Die Putschpläne der Reichsbürger
Und warum wir diese nicht auf die leichte Schulter nehmen dürfen
Am 7. Dezember 2022 verhinderte ein großes Polizeiaufgebot den Putschversuch sogenannter „Reichsbürger“. Die Putschist*innen glaubten offenbar, dass sich Polizei und Militär ihnen anschließen würden. Zum Glück war diese Einschätzung falsch. Ob ein Vergleich dieses Putsch-Vorhabens mit dem Kapp-Putsch von 1920 oder dem von Ludendorff und Hitler angeführten Putschversuch vom 9. November 1923 angemessen ist, wird sich vielleicht im Laufe der Ermittlungen herausstellen. Zumindest verfolgten die Putschist*innen vergleichbare Ziele und verfügten über ein Netzwerk, dessen Ausmaß wir noch nicht abschließend bewerten können. Eine Recherche der taz belegt, wie gut „Reichsbürger“ und andere Rechtsextremist*innen auch innerhalb der Bundestagsverwaltung vernetzt sind.
Die Putschversuche der Jahre 1920 und 1923 waren Vorboten einer rechtsextremistischen Revolution, die am 30. Januar 1933 gelang. Gehen solche Parallelen zu weit? Zur Erinnerung: es war nicht das erste Mal, dass eine rechtsextremistische Gruppe versuchte, den Deutschen Bundestag zu besetzen. Wir erinnern uns an den 29. August 2020? Damals waren die Bundestagsbesetzer*innen in spe unorganisiert, das war die Gruppe, die am 7. Dezember 2022 ausgehoben wurde, nicht. Damals schützten drei Polizisten das Reichstagsgebäude, dieses Mal gab es ein hohes von Presse begleitetes Polizeiaufgebot in elf Bundesländern.
Wir könnten vermuten, dass die Aufmerksamkeit für die Bedrohung der freiheitlichen Demokratie durch Rechtsextremist*innen gestiegen wäre. Warnungen gab es ja genug. Matthias Quent veröffentlichte am 2. Dezember 2019 einen Essay in „Aus Politik und Zeitgeschichte“ mit dem Titel „(Nicht mehr) warten auf den ‚Tag X‘“. Inzwischen erlebten wir auch den 6. Januar 2020 in Washington D.C. Wäre ein Putsch in Deutschland tatsächlich denkbar? Astrid Séville überschrieb ihren Beitrag tz selben Ausgabe mit der Frage: „Vom Sagbaren zum Machbaren?“ Sie analysierte die Sprache rechtspopulistischer Kreise, darunter der AfD, die durchaus als ideologische Grundlage rechtsextremer Gewalt verstanden werden kann: „Um das Verhältnis vom Sagbaren und Machbaren, von Sprache, Gesinnung und Gewalt im rechtspopulistischen und rechtsextremen Feld auszuleuchten, lassen sich Schlagworte und Narrative herausarbeiten, die gewaltbereiten Bürgerinnen und Bürgern zur Legitimierung der einigen Ansichten und Taten dienen können.“
Szenenwechsel: Am 30. Oktober 2022 starb Mevlüde Genç. Am 23. November 1992 verlor Mevlüde Genç in einem rechtsextrem motivierten Mordanschlag auf das Haus der Familie in Solingen zwei Kinder, zwei Enkel und eine Nichte. Der damalige Bundeskanzler Helmut Kohl ignorierte die Trauerfeier für die Opfer, das hielt er für „Beileidstourismus“.
Mevlüde Genç gab nie auf. Sie war und ist nicht die einzige, die immer wieder das Gespräch mit ihren Nachbar*innen, mit der Politik, in Akademien und anderen Bildungseinrichtungen suchte, um die Gesellschaft, in der sie lebte und leben wollte, zu warnen und – man traut sich kaum, dieses Wort auszusprechen – zu versöhnen. Auch nach dem grausamen Überfall, der ihre eigene Familie für immer zeichnete, blieb sie ohne Hass. Weil der nicht weiterbringt. Auch andere Angehörige der von Rechtsextremisten ermordeten Menschen tun dies. In Mölln organisieren die Überlebenden der Familie Arslan jedes Jahr eine Gedenkveranstaltung an den rassistischen Brandanschlag der Nacht auf den 23. November 1992 auf ihr Wohnhaus.
Die Liste der Morde und Mordversuche ist lang: Mölln, Solingen, Hoyerswerda, Rostock-Lichtenhagen, die Morde des NSU, der Nagelbombenanschlag auf der Kölner Keupstraße, Münchener Olympia-Einkaufzentrum 2016, Pogrom in Chemnitz 2018, der Anschlag auf die Synagogengemeinde am Yom-Kippur-Tag 2019, die Morde in Hanau am 19. Februar 2020, der Mord am Trans*Mann Malte C. im August 2020, der starb, weil er dazwischen ging, als eine Gruppe von lesbischen Frauen homophob angepöbelt wurde. Die Amadeu Antonio Stiftung dokumentiert in der Zeit von 1990 bis 2021 mehr als 200 Tote durch rechtsextreme Gewalt. Allein im Jahr 2019 dokumentierte der Verband der Opferberatungsstellen für jeden Tag fünf Opfer rechter Gewalt. Der am 5. Dezember 2022 vorgestellte Monitoring-Bericht der Berliner Senatsbehörden dokumentierte für das Jahr 2020 377, für das Jahr 2021 456 Straftaten allein zu trans- und homophober Gewalt. Und das sind nur die gemeldeten Straftaten, viele Straftaten werden ja gar nicht erst angezeigt, weil die Betroffenen aus Angst nicht zur Polizei gehen. Die Begründungen sind immer dieselben. Es gibt offensichtliche Verbindungen zu den Mördern von Utøya und Christchurch.
Wer in den Augen der Rechtsextremist*innen „anders“ ist, dem wird Tod und Deportation angedroht, aufgrund ihrer Religion, ihres Geschlechtes, ihrer Hautfarbe, ihrer Herkunft beziehungsweise, da sie oft genug in Deutschland geboren sind, der Herkunft ihrer Familie, ihrer sexuellen Orientierung. Rechtsextremist*innen wollen alle, die „anders“ sind, als sie das in ihrem identitären Wahn gerne hätten, „tot sehen“, so eine Hauptfigur im Roman „Dschinns“ von Fatma Aydemir, der 2022 auf der Shortlist für den Deutschen Buchpreis stand (zitiert nach Franka Maubach in der zitierten Ausgabe von „Aus Politik und Zeitgeschichte“).
Im Klartext: Menschen werden nicht als Personen, sondern als Mitglieder einer als minderwertig markierten Gruppe wahrgenommen und bekämpft, in jedem Fall diskriminiert, sie werden nur als Gruppe gesehen. Dies dokumentieren der von Wilhelm Heitmeyer eingeführte Begriff der „gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit“ und der von Julia Reuter geprägte Begriff der „Ver_Anderung“. Das ist der Boden, auf dem Putschgelüste, Putschversuche, rechtsextremistische Gewalt gedeihen.
Hörten wir zu, als Mevlüde Genç uns ansprach? Hörten wir zu, wenn Ibrahim Arslan, Esther Bejarano sel.A. und viele andere mit uns über die Bedrohung von rechts sprechen wollten? Franka Maubach: „Es war blanke Todesangst, die unter Menschen mit Migrationsgeschichte in der ersten Hälfte der 1990er Jahre umging, (…).“ Und heute? Hören wir wirklich zu, schauen wir wirklich hin? Wann empfinden wir selbst jemanden als „anders“, als „nicht von hier“? Gehören Menschen mit einer internationalen Familiengeschichte, Jüdinnen*Juden, Sinti*zze und Rom*nja in unserem Land wirklich dazu? Oder machen wir ihnen diese „Heimat“ zum „Albtraum“, wie der Titel eines programmatischen Buches anklagt, das Fatma Aydemir und Hengameh Yaghoobifarah im Jahr 2019 herausgaben?
Welche Sprachen werden in den Schulen gelehrt, ist man nur mehrsprachig, wenn man Deutsch, Englisch und Französisch lernt? Was ist zum Beispiel mit Türkisch, Arabisch, Hebräisch, Farsi, Dari? Was wird in Religion, Ethik, Geographie, Geschichte, Mathematik gelehrt, wer sind die Fachkräfte und wie ihre Ausbildung für diese Fächer? Gibt es so etwas wie „eine migrantisch situierte Geschichtsschreibung“ fragt Massimo Perinelli (in „Aus Politik und Zeitgeschichte“ vom 5. Dezember 2022)? Wie divers sind Stadtverwaltungen, Oberbürgermeister*innenposten, Stadtwerke, der Bundestag besetzt? Welche Fähigkeiten fragen wir in Bewerbungsgesprächen ab? Wer fällt immer wieder hinten herunter und wird nicht berücksichtigt? Wissen wir, die Angehörigen der sogenannten Mehrheitsgesellschaft, überhaupt, in welcher Atmosphäre Menschen leben, die nur ein bisschen „anders“ erscheinen, aus welchen Gründen auch immer?
Oder ist alles nicht so schlimm? Die Leipziger Autoritarismus-Studien und die Bielefelder Mitte-Studien stellen seit einigen Jahren fest, dass die Zahl der Menschen, die ein geschlossenes rechtsextremes Weltbild haben, sinkt, inzwischen auf etwa zwei bis drei Prozent. Zur Entwarnung besteht jedoch kein Anlass: die Zustimmung zu verschiedenen rechtsextrem konnotierten Aussagen, zu Antisemitismus, Fremdenfeindlichkeit, anti-muslimischen Aussagen, zu Rassismus steigt! Es vollzieht sich etwas, das Cas Mudde in seinem Buch „Rechts Außen“ (Bonn, Dietz Nachf., 2019) als „rechtes Mainstreaming“ beschrieb. Die Ankündigungen des Thüringer AfD-Vorsitzenden, es würde bei der „Rückführung“ von Menschen in ihre von ihm vermuteten „Heimatländer“ zu „unschönen Szenen“ kommen, scheinen niemanden aufzuregen. Seit 2015 gibt es in Deutschland die Einprozent-Bewegung, in den USA seit 2008 die Threepercenters. Revolutionstheorien belegen, das kann reichen. Kann.
Ein Hoffnungsschimmer: es gibt in Deutschland eine Fülle von Opferberatungsstellen, Beratungseinrichtungen gegen Rassismus und Antisemitismus, auch Meldestellen für antisemitische Vorfälle, in Nordrhein-Westfalen auch für andere Menschenfeindlichkeiten, beispielsweise für lesbische, schwule und Trans-Menschen. Aufklärung, Information, Bildung haben ihren Platz in der Gesellschaft.
Aber reicht das? Oft arbeiten all diese Aufklärungs-Projekte mit prekärer Ausstattung, flächendeckend wirkt keine, und sie alle haben gemeinsam, dass sie auf Initiative der Opfer, auf Initiative der Zivilgesellschaft entstehen und irgendwann, wenn etwas geschieht, der Staat ein wenig nachzieht. Sie alle müssen immer wieder befürchten, dass ihnen staatliche Mittel gestrichen werden. Viel zu lange ignorieren Politik und Medien die Gewaltbereitschaft von rechts, schon viel zu lange verweigern sie Initiativen gegen rechte Gewalt eine auskömmliche institutionelle Förderung. Und in den letzten Wochen konzentrierten sich Politik und Medien auf eine Handvoll junger Leute, die sich mit der Forderung nach Geschwindigkeitsbegrenzung und Neun-EURO-Ticket auf Straßen und Flughäfen anklebten.
Helmut Kohl sprach von „Beileids-Tourismus“. Bei einer Veranstaltung zum Gedenken der Opfer von Hanau einen Tag nach der Tat wurde der Vater eines der Opfer gebeten, die Bühne zu verlassen, es sei schon zu voll. Massimo Perinelli: „Die Angehörigen in Hanau wussten also, dass sie das Erinnern selbst organisieren mussten.“ Ohne das Engagement der Anne-Frank-Bildungsstätte in Frankfurt am Main wären die Angehörigen der Opfer von Hanau wohl nie zu ihrem Recht gekommen. Kein Einzelfall: Christian Bangel, der die „Baseballschlägerjahre“ filmisch dokumentierte, stellte in der zitierten Ausgabe von „Aus Politik und Zeitgeschichte“ vom 5. Dezember 2022 fest, „dass es an vielen dieser Orte kaum eine Auseinandersetzung mit dieser Vergangenheit gegeben hat. Als hätte es all diese Schläge und Schläger nie gegeben. Als sei aus dieser Straßen-Nazikultur nicht auch Terrorismus wie der des NSU entstanden.“
An was erinnern wir uns in etwa zehn Jahren, wenn der 100. Jahrestag des 30. Januar 1933 ansteht? Wie viele Studien und wie viele Aufsätze in Zeitschriften wird es bis dahin gegeben haben? Oder bleibt es nach wie vor bei Bekundungen des Beileids, prekären Finanzierungen und der Annahme, dass das Gedenken doch vor allem eine Sache der Opfer wäre? Schlussstrich-Debatten hatten wir schon zur Genüge.
Beate Blatz, Köln, und Norbert Reichel, Bonn
(Anmerkungen: Erstveröffentlichung im Dezember 2022, letzter Zugriff auf Internetlinks am 14. Dezember 2022. Titelbild: Hans Peter Schaefer.)