert: „Seit den siebziger Jahren wurde auf die zyklisch aufflammenden Unruhen in den Randgebieten der großen Städte mit der Politique de la ville reagiert, und man meinte damit so ziemlich alles und so ziemlich nichts. Sportvereine waren gegründet, Großwohnsiedlungen abgerissen, Bildungsförderprogramme für Schulabbrecher finanziert, Schreib- und Tanzwerkstätten ins Leben gerufen, Stadtfeste veranstaltet, Jugendinformationsstellen eingeweiht, Architekturwettbewerbe zur Sanierung der Sozialbauten ausgeschrieben, Grünanlagen angelegt und Spielplätze errichtet worden, um der Jugendgewalt endlich Herr zu werden. Die Vielzahl der Ansätze zeugte von der Ratlosigkeit der politischen Instanzen, wenn es darum ging, die Ursachen der kollektiven Gewalt klar zu umreißen und ihr effektiv entgegenzuwirken.“ Alles im Grunde Elemente einer Art „Marschallplan“, „Sinnbilder des Wohlfahrtsstaates“, die – so Gila Lustiger – mit einer Art pseudo-sozialpolitischem „Newspeak“ verkündet wurden: „Zone de redynamisation urbaine“, „Zones d’éducations prioritaire“, „Reseaux d’education prioritaire“, „Réseau ambition réussite“.

Der Kulturanthropologe Francis Seeck vertritt in seinem 2022 erschienenen Buch „Zugang verwehrt“ vergleichbare These. In einem Interview für ZEIT online sprach er über Klassismus und die Beharrungskräfte sozialer Klassen oder Schichten oder wie auch immer man die Ungleichheiten in einer Gesellschaft bezeichnen möchte. Er schrieb, dass auch das linksliberale Milieu die Neoliberalisierung der vor allem an Wirtschaftsbedarfen orientierten Politik der vergangenen 40 bis 50 Jahre internalisiert habe und Menschen, die nicht über das entsprechende Finanz-, Bildungs- oder Sozialkapital verfügten – dies im Sinne von Pierre Bourdieu – systematisch, oft sicherlich ohne es zu merken, ausgrenzen.

Gerhard Schröder ist einer der Gewährsleute neoliberaler Politik, die sich als Sozialpolitik ausgibt, vielleicht sogar in gutem Glauben, sie aber in der Praxis konterkariert. Schröder glaubte als Bundeskanzler mit seiner Forderung nach einem „Niedriglohnsektor“ und der bereits zitierten Doppelformel von „Fordern und Fördern“ Armut beseitigen können. Michael Klundt zitiert einen hochrangigen FDP-Politiker, der allen Ernstes vortrug, Alleinerziehende, die ihre Mieten kaum bezahlen könnten, könnten die staatliche Förderung von Eigenheimen in Anspruch nehmen. Das traurige Schicksal der Riester-Rente und anderer Forderungen nach privater Altersvorsorge über Aktienerwerb gehört in dieselbe Kategorie. Die Vielzahl der von Michael Klundt Kinderarmutsstudien der vergangenen Jahre hat daran bisher nichts ändern können. Die Bertelsmann-Stiftung zählte 2016 etwa 70 Studien. „In den Wohlstandsländern sei noch immer die Tatsache augenfällig, dass diejenigen, die mit einem materiellen Vorsprung geboren werden, im Lauf ihres Lebens beobachten können, dass dieser Vorsprung sich exponentiell um ein Mehrfaches vergrößert.“ Das Ergebnis beschreibt Christoph Butterwegge in seinem Buch „Die zerrissene Republik“ (2020 bei Beltz Juventa erschienen), aus dem Michael Klundt mehrfach zitiert. Ähnlich argumentierte schon Richard Rorty, der 1997 von einem „Riss in Amerika“ sprach. „Rorty warnt die Linke davor, eine ihrer Kernaufgaben zu vergessen, den Kampf gegen Armut und Ungleichheit.“

Francis Seeck: „Klassismuskritik stellt auch immer die Frage der Umverteilung. Doch auch da müssen wir vorsichtig sein: Klassismus kann es auch in antikapitalistischen Gesellschaften geben. In der DDR gab es zwar viel weniger soziale Ungleichheit, aber auch den ‚Asozialenparagrafen‘, durch den durften sogenannte Arbeitsscheue verfolgt und teilweise verhaftet werden.“ Ich habe diesen Diskurs selbst erlebt. Als ich bei einem Austausch von Regierungsbeamten (alles Männer!) aus Bundesrepublik und DDR meinen DDR-Kollegen nach Hilfen für sozial Benachteiligte fragte, sprach er von Kriminellen. Francis Seeck fordert als Maßnahme gegen klassistische Benachteiligung eine Reform des Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetzes: „Und auch in anderen, vielleicht egalitären, Gesellschaftsformen ist nicht garantiert, dass es keine Diskriminierungen nach unten gibt. Weniger Ungleichheit hilft, aber reicht nicht aus. Ich wäre dafür, dass wir die soziale Stellung eines Menschen als Kategorie in das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz aufnehmen. Dort ist festgelegt, dass niemand aufgrund seiner ethnischen Herkunft diskriminiert werden darf. Das brauchen wir auch für die soziale Herkunft. Nur dann können Menschen vor Gericht klagen, wenn sie zum Beispiel bei Bewerbungen aufgrund ihrer Klassenzugehörigkeit benachteiligt wurden.“

Perspektive Grundsicherung

Michael Klundt setzt sich ausführlich mit dem Thema der Kindergrundsicherung auseinander, Christoph Butterwegge mit Vorschlägen wie dem bedingungslosen Grundeinkommen und der Bürgerversicherung. Leitkriterium ihrer Analyse ist die Frage, ob die jeweiligen Leistungen auch tatsächlich diejenigen erreichen, die sie brauchen. Ihre Analyse unterscheidet sich grundlegend von der in Sozialbehörden und Politik gepflegten Misstrauenskultur. Christoph Butterwegge belegt dies am Beispiel des Grundeinkommens: „Reiche brauchen kein Grundeinkommen und für Arme reicht es nicht. Das bedingungslose Grundeinkommen ist ungerecht, unzureichend und nicht zielgenau.“ Er zitiert einen ZEIT-Artikel von Anna Mayr, die prognostizierte, von einem Grundeinkommen profitierte vor allem die „bürgerliche Bohème“, die zusätzlich zur elterlichen Alimentierung Mittel erhalte, die sie nicht erarbeitet habe. Ergänzend lohnt sich die Lektüre des von Christoph Butterwegge gemeinsam mit Kuno Rinke im Jahr 2018 bei Beltz Juventa herausgegebenen Sammelbandes „Grundeinkommen kontrovers“. Die Idee des Grundeinkommens leitet sich aus der Erfahrung ab, dass am Einzelfall orientierte soziale Hilfen die Menschenwürde der Hilfsbedürftigen herabsetzen und in ihrer bürokratischen Form Menschen davon abschrecken, Hilfen zu beantragen.

Ein Fazit Christoph Butterwegges: „Die wichtigste Lehre aus der COVID-19-Pandemie lautet, nicht länger den neoliberalen Verlockungen (‚Privat geht vor Staat‘) zu erliegen und dort nicht mehr prioritär auf den Markt zu setzen, wo es um die öffentliche Daseins- und Gesundheitsvorsorge geht.“ Ein zweites Fazit: „Nötig ist wegen der sozioökonomischen Zerklüftung des Landes aber nicht eine abstrakte Solidarität zwischen unterschiedlichen Generationen, sondern ein Interessenausgleich innerhalb jeder Generation.“ Daraus ergibt sich meines Erachtens die Notwendigkeit einer Grundsicherung an Stelle eines bedingungslosen Grundeinkommens, vor allem einer Kindergrundsicherung. Für diese dürfte es durchaus auch Mehrheiten geben, aber ob es für die erforderliche Gegenfinanzierung Mehrheiten gibt, muss (noch) bezweifelt werden.

Christoph Butterwegge schließt mit dem Gedanken, dass das vom Deutschen Bundestag beschlossene Sondervermögen „nicht für die Bundeswehr, sondern für den öffentlichen Wohnungsbau, den Ausbau der Bildungs- und Betreuungseinrichtungen, die Alterssicherung von Geringverdiener(inne) sowie die Bekämpfung von Kinderarmut, pandemiebedingt gestiegener Langzeitarbeitslosigkeit und Obdachlosigkeit“ ausgegeben werden sollte. In diesem Punkt widerspreche ich ihm. Wir brauchen beides! Und in beiden Fällen stellt sich die Frage, ob es reicht. Letztlich werden wir aber ohne Erhöhung der Spitzensteuersätze, Vermögens- und Erbschaftssteuer, ohne Umwandlung der Pendlerpauschale in einen Mobilitätszuschuss, ohne Abschaffung des Dienstwagenprivilegs und ähnlicher Privilegien, ohne Aufgabe des Ehegattensplittings zugunsten einer Grundsicherung, zumindest einer Kindergrundsicherung, keine gerechte Gesellschaft schaffen können. Das wäre tatsächlich einmal ein Politikwechsel. So wie sich bei den Grünen Realist*innen durchgesetzt haben, sollte dies vielleicht auch bei der FDP möglich sein. Individuelle Freiheit sollte für alle gelten und sie hat ihre Grenzen dort, wo sie die Freiheit anderer einschränkt oder gar nachhaltig beschädigt. Ohne soziale Absicherung ist für viele Freiheit nicht lebbar. Diesen Gedanken finden wir auch schon in den Freiburger Thesen der FDP, die jedoch weitgehend – unbeschadet diverser Jubiläumsreden – in Vergessenheit geraten zu sein scheinen.

Norbert Reichel, Bonn

(Anmerkung: Erstveröffentlichung im Juli 2022, alle Internetzugriffe zuletzt am 5. Juli 2022)