Die Reisen des Herrn Maalouf
Schriftsteller, Journalist, Librettist, Analytiker, Visionär
„Der Baum muss sich fügen, er braucht seine Wurzeln; der Mensch nicht. Wir atmen das Licht, wir strecken uns nach dem Himmel, und wenn wir in die Erde sinken, verwesen wir. Der Saft der Heimaterde steigt nicht durch unsere Füße nach oben, unsere Füße dienen einzig zum Gehen. Für uns zählen die Wege. Sie führen uns – von der Armut zum Reichtum oder in neue Armut, von der Knechtschaft zur Freiheit oder in den gewaltsamen Tod. Sie geben uns Hoffnung, sie tragen uns, sie bringen uns voran, schließlich verlassen sie uns. Wir sterben also, wie wir geboren wurden, am Rande eines Weges, den wir uns nicht ausgesucht haben.“ (Amin Maloouf, Die Spur des Patriarchen – Geschichte meiner Familie)
Amin Maalouf, 1949 in Beirut geboren, lebt seit 1976 in Frankreich. Er schreibt auf Französisch und ist Mitglied der Académie Française. Er gehört zu den wenigen Schriftsteller*innen, die sich absolut sicher in unterschiedlichen Genres bewegen, deren Werke dabei helfen, Geschichte zu begreifen, und die die jeweils aktuelle Weltlage mit großer Weitsicht und scheinbarem Abstand analysieren.
Maalouf stammt aus einer literarisch und journalistisch aktiven Familie, nach einer Ausbildung in Wirtschaftswissenschaften und Soziologie folgte er der Familientradition und schrieb zunächst für die große libanesische Zeitschrift Al-Naher und für das Magazin Jeune Afrique, hier avancierte er zum Chefredakteur. 1983 verfasste er mit „Les Croisades vues par les Arabes“ (deutsche Übersetzung: „Der Heilige Krieg der Barbaren: Die Kreuzzüge aus der Sicht der Araber“, 2003 bei dtv erschienen) sein erstes schriftstellerisches Werk und widmete sich nach dessen großem Erfolg ganz der Schriftstellerei. Amin Maalouf, Journalist, Romancier, Historiker, nun seit ein paar Jahren auch Librettist, Barbara Brey nennt ihn in ihrer Rezension der „Reisen des Herrn Baldassare“ einen „Universalgelehrten“. 1993 erhielt er für „Le rocher de Tanios“ (erschienen bei Grasset) den Prix Goncourt.
Leider sind einige seiner Bücher nicht in deutscher Übersetzung lieferbar, lieferbar sind aber neben den französischen Originalen mehrere englische sowie einige spanische und sogar türkische Übersetzungen.
Der „Universalgelehrte“ – in den Welten der Literatur, der Politik und der Geschichte
In der Tat: Amin Maalouf gehört zu den wenigen Autoren, die aus historischen Quellen schöpfen und über das Repertoire mehrerer Sprachen und Wissenschaften verfügen, um die Gegenwart und gesellschaftliche und politische Prozesse mit globaler Weitsicht einordnen, zu erklären und relativieren können. „Wir alle verfügen über zwei Erbschaften: eine ‚vertikale‘, die uns von den Vorfahren überkommen ist, unsere religiösen Gemeinschaften, und unsere Traditionen, und eine „horizontale“ die unsere Gegenwart und unsere Zeitgenossen betriff und das Zeitalter, in dem wir leben. Die zweite scheint mir einflussreicher zu sein als die erste…aber in unserer eigenen Wahrnehmung unserer selbst reflektieren wir dieses Erbe nicht, das Erbe, das uns am meisten beeinflusst, ist das „vertikale“, schreibt Amin Maalouf in den „Identités Meurtrières“ (die deutsche Übersetzung mit dem Titel „Mörderische Identitäten“ erschien im Jahr 2000 in der edition suhrkamp).
Sein Werk umfasst fesselnde Romane über das Leben, die Liebe und die Kraft, die aus dem Austausch von Kultur und Ideen erwächst und Gesellschaften nach vorne bringt, hierzu gehören z.B. seine Romane über historische Persönlichkeiten wie der Diplomat und Rechtsgelehrte Leo Africanus (*1490 in Granada geboren, Todesdatum unbekannt), der Theologe und Kirchenvater Origines (185-253/254), Mani (216-276/277, nach ihm wurde der „Manichäismus“ benannt) oder der Mathematiker und Philosoph Omar Kayyam (1048-1131). Amin Maalouf analysiert zudem in mehreren Essays wie „Le Dérèglement du Monde“, (deutsche Ausgabe unter dem Titel „Die Auflösung der Weltordnungen“ bei Suhrkamp erschienen, allerdings ist der Titel des französischen Originals dynamischer als die deutsche Version und der Begriff der „-ordnungen“ ist in „Monde“ nicht enthalten) „Identités Meurtières“ und „Le Naufrage des Civilisations“ (deutsche Übersetzung wäre „Der Schiffbruch der Zivilisationen“, durchaus in dem Sinne des Zivilisationsbegriffs, den Norbert Elias in seinem 1939 erstveröffentlichten Standardwerk einführte) in klaren und weitsichtigen Analysen jeweils gegenwärtige und nach wie vor aktuelle geopolitische Entwicklungen.
Im Jahr 2000 verfasste er in Zusammenarbeit mit der finnischen Komponistin Kijaa Saariaho (*1952) sein erstes Libretto für eine Oper: „L’amour de loin“, die bei den Salzburger Festspielen uraufgeführt wurde. Fünf Jahre später folgte mit „Adriana Mater“ ein zweites Libretto, ebenfalls mit der Musik von Kijaa Saariaho.
Levantinisch – mediterran
Sein Werk verbindet die Kulturen des Mittelmeerraumes. Indem er der Geschichte der Zivilisationen und ihres Untergangs oder Erstarkens nachgeht, beschreibt er die Seele dieses Raumes, die aus der Kommunikation der gegenüberliegenden Ufer des Meeres entstanden ist und noch entsteht. Das Meer trennt und vereint Schicksale von Nationen, Ideen und Menschen. Die Handelswege wecken die Neugier und bringen Artefakte und Erkenntnisse aus dem weiten Raum zwischen Euphrat und Tigris und dem Mittelmeer nach Westeuropa. Es ist schwer, genau zu definieren, was „Okzident“ ist und was „Orient“, es sind die Bilder und Vorstellungen, die Kämpfe der Zivilisationen untereinander, die dieses sehr eigene geistige Geflecht hervorgebracht haben, eine geistes- und zivilisations-geschichtliche Ellipse, deren Pole in der Levante und in Südeuropa liegen. Eine Galaxie, in der sich Kulturen gegenseitig anziehen und beeinflussen und gleichzeitig in vehementer beständiger Abwehr kampfbereit gegenüberstehen. Das eine Ufer kann nicht ohne das andere, das Mittelmeer wird zum Grab für diejenigen, die der Unerbittlichkeit dogmatischer Politik zum Opfer fallen.
Amin Maalouf weiß nur zu genau um diese Situation, in der immer wieder die Suche nach der eigenen Identität in der Vernichtung des – vermeintlich- anderen mündet, er ist im Libanon geboren. In „Le naufrage des Civilisations“ beschreibt er seine Situation: „Ich bin gesund in den Armen einer sterbenden Gesellschaft geboren, und während meines ganzen Lebens hat mich dieses Gefühl begleitet, Überlebender zu sein, ohne eigenes Zutun und ohne Schuld, dass so viele Dinge um mich herum zu Ruinen zerfielen.“
Amin Maalouf hat mit seinem ersten Werk über die Kreuzzüge aus arabischer Sicht die Themen gesetzt, denen er in allen seinen Büchern nachgeht: Geschichte, Religion, Identität und Zugehörigkeit, Legitimität von Regimen und Missbrauch von Macht, Fanatismus und Blindheit der scheinbar Mächtigen. Er analysiert, warum Menschen sich gegenseitig aus Gründen religiöser, ethnischer oder rassistischen Gründen töten, entgegen der ursprünglich in den Religionen angelegten Botschaft von Islam und Christentum, Toleranz zu üben.
Die Figuren seiner Romane sind Wandernde, Gelehrte, Suchende. Er verwehrt sich dagegen, die Zukunft mit Bildern vom „Kampf der Zivilisationen“ oder „Frieden im Globalen Dorf“ zu belegen, die Geschichte, so Maalouf in „Identités Meurtrières“ ist kein Schicksal, sie macht sich nicht selbst, wir sind für unsere Zukunft verantwortlich. Seine Vision ist eine Welt, in der Religion nichts mehr zu tun hat mit Identität. Das Bedürfnis der Menschen nach Identität muss von religiösen Dogmen und Fanatismus, von Hass und Furcht befreit werden und auf andere Weise Erfüllung finden, damit die Menschheit aus der selbst gebauten Falle herausfindet.
Gewissheiten und Irrwege
Mit großer Weitsicht beschreibt Amin Maalouf in „Le monde dérégulé“, wie der Fall der Berliner Mauer nicht nur die Hoffnung auf eine friedvolle Welt hervorrief, sondern auch den Untergang der westlich geprägten Vorstellungen von Demokratie und gerechten Gesellschaften zeitigte, nach dem Kalten Krieg und der Konfrontation der Systeme geht „der Westen“ scheinbar als Sieger hervor, verpasste aber und verpasst nach wie vor die Chance, seine eigenen Werte zu reflektieren und anzupassen. Ohne den Gegenpart des kommunistischen System konnte sich „der Westen“ nicht weiterentwickeln. So Maaloufs These. Aber der Kommunismus selbst hat auf der gesamten Welt Hoffnungen geweckt, die nicht erfüllt wurden (so auch in „Le naufrage des Civilisations“) Ohne auf Widerstände zu stoßen, kann man einen langen Irrweg gehen, ohne es zu bemerken, sagt Maalouf in einem Interview in Jeune Afrique.
Maalouf beschreibt das Streben nach „Identität“ in scharfer polemischer Abgrenzung zum „Anderen“ als fatale politische Weichenstellung, weil eine solche Haltung schnell eine Seite als unterlegen, als „Opfer“ gekennzeichnet wird, die andere Seite als „Sieger“, die der unterlegenen Seite ihre Werte und Weltbilder aufdrückt. Als Beispiel beschreibt Maalouf, erstmals in „Les Croisades vues par les Arabes“, eine arabische Welt, die vom sogenannten (politischen) „Westen“ überrannt, ausgebeutet und gezeichnet wurde, was vereinfacht gesagt Abgrenzung und Unverständnis fördert und damit Fundamentalismus den Weg bereitet, der sich als Gegenwehr begründet, und so die Gewaltspirale beschleunigt.
Gewissheiten lösen sich in unserer Zeit auf, Weltbilder geraten ins Wanken, eine Zivilisation löst eine andere ab, das ist der Lauf der Geschichte, dem Amin Maalouf in allen seinen Werken folgt. Seine Weltsicht ist nicht dystopisch, er appelliert an den gesunden Menschenverstand, seine Erfahrung als „Ausgewanderter“, nicht Teil und doch teilhabend an der Gesellschaft, in der er lebt, mag die Erkenntnis beflügeln, dass man nicht nur zu einer Kultur, einer Religion, einer Nation gehört, sondern zu einem System von Werten. Der Dialog der Kulturen hat höchste Priorität, ein Dialog, der die Diversität bedenkt und einbezieht. Das ist das Fazit seines Buches „Der Felsen von Tanios“ (die deutsche Ausgabe erschien bei Suhrkamp).
Für Maalouf ist der Libanon eine Art Signal für die restliche Welt. Eine Gesellschaft, in der der wissenschaftliche und geistige Austausch den Interessen und Eitelkeiten einiger Weniger geopfert wurde, nicht dazu zu gehören kann eine schmerzhafte, aber gesunde Position sein, um klar zu analysieren was geschieht. Aber er zieht noch eine andere Konsequenz aus seiner Herkunft: „When one has lived in Lebanon, the most important religion that one has is the religion of coexistence.” („Wenn man im Libanon gelebt hat, dann ist die wichtigste Religion die Religion der Koexistenz.“, zitiert nach American University of Beirut, Originalzitat in englischer Sprache.)
Wenn man es sich wünschen könnte, dann würde ich mir eine Tagung wünschen, mit möglichst großem Publikum, am besten weltweit, während einer Buchmesse oder in einem Theater, ein Forum, in dem Hannah Arendt, Tsitsi Dangaremba, Albert Camus, Carolin Emcke und Amin Maalouf miteinander über Möglichkeiten und Visionen von Freiheit und Zukunft menschlicher Zivilisationen diskutieren.
Beate Blatz, Köln
(Anmerkung: Erstveröffentlichung im August 2022, alle Übersetzungen von der Autorin dieses Portraits, Internetzugriffe zuletzt am 8. August 2022.)
Zum Weiterlesen:
1983 Les Croisades vues par les Arabes (J.-Cl. Lattès), Der Heilige Krieg der Barbaren. Die Kreuzzüge aus der Sicht der Araber
1986 Léon l’Africain – Leo Africanus – Roman (J.-Cl. Lattès)
1988 Samarcande – Sarmakand – Roman (J.-Cl. Lattès)
1991 Les Jardins de lumière (J.-Cl. Lattès) – Die Gärten des Lichts – Roman
1992 Le Premier Siècle après Béatrice – Das erste Jahrhundert nach Beatrice – Roman (Grasset)
1993 Le Rocher de Tanios (Grasset) – Der Felsen des Tanios – Roman
1996 Les Échelles du Levant (Grasset) Die Häfen der Levante – Roman
1998 Les Identités meurtrières (Grasset) – Mörderische Identitäten – Essai
2000 Le Périple de Baldassare (Grasset) – Die Reisen des Herrn Baldassare – Roman
2001 L’Amour de loin – livret d’opéra (Grasset) – Libretto
2004 Origines (Grasset)
2006 Adriana Mater – livret d’opéra (Grasset) – Libretto
2009 Le Dérèglement du monde (Grasset) – Die Auflösung der Weltordnungen – Essai
2012 Les Désorientés (Grasset) – Die Verunsicherten – Roman
2014 Discours de réception d’Amin Maalouf à l’Académie française et réponse de Jean-Christophe Rufin (Grasset)
2016 Un fauteuil sur la Seine – Quatre siècles d’histoire de France (Grasset)
2019 Le naufrage des civilisations (Grasset)
2020 Nos frères inattendus (Grasset)