Desorientierte Mitte

Über sprachliche und andere Irritationen

In der Februarausgabe 2024 habe ich zu Beginn auf das Lob von A.L. Kennedy verwiesen. Sie lobte das Deutschland der Demonstrationen für Demokratie und Menschenrechte, die aber inzwischen – auch das ist eine Wahrheit – in den Medien nicht mehr die Aufmerksamkeit erhalten, die sie noch vor wenigen Wochen erhielten. Ein trauriges Gegenbild erleben wir in einigen Kommunen. Bürgermeister:innen geben auf, weil sie den Hass, der ihnen wegen der Einrichtung einer Asylunterkunft entgegenschlägt, nicht mehr ertragen, nicht nur im Osten, auch im Westen. Andreas Glas berichtete in der Süddeutschen Zeitung über Michael Stolze, Markt Schwaben (in der Nähe von München). So neu ist dies nicht: erinnern Sie sich noch an die Messerangriffe auf Henriette Reker, Oberbürgermeisterin von Köln im Jahr 2015, und auf Andreas Holstein, Bürgermeister von Altena im Jahr 2017? Und so wird es offenbar für die demokratischen Parteien immer schwieriger, Menschen zu motivieren, die bereit sind, sich in einer Kommune zu engagieren.

Die Kinder der Baseballschläger

Christian Bangel, Miguel Helm und Doreen Reinhard dokumentierten in der ZEIT das Nebeneinander von Pro-Demokratie- und rechten Demonstrationen in Zittau unter dem Titel „Wem gehört die Stadt?“ Die „Baseballschläger“ sind erwachsen geworden. „Der Rechtsextremismus in Ostdeutschland ist so divers wie wohl nie zuvor. Da sind Straßenschläger, die es immer noch gibt, auch wenn sie nicht mehr so aussehen wie früher. Da sind Influencer, die auf Plattformen wie Instagram und TikTok erfundene Wahrheiten über die Regierung, die Ukraine, die Flüchtlinge verbreiten. Da sind Pseudojournalisten, Intellektuelle, Rapper, ‚Reichsbürger‘, Kampfsportler, AfD-Abgeordnete und inzwischen auch AfD-Bürgermeister.“ Eine Frau, die die prodemokratischen Demonstrationen organisiert, berichtet, wie sie verbal angegriffen wird, ein junger Mann, wie andere junge Männer ihn und andere durch die Stadt jagten.

Veto (den Hinweis fand ich im Newsletter von Correctiv) stellte in dem Portrait „Hinterland – Ocean Dale“ die Initiative „Queeres Döbeln“ (Döbeln ist eine Kreisstadt in Mittelsachsen) vor, deren Initiator:in Ocean Hale feststellte: „Gegenwärtig sei eine Generation radikal rechter Menschen präsent im Stadtbild – und in Aktionen. ‚Das ist sozusagen die Kindergeneration der alten Nazis aus den Basballschlägerjahren‘.“ Es gab bereits Buttersäureanschläge auf den örtlichen CSD, die NPD demonstrierte mit dem Slogan „Döbeln bleibt braun“. Ocean Dale berichtet von Stickern mit Hakenkreuzen sowie weiteren antisemitischen und queerfeindlichen Parolen. Andere stören sich an Antifa-Flaggen und meiden aus diesem Grund Bündnisse gegen rechts. In der Streitrubrik der ZEIT vom 14. März 2024 plädierte der sachsen-anhaltinische Ministerpräsident Rainer Haseloff (CDU) für die Teilnahme an solchen Bündnissen und Demonstrationen für die Demokratie, ungeachtet unterschiedlicher Ansichten. Ihm widersprach der Generalsekretär der CDU von Mecklenburg-Vorpommern, Daniel Peters. Ocean Hale kritisierte auch die Neigung in manchen linken Gruppen, sich nicht miteinander, sondern gegeneinander zu präsentieren: „Wenn wir uns auf Unterschiede statt Gemeinsamkeiten konzentrieren, dann werden wir nicht vorankommen“.

Gewalt auf unseren Straßen? Wir sind nicht im Jahr 1928, wir erleben aber mehr oder weniger organisierte Kampftrupps, die in ihrer Jagd auf Andersdenkende, Anderslebende durchaus an SA-Truppen denken lassen. Sicherlich hat die AfD keine eigene Privatarmee, aber es gibt hinreichend viele Ortschaften, in denen sich vor allem junge Männer zusammentun und diese Privatarmee spielen, sodass sich letztlich von einer Art Privatarmee-Franchise sprechen ließe. Es gibt eine Art informelles Netzwerk, das auf der einen Seite den Marsch durch die Institutionen versucht, wie die Nachricht der etwa 100 Rechtsextremist:innen belegt, die als Mitarbeiter:innen von AfD-Abgeordneten im Deutschen Bundestag arbeiten, auf der anderen Seite örtliche Trupps und Kameradschaften, die eher an eine Mischung von Stammtisch und Kraftsportverein erinnern, sich aber mehr oder weniger anlassbezogen auf den Weg machen, Andersdenkende zu bedrängen.

Auf der linken Seite gibt es zwar auch keinen Rotfrontkämpferbund, aber durchaus – siehe die Sprengung eines Strommastes in Tesla und den Prozess gegen Lina E. in Leipzig (ihren bei den Angriffen auf rechte Politiker maßgeblich aktiven Kollegen hat die Polizei noch nicht gefunden) – eine Radikalisierung, die wir vor wenigen Jahren noch nicht hatten. Das ist keine RAF, auch die Aufmerksamkeit, die die Verhaftung einer 65jährigen ehemaligen RAF-Angehörigen in der Öffentlichkeit erfuhr, steht in keinem Verhältnis zu der Bedrohung von rechts. Aber was erleben wir von Seiten der Politik? Die „Letzte Generation“ wurde mit ihrer im Grunde harmlosen, wenn auch sicherlich viele Menschen verärgernden Demonstrationen als „Klima-RAF“ bezeichnet (Alexander Dobrindt), eine Staatsanwaltschaft versuchte, sie als „kriminelle Vereinigung“ zu verfolgen. Bauern, die grüne Politiker:innen daran hinderten, ein Boot zu verlassen oder gar nicht erst zuließen, dass sie eine geplante Veranstaltung durchführen konnten, wurden hingegen mehr oder weniger toleriert. Es gab sogar aus demokratischen Parteien die ein oder andere Anmerkung, die Grünen seien doch selber schuld. Der eigentliche Angriff war nicht die Gewalt eines unkontrollierten Mobs, der eigentliche Angriff war der Verweis auf die Notwendigkeit das Klima schützender Maßnahmen. Über diese ließe sich selbstverständlich streiten, das sogenannte Heizungsgesetz war überstürzt und schlecht gemacht, aber das ist noch lange kein Grund, Politiker:innen so zu bedrohen, dass sie ohne Polizeischutz nicht mehr nach Hause kommen.

Ziel mancher Aktivist:innen scheint zu sein, mit durchaus straßenkämpferischen Methoden eine andere Meinung als die ihre gar nicht mehr zuzulassen, niederzubrüllen. Im Namen der Meinungsfreiheit wird gefordert, die Meinungen anderer zum Schweigen zu bringen. Die Botschaft, das müsse man doch wohl noch sagen dürften, bedeutet eigentlich nichts anderes als: Niemand darf mir widersprechen, alle müssen mir recht geben und wer das nicht tut, behindert meine Meinungsfreiheit. In dieser Hinsicht ähneln sich AfD und BDS und leider auch manche Fraktionen der Woke-Bewegung. Sie verlangen lautstark nicht mehr und nicht weniger, dass bestimmte Stimmen von der Bühne verschwinden. Sie alle bezeichnen sich gegenseitig als Faschisten, manchmal auch gleich als Nazis. Nazis sind in diesem Sinne nichts anderes als eine Steigerungsform von Faschisten. Oft werden die beiden Begriffe jedoch auch synonym verwendet.

Sicherlich sind die AfD-Wähler:innen nicht alle Nazis – so ist der allgemeine Tenor derjenigen, die versuchen, doch noch einen guten Kern bei denen zu finden, die sich so lautstark äußern. Das mag richtig sein, aber dennoch sollte ebenso klar sein: auch wenn sie selbst keine Nazis, keine Faschisten sind, sie verhalten sich wie welche. Wer jemandem anderen die Legitimation abspricht, seine Argumente friedlich vorzutragen, andere nur noch niederbrüllt und niederpfeift, muss sich fragen lassen, warum er oder sie anderen nicht mehr zuhören möchte.

Die ZEIT veröffentlichte am 22. März 2024 Daten, die belegen, dass die AfD in Bevölkerungsgruppen Sympathien genießt, die man eigentlich nicht auf der rechten beziehungsweise rechtsextremen Seite vermuten sollte. Viele verorten sich in der Mitte, sich wirtschaftlich gar nicht so schlecht gestellt, im Westen wie im Osten, Frauen wie Männer, ungeachtet eines relativ gesehen höheren Anteils im Osten. Viele haben jedoch Angst vor einem Abstieg, sehen Wirtschaftspolitik als wichtiger an als andere Politikbereiche, befürworten Atomkraft, sind in der Regel älter als 50 Jahre, haben aber vor allem eines, ein gemeinsames Feindbild: die Grünen und die Migration. Widersprüche zwischen sozial- und wirtschaftspolitischen Forderungen könnten das Potenzial der Wähler:innen der AfD durchaus spalten. Einige können sich vorstellen, das Bündnis Sahra Wagenknecht (BSW) zu wählen. Die Studie belegt allerdings auch, dass das Wahlverhalten volatil ist, mit Ausnahme bei den Grünen, die sich offenbar auf eine relativ große Stammwählerschaft verlassen können, etwa in der Höhe des Ergebnisses der letzten Bundestagswahl.

Kommunikative Insuffizienz

Juli Zeh hat in einem Gespräch für taz-FUTURZWEI mit Peter Unfried und Harald Welzer sich zur Stimmung im Osten geäußert, die sich durchaus als bundesweite Stimmung diagnostizieren ließe, auch wenn sie in den ostdeutschen Ländern deutlicher und angesichts der Umfragewerte für die AfD gefährlicher erscheinen mag. Sie sagt, viele hätten das Gefühl für die Verhältnismäßigkeit von Protesten im Vergleich zu vergangenen Zeiten verloren (wenn sie es überhaupt jemals hatten): „Man muss unsere Situation und Zukunftsaussichten auch mal in Relation zu anderen Zeiten und Orten setzen, und dann sieht man, dass wir Grund zu Dankbarkeit und zur Bescheidenheit haben. Und außerdem genug Anlass, weiter an das große Menschheitsprojekt Fortschritt zu glauben.“ Das Problem beginne schon in der Sprache mancher Politiker:innen, die die Bürger:innen mehr oder weniger bevormunden möchten, nicht wie oft gemeint, durch irgendwelche Verbote, sondern eher durch – so würde ich es nennen – eine Art „Fürsorgliche Belagerung“.

In den Worten von Juli Zeh. „‚Vorkommen‘ ist übrigens auch so ein Wort, immer muss irgendjemand irgendwo vorkommen. Andere Synonyme dafür sind ‚gesehen werden‘, ‚gehört werden‘, ‚abgeholt‘ und auch noch ‚mitgenommen werden‘. In all diesen Begriffen steckt Eltern-Kind. Es klingt, als müsste man sich um irgendwelche infantilen Nicht-Checker kümmern, weil die sonst verloren gehen, wenn man sie nicht ‚mitnimmt‘. Mit Ihrem Begriff ‚vorkommen‘ ist es so ähnlich. Dieses Paternalistische ist eine Art Top-down-Verständnis von Politik. Motto: Der Wähler ist eigentlich ein infantiler Konsument. Er hat eine Art Wahlfreiheit. Man bietet ihm Sachen an, und dann kann er den Daumen hoch oder runter machen.“ Dies gelte auch für das Angebot von Hilfe, in welchen Paketen, die oft genug mit martialischen Begriffen angepriesen werden, von der „Bazooka“ über die „Offensive“ zum „Doppel-Wumms“: „Wer Hilfe anbietet, ist der Bessere, Stärkere, Mächtigere. Er behandelt den anderen als schwach. Es will aber niemand als schwach behandelt werden. In Politik übersetzt würde das bedeuten: Nicht immer nur Doppel-Wumms machen, sondern die Bürger auch mal um was bitten.“

Die Hilfe, die Menschen aber eigentlich erwarten, wird nicht geleistet. Nicht die Schule wird saniert, aber Windräder werden gebaut. Dafür ist Geld da. Das ist sehr vereinfacht, aber trifft durchaus einen Kern. Da hilft es auch nicht viel, wenn nach einem unangenehmen Wahlergebnis Politiker:innen meinen, sie hätten ihre Politik nicht genug erklärt. Das ist wieder so eine Form von Paternalismus (interessant, dass hier immer die männliche Form dominiert wie auch in der inzwischen etwas aus der Mode gekommenen Redefigur vom „Vater Staat“). Zu diesen paternalistischen Redewendungen zählt Juli Zeh auch die Rede vom „kleinen Mann“, den „kleinen Leuten“, die „nicht vergessen“ werden sollen.

Und damit sind wir eigentlich bei John F. Kennedy, der in einer seiner so viele Menschen, gerade auch in Deutschland, begeisternden Reden sagte: „Don’t ask what your country can do for you. Ask you, what you can do for your country.“ Damit ließe sich doch arbeiten, nicht indem immer auf die Widerstände gegen welche politischen Vorschläge auch immer verwiesen wird, die – auch darauf verweist Juli Zeh – in Verzweiflung und Hilflosigkeit dann als „alternativlos“ markiert werden. Angela Merkels Alternativlosigkeit – die Erfinderin dieser Redefigur war Margaret Thatcher – ist auch nichts anderes als Gerhard Schröders „Basta“. Wie wäre es mal mit der Frage an die Bürger:innen, in jeder Kommune, in jedem Verein, was sie denn vorschlügen, um mehr soziale Gerechtigkeit zu schaffen, mehr Wohnungen, mehr Sicherheit, besseren Klimaschutz. Die Bedarfe werden von fast niemandem bestritten, bestritten wird lediglich, dass die Politik, die gerne losgelöst von ihren Vertreter:innen als erratischer Block adressiert wird, vernünftige Lösungen biete.

Das aber ist wiederum ein Ergebnis jahrzehntelanger Erziehung der Bürger:innen zu einem unpolitischen Politikverständnis, das fast schon als ein konsumistisches Verständnis beschrieben werden könnte. Dann geht es in der Politik zu wie in einem Internet-Bewertungsportal: wenn die Politik nicht „liefert“, dann taugt sie nichts, dann wählen wir eben die anderen. Vier Jahre später wieder in die andere Richtung und so fort. Das lässt sich fast weltweit so beobachten, beispielsweise in den USA oder in sehr radikaler Form in den ständigen Regierungswechseln in lateinamerikanischen Ländern, sozusagen in Form einer Verlagerung immer an die andere gegenüberliegende Seitenlinie, ein Wechselspiel zwischen Rechtsaußen und Linksaußen.

Da sind wir in Deutschland noch recht mittig aufgestellt. So viele stehen noch nicht an den Seitenlinien, noch stehen die meisten im Halbfeld, halbrechts und halblinks. Der Wechsel von einer Regierung zur nächsten ist dann fast schon etwas wie ein Trainerwechsel. Nun lässt sich im Fußball – oder in anderen Mannschaftssportarten –nicht die völlige Verantwortung auf die Spieler:innen verlagern. In der Politik wäre eine moderierte und koordinierte Beteiligung der Bürger:innen aber durchaus denkbar. Vielleicht ist der FC Barcelona vergangener Tage sogar ein Vorbild. Als einer der Trainer an Krebs erkrankte, trainierten sich die Spieler selbst. Sie gewannen trotzdem. Das, was sie vereinte, war ein gemeinsames Ziel: die Meisterschaft.

Sportvergleiche mögen hinken, auch wenn im Sport der Gegner klar definiert werden kann. Das ist in gesellschaftlichen Prozessen nicht der Fall. Allerdings hat der Sport auch Regeln. Wer gewalttätig agiert, muss das Spielfeld verlassen, der Respekt vor dem Gegner heißt hier Fairness. Insofern trifft sich die Metapher des Sports wieder mit der politischen und gesellschaftlichen Wirklichkeit. Gegnerschaft hat nichts mit Exklusion, nichts mit unerbittlicher Feindschaft im Sinne von Carl Schmitt zu tun. Es geht darum, auch etwas Verbindendes in einer Gesellschaft zu formulieren. Und dies ist wiederum eine Frage der Sprache. In den Worten Juli Zehs: „Je mehr Menschen beim öffentlichen Sprechen ganz bewusst dieses Wir-und-die-Ding vermeiden, desto mehr kann sich die Stimmung wieder zum Besseren drehen.“ Letztlich wäre schon viel erreicht, wenn wir alle einfach aushalten könnten, dass nicht alle dieselbe Meinung haben. Vorausgesetzt, die Regeln des freiheitlich-demokratischen Rechtsstaats werden eingehalten: unabhängige Gerichte, Schutz von Minderheiten. Demokratie ist eben mehr als ein rechthaberisches Mehrheitsprinzip wie es Orbán, Erdoǧan, Trump, AfD und FPÖ postulieren, das sich gegebenenfalls auch mit Gewalt durchsetzen ließe. So wäre es möglich, „den gemischten Haufen, den man hat, möglichst verträglich zu organisieren. Weder kann man sich selbst da eskapistisch herausnehmen noch kann man sagen, alles, was mir nicht passt, gehört auch nicht dazu. Oder“?

Norbert Reichel, Bonn

(Anmerkungen: Erstveröffentlichung im März 2024, Internetzugriffe zuletzt am 22. März 2024.)