Die (Sehn-)Sucht nach der homogenen Gesellschaft

Patrice Poutrus über die lange Geschichte anti-migrantischer Politik

„Bis heute wissen vor allem jene, die die Neunzigerjahre im Osten erlebten und von den Neonazis um die Blöcke gejagt wurden, was auch zur Wahrheit rund um den Asylkompromiss gehört: dass nämlich die gewaltbereiten Neonazis im Osten ihre Macht unter Beweis gestellt hatten und fortan jahrelang die Straßen dominierten. Und dass die Ostdeutschen mit dem Asylkompromiss ihre erste politische Lektion in der bundesrepublikanischen Demokratie lernten: Mit Sozialprotesten erreicht ihr nichts, aber auf rassistische Pogrome reagieren wir. Beides, die Vorherrschaft rechtsextremer Alltagskultur und das Wissen, womit man im Westen Aufmerksamkeit erzeugt, prägt die politische Kultur des Ostens bis heute.“ (Christian Bangel, Ein Lichtenhagen-Moment, in: ZEIT online 31. August 2024)

Wer heute über Migration streitet, sollte eine lange Linie bis in die frühen 1990er Jahre ziehen dürfen, als die CDU – auch damals unter Druck von rechts – Änderungen der Asylgesetzgebung forderte und die SPD nach dem Pogrom von Rostock-Lichtenhagen zustimmte. Das Ergebnis war eine Verfassungsänderung, der Artikel 16a Grundgesetz, der die Möglichkeiten, Asyl in Deutschland zu erhalten, deutlich einschränkte. Verschlechtert wurden die Bedingungen für die Opfer der Pogrome, nicht die für die Täter. Man scheint tatsächlich zu glauben, dass es ohne potenzielle Opfer des Rechtsextremismus keinen Rechtsextremismus mehr gäbe. Nach dem Messerattentat vom 25. August 2024 in Solingen gibt es eine erneute große Koalition weiterer Einschränkungen für Migrant:innen, denen diesmal auch FDP (beim Waffenrecht) und Grüne (beim Asylrecht) zuzustimmen scheinen. Die vielen Opfer von Rechtsextremismus, wie sie beispielsweise die Amadeu-Antonio-Stiftung regelmäßig dokumentiert, die Morde von Halle, Hanau und des NSU, die Pogrome in Heidenau, Freital und anderswo scheinen dabei keine Rolle mehr zu spielen.

Patrice Poutrus in der Veranstaltung „Die deutsche Einheit und die Migration“ am 28. August 2024 im Gustav-Stresemann-Institut Bonn. Foto: Daniel Weber.

Der Historiker Patrice G. Poutrus hat sich schon sehr früh mit dem Thema der Migration in der DDR beschäftigt. Er wurde in der DDR geboren, begann dort 1989 ein Geschichtsstudium und ist heute als Wissenschaftler an der Universität Osnabrück tätig. In mehreren Gesprächen und in einer Abendveranstaltung mit dem Titel „Die deutsche Einheit und die Migration“ vom 28. August 2024 im Bonner Gustav-Stresemann-Institut hat er seine Erfahrungen und Studien zur Migrationsgeschichte der DDR, der Bundesrepublik sowie des Vereinten Deutschlands vorgestellt. Er veröffentlichte unter anderem das Buch „Umkämpftes Asyl“ (2019 bei Ch. Links), gemeinsam mit Jan C. Behrends und Thomas Lindenberger den Sammelband „Fremde und Fremdsein in der DDR“ (2003 bei Metropol) sowie gemeinsam mit Christian Th. Müller den Band „Ankunft, Alltag, Ausreise“ (bei Böhlau 2005). Weitere Themen seiner Arbeit sind zum Beispiel Erinnerungskultur und Alltagsgeschichte. Er widerspricht der Annahme, der in Ostdeutschland feststellbare Rassismus resultiere aus dem Frust über die sogenannte „Transformationszeit“ und die „Abwicklung“ der DDR-Wirtschaft der frühen 1990er Jahre.

Migrationsgesellschaft DDR

Norbert Reichel: Im Jahr 1990 gab es in der Regierung der DDR ein neues Amt, das Amt der Ausländerbeauftragten. Bereits in der Regierung Modrow, der auch mehrere oppositionelle Minister:innen ohne Geschäftsbereich angehörten, übernahm die evangelische Pfarrerin Almuth Berger diese Aufgabe. Sie wurde durch ihre Organisation Demokratie Jetzt an den Zentralen Runden Tisch delegiert und leitete die Arbeitsgruppe Ausländerfragen.

Patrice Poutrus: Almuth Berger hat eine ganz besondere Biographie. Sie hat sich schon in den Jahren vor 1989 um die ausländischen Vertragsarbeiter in der DDR gekümmert, die „ausländische Werktätige“ hießen. Deren Behandlung sowohl von den offiziellen Institutionen als auch von großen Teilen der Bevölkerung entsprach eben nicht den großen Idealen der „Völkerfreundschaft“, des „Internationalismus“ und der „Solidarität“. Die DDR war durchaus eine Migrationsgesellschaft, aber man ist eher aus ihr herausmigriert als hinein. Zwischen 1949 und 1961 sind fast drei Millionen Richtung Westen abgewandert, etwa 20 Prozent der Bevölkerung. Das ist eine enorm hohe Zahl. Diese Abwanderung endete nie.

Später bin ich mit Frau Berger in einer Forschungsgruppe in Kontakt gekommen, die sich mit dem Alltag in der DDR beschäftigt hat. An dem Buch von Frau Hoyer hat mich ganz besonders aufgeregt, dass sie meinte, erst sie begänne damit, zum Alltag der DDR zu forschen, 25 Jahre später! Das ist Unsinn. Wir haben in unseren Forschungen festgestellt, dass es in der DDR unterschiedliche „prekäre Lebenslagen“ – so haben wir das genannt – gegeben hat, die aber immer etwas mit gesellschaftlichen Minderheiten zu tun hatten. Frau Berger hat damals als Ausländerbeauftragte des Landes Brandenburg darauf hingewiesen, dass darüber in Ostdeutschland viel diskutiert würde, aber überhaupt nicht geforscht.

Almuth Berger hat den Impuls gegeben, eine Forschungsgruppe in Potsdam zu etablieren, die durchaus kontrovers diskutierte und bis heute nicht ausreichend bekannten Ergebnisse in die Zeitgeschichtsforschung integrierte. Wir hatten die Ergebnisse in vier Gruppen aufgeteilt: Die sowjetischen Besatzungstruppen, immerhin eine halbe Million Soldaten und Zivilangestellte, in einem Land von 16 Millionen bedeutungsvoll, ausländische Studierende, politische Flüchtlinge und dann Arbeitsmigrantinnen, hier mit kleinem „i“ geschrieben, denn wir sollten auch über die Frauen sprechen, denn die Diskussionen liefen in der Regel nur über die männlichen Arbeitsmigranten. Der Sammelband „Fremde und Fremdsein in der DDR“, den ich mitgestaltet habe, hatte darin seinen Ausgangspunkt. Ich habe dafür eine Studie über politische Flüchtlinge in der DDR gemacht, die es auch gab, wie sie in die DDR kamen, wie sie behandelt wurden.

Ich bin als Referent viel durch Brandenburg, Thüringen und Sachsen getingelt. Es war nicht so, dass diejenigen, die zu diesen Vortragsveranstaltungen kamen, unsere Ergebnisse abstritten. Wenn wir diese Ergebnisse vorgestellt haben, war es die letzte Ausflucht zu sagen, das war doch nicht so schlimm, aber wie war es denn im Westen? War es da denn da wirklich anders? Ein Punkt war die Frage, wie ist mit politisch Verfolgten in der Bundesrepublik umgegangen worden? Das Argument, woanders ist es auch schlimm, ist aber nun eine Art Whataboutism, abgesehen davon, dass dahinter eine gewisse Unehrlichkeit steckt, denn die DDR hatte immer den Anspruch, besser zu sein als der Westen, humanistischer, solidarischer, internationalistisch.

Der sogenannte „Asylkompromiss“

Norbert Reichel: Eine Wegmarke war der sogenannte „Asylkompromiss“ von 1993, die Einfügung des Artikels 16a ins Grundgesetz. Die CDU hatte das schon längere Zeit gefordert, die SPD knickte nach dem Pogrom in Rostock-Langenhagen ein. Ich gestehe, dass ich die aktuelle Debatte, Ende August, Anfang September 2024, nach dem Messerattentat von Solingen und dem Wahlergebnis in Sachsen und Thüringen, fast schon als Déjà-Vu erlebe.

Patrice Poutrus: Der Asylkompromiss von 1993 war der erste große Verfassungskonflikt, den es unmittelbar nach der Deutschen Einheit gegeben hat. Ich habe in Bonn vor dem Schloss gegen die Abstimmung demonstriert, ich habe versucht, Abgeordnete zu hindern, den Plenarsaal zu betreten, um dort abzustimmen. Ich denke bis heute, das war eine Aufgabe von Prinzipien, die nicht nur der Bundesrepublik gut zu Gesicht gestanden haben und auch zur politischen Kultur beigetragen haben. Ich habe nicht verstanden, dass das in der Berliner Republik – vorsichtig formuliert – auf den Prüfstand kam.

Norbert Reichel: Zu dieser Aufgabe von Prinzipien eine kurze Geschichte. Nach dem Pogrom in Hoyerswerda zwischen dem 17. und dem 23. September 1993 war ich in Hoyerswerda. Es war eine Veranstaltung zum 3. Oktober. Der damalige Bürgermeister von Hoyerswerda bedankte sich beim damaligen Ministerpräsidenten Kurt Biedenkopf, dass er ein Einsehen gehabt habe und keine Asylbewerber mehr nach Hoyerswerda schicke.

Vielleicht versuchen wir eine Analyse der Entwicklungen, die zu dem Asylkompromiss und mittelfristig – 30 Jahre sind historisch gesehen kein langer Zeitraum – zu den heutigen Debatten führten. Christina Morina hat in ihrem Buch „1.000 Aufbrüche“ Äußerungen von Bürger:innen zu Beginn der 1990er Jahre ausgewertet, die meines Erachtens belegen, dass die heute populären Ressentiments sich schon damals abzeichneten. Auch schon vor 1990, denn manche im Westen tun ja so, als sei damals im Westen alles in Ordnung gewesen. Das war es ganz und gar nicht. Die Aufnahmebereitschaft gegenüber der Gastarbeitergeneration, der Familiennachzug – all das war durchaus schon mit Ressentiments gegen alle, die aus einem anderen Land ein- und zuwanderten, aus welchen Gründen auch immer, verbunden. Aber wie war es in der DDR?

Patrice Poutrus: Im Verhältnis zu Nicht-Deutschen spielten in der DDR Gerüchte eine wichtige Rolle. Das galt für ausländische Studierende wie für die sogenannten „Politmigranten“ – das war die Politsprache für politische Flüchtlinge – aus dem von Franco regierten Spanien, aus Chile nach dem Putsch gegen Allende. Mitglieder der Tudeh-Partei im Iran kamen schon in den 1950er Jahren, als der Schah gegen die damals frei gewählte Regierung geputscht hatte. Er selbst ist ja auch nicht mit Wahlen an die Macht gekommen. Am Ende der DDR kamen Mitglieder der kommunistischen Partei der Türkei in die DDR, nachdem die Militärdiktatur die Verfassung außer Kraft gesetzt hatte. Das gab es immer wieder.

Ich zitiere eine Formulierung – sie ist nicht von mir –es war immer die Frage, wer kam in die DDR, wer hat das erlaubt, wem nützen die? Aufgrund dieser unmittelbar mit dem SED-Staat verbundenen Positionierung wurden Migrant:innen auch immer mit dem SED-Staat in Verbindung gebracht, ob sie wollten oder nicht. So dachte eben die Mehrheitsbevölkerung. In Erfurt, wo ich lange gearbeitet habe, gab es 1975 im August pogromartige Ausschreitungen gegen algerische Arbeitsmigranten. Der Verlauf dieser Ausschreitungen hatte viel von den Ausschreitungen in Hoyerswerda. Und so ging es immer weiter. Zuerst wurden die Täter geschützt.

Rostock-Lichtenhagen, Sonnenblumenhaus. Wikimedia Commons.

Das Interessante daran ist, dass das Erfurter Pogrom nicht zu einem Kulminationspunkt einer Einwanderung in die DDR stattfand, sondern zu Beginn der Einwanderung. Unmittelbar, nachdem ausländische Arbeitskräfte in die DDR kamen, gab es Gewalt. Ein anderes Beispiel: In Merseburg sind zwei Kubaner ermordet worden. Wir wissen noch nicht viel über diese Dinge, weil sie nicht nur ein gesellschaftliches, sondern auch ein politisches Tabu waren. Solche Konflikte ergaben nur Randnotizen. Die Konsequenz für die Arbeitsmigranten war, entweder ihr schweigt still oder ihr geht. Auch darin liegt eine Parallele zu Hoyerswerda. Wenn die Migrant:innen sich nicht verhalten wie die Mehrheitsgesellschaft meint, sie sollten es tun, sollten sie am besten gehen. Der Weg von dieser Haltung zu den Ereignissen von Hoyerswerda oder Rostock-Lichtenhagen oder Freital und Heidenau – wo übrigens meine sächsische Familie lebt – ist nicht so kurz, argumentativ wie praktiziert.

All die Argumente, dass dies etwas mit den Verwerfungen des Transformationsprozesses zu tun hätte oder dass es so etwas in der DDR nicht gegeben hätte, treffen einfach nicht zu. Aber das ist nicht totzukriegen. Es gibt so gut wie keine Diskussionsveranstaltung, in der diese Diskussion nicht wieder von vorne geführt wird. Auch von Autor:innen, die heute glauben, für die Ostdeutschen sprechen zu müssen, wird immer wieder dieses Argument vorgetragen, obwohl diese Autor:innen es eigentlich besser wissen müssten. Aber das ist offenbar nicht die Literatur, die sie lesen. Ich habe in einem Gespräch mit Christian Bangel in der Zeit gesagt: „Das grenzt an Geschichtsklitterung“.

Das Assimilationsparadigma

Norbert Reichel: Oder gar nicht lesen wollen. Ein Zauberwort ist immer „Integration“. Es wird ein- oder zugewanderten Menschen immer wieder vorgeworfen, sie wollten sich nicht integrieren. Sie würden nur in Stadtteile ziehen, in denen ohnehin schon viele Migrant:innen wohnten. Wie schwer es ist, mit einem ausländischen Namen eine Wohnung in einem anderen Stadtteil zu mieten, wird dabei nicht berücksichtigt. Ein anderer Vorwurf betrifft mangelnde Deutschkenntnisse. Es wird ignoriert, dass die Zahl der Deutschkurse von BAMF und Ländern deutlich reduziert wurde, weil angeblich keine Haushaltsmittel zur Verfügung stünden. So entstehen erhebliche Wartezeiten. Qualifizierte Menschen dürfen nicht eingestellt werden, weil das Sprachzertifikat fehlt, aber ihnen wird vorgeworfen, sie wollten nicht arbeiten, sondern nur an die deutschen Sozialsysteme ran.

Patrice Poutrus: Das Wort „Integration“ stammt aus der US-amerikanischen Literatur über ethnische Ghettos in den Großstädten. Es gab eine Debatte, wie man Desintegration in solchen Vierteln vermindern könnte. Der Begriff ist dann über die englischsprachige soziologische Literatur über den Atlantik gekommen. Und das in dem Moment, in dem man darüber nachdachte, wie man Migrant:innen wieder loswürde. Die Argumente waren die folgenden: die sind desintegriert, die leben in eigenen Vierteln, das Wort von den „Parallelgesellschaften“, da müsste man am besten Zuzugstopps verhängen. In Nordrhein-Westfalen gab es – damals unter sozialdemokratisch geführter Regierung – Diskussionen darüber, ob man in bestimmten Vierteln Ausländerzuzug unterbinden sollte.

Schließlich wurde der Begriff der „Integration“ zu einem Synonym von „Assimilation“. In der Literatur wie in der Öffentlichkeit. Das Assimilationsparadigma entstand in Deutschland im Umgang mit den Ostjuden, die in Deutschland damals die größte Gruppe von Einwanderern vor dem Ersten Weltkrieg stellten. Im Zarenreich, zu dem die heutige Ukraine und Teile des heutigen Polens gehörten, war es nach dem verlorenen russisch-japanischen Krieg im Jahr 1905 zu fürchterlichen Pogromen gekommen. Ganze Stadtviertel hatten sich auf dem Weg nach Westen gemacht. Es gab dann in Deutschland Diskussionen, ob die Ostjuden überhaupt integrierbar wären. Ein Ergebnis war das Scheunenviertelpogrom von 1923 rund um den heutigen Berliner Ostbahnhof.

Es gibt zwei verschiedene Verständnisse von Integration. Auf der einen Seite geht es darum, eine Politik zu machen, die bestimmten Gruppen den Weg in die Gesellschaft ermöglicht. Dazu gehören Arbeitserlaubnisse, Sprachkurse, Beschulung der Kinder und so weiter. Auf der anderen Seite gibt es den alltäglichen Begriff von Integration: Zeigt wie integriert ihr seid, dann akzeptieren wir euch vielleicht. Das ist sozusagen das Stöckchen, das man Migrant:innen hinhält, über das sie zu springen und ständig zu beweisen haben, dass sie auch wirklich integriert sind.

Norbert Reichel: Was damit genau gemeint ist, bleibt in der Regel unklar. Es wird auch von niemandem definiert. Es ist ähnlich wie mit dem merkwürdigen Begriff der „Leitkultur“ und all den hilflosen Versuchen, diese zu definieren. Und weil keiner so richtig weiß, was das sein soll, lassen sich die Inhalte dieser sogenannten „Leitkultur“ beziehungsweise der „Integration“ beliebig verändern. Die Latte, die übersprungen werden soll, wird immer höher.

Patrice Poutrus: Das Problematische an der Praxis ist, dass in jeder Konfliktposition behauptet werden kann, dass der Konflikt nicht beiderseitig ist, wie es normalerweise ist, sondern dass der Konflikt daher rührt, dass die eine Seite nicht richtig integriert wäre. Das ist ein Ungleichgewicht zwischen Hol- und Bringschuld.

In der DDR war aber überhaupt nicht vorgesehen, dass die Leute länger bleiben als ihnen gesagt wurde. Das ist de facto eine institutionelle Praxis gewesen, die mit der Auffassung der Mehrheit in der DDR übereinstimmte. Wenn es Streit gibt, müsst ihr gehen. Das ist ein Modus, der sich auch nach 1990 fortsetzte – und da ist Hoyerswerda genau das passende Beispiel: Um die Erstaufnahmerichtung in Hoyerswerda gab es Konflikte und der Konflikt wurde gelöst, indem die Geflüchteten weggeschafft wurden. Das hat sich bis heute in seiner symbolischen Bedeutung kaum geändert. Es besteht die Vorstellung, dass man Konflikte löst, indem man die vermuteten Anlässe für die Konflikte loswird. Die demokratischen Parteien tun dabei immer wieder so, als wenn sie das sogenannte „Problem“ einfach besser lösen könnten als die Rechtsextremisten und Rechtspopulisten.

Norbert Reichel: Friedrich Merz behauptete mal, die CDU sei die „Alternative für Deutschland mit Substanz“. Als er merkte, was er da gesagt hatte, verschwand die Bemerkung auch schnell wieder.   

Patrice Poutrus: Es ist etwas ganz Altes: Dahinter steckt die Ansicht, dass eine Bevölkerung möglichst homogen sein soll. Nur dann wäre es eine Bevölkerung, in der es keine Konflikte gibt. Dies ist auch schon im wilhelminischen Kaiserreich massiv betrieben worden. Offiziell hieß diese Politik „Germanisierung“. Sie betraf zum Beispiel die Ruhrpolen in ganz hohem Maße. Diese waren ja nicht nur Polen, sondern auch noch Katholiken, was im preußisch-protestantischen Staat auch nicht gern gesehen war – deshalb gab es ja den Kulturkampf. Und es betraf die Ostjuden, es gab den Antisemitismuskonflikt, ob Juden überhaupt integrierbar, assimilierbar wären.

Es hat aber nur einmal einen Zustand fast vollkommener Homogenität gegeben, in Ost- und in Westdeutschland, das war nach dem Zweiten Weltkrieg. Ohne NS-Herrschaft, ohne den Krieg, ohne den Holocaust wäre ein solcher Zustand in Deutschland nicht denkbar gewesen, dass es so gut wie keine Nicht-Deutschen mehr gab und dass sich niemand mehr vorstellen konnte, dass das sich wieder einmal ändern könnte. Dieser Zustand wird auch 1993, auch heute noch, offenbar weitgehend als das anzustrebende Ideal betrachtet. Man könne wirtschaftliche Konflikte lösen, wenn man nur wieder zu diesem Ideal zurückkehren könnte.

Norbert Reichel: Höcke geht ja sogar noch einen großen Schritt weiter, indem er fordert, dass man sich auch von großen Teilen der Bevölkerung trennen müsse, die seine Ansichten und die Ansichten seiner Partei nicht teilten. Das ist eine klare Ansage an alle, die gegen eine potenzielle AfD-Regierung opponieren. Die Deportation von Migranten, Stichwort „Remigration“, ist dann nur der Anfang. Bei den Landtagswahlen plakatierte die AfD: „Remigration jetzt“. Und Oskar Lafontaine verwendet kontinuierlich den Begriff „Fremdarbeiter“, was er schon 2005 tat: „Der Staat ist verpflichtet, seine Bürgerinnen und Bürger zu schützen. Er ist verpflichtet zu verhindern, dass Familienväter und -frauen arbeitslos werden, weil Fremdarbeiter zu niedrigen Löhnen ihnen die Arbeitsplätze wegnehmen.“ Er präzisiert natürlich nicht, wen er damit konkret meint, deutet aber letztlich an, dass er alle meint, die eine Migrationsgeschichte haben, gleichviel in welcher Generation.

Patrice Poutrus: Wenn ich darüber rede, löst das bei mir – wie soll ich es sagen – immer Beklemmungen aus. Es geht nicht um Zahlen, es geht nicht um einzelne Taten, es geht um ganze Gesellschaftsgruppen. „Remigration“ ist eigentlich ein Wort, das aus der Forschung kommt. Das Wort entstand im 19. Jahrhundert, als etwa 60 Prozent der Bevölkerung in Irland über den Atlantik in die USA ausgewandert waren. Von denen hat eine große Zahl am Ende gesagt, die Industrialisierung in den USA wäre doch nicht das, was sie sich vorgestellt hatten, und sind zurückgekehrt. Das Buch „Die Asche meiner Mutter“ („Angela‘s Ashes“) von Frank McCourt berichtet von einer solchen Geschichte. Was jetzt diskutiert wird, ist jedoch etwas anderes. Jetzt wird über Entrechtung, Deportation und in letzter Konsequenz über gewaltsame Vertreibung geredet.

Norbert Reichel: Höcke spricht von „unschönen Szenen“, die es geben werde. Und das, was wir südlich des Mittelmeers in Tunesien oder in Libyen erleben, ist im Grunde genau das. Das müssten wir uns dann auch hier in Deutschland vorstellen. Wir erleben es auch schon an der polnischen und der finnischen Grenze, an die Putin und Lukaschenka Migrant:innen transportieren und diese geradezu als Kriegswaffe gegen den liberalen Westen in Stellung bringen.

Patrice Poutrus: Das Unangenehme ist, dass die Konsequenz, die dahintersteht, nicht diskutiert wird. Eine solche Politik wird nie alle treffen. Aber der letzte Versuch, die deutsche Gesellschaft ethnisch zu homogenisieren, ist 1945 gescheitert. Es ging damals um viel weniger Menschen als über die heute geredet wird. Was für eine Gesellschaft soll das werden, wenn das mehrheitsfähig ist, dass alles besser ist als das, was wir jetzt haben? Ich habe lange Jahre in Thüringen gearbeitet. Dort herrscht in weiten Teilen diese Atmosphäre, diese Vorstellung, man müsse nur einmal tief durchgreifen. Unangenehmerweise wird dort ein Wort von Angela Merkel benutzt, das Wort des „Durchregieren-Könnens“. Dann könne man die Verhältnisse wieder in Ordnung bringen. In einem großen Gewaltakt entsteht eigentlich erst Ordnung?! Die Konsequenzen werden beiseitegelassen. Dass es so weit gekommen ist und dass Ostdeutschland dabei auch eine Art Vorreiterrolle spielt, das geschieht nicht aus Versehen.

Homogenisierung in der Sprache

Norbert Reichel: Eben sprachen wir schon von der verbreiteten Annahme, die Transformationszeit der 1990er Jahre sei an allem schuld. Ein Begriff, der in diesem Zusammenhang immer wieder zur Rechtfertigung solcher Einstellungen verwendet wird, ist der Begriff der „Traumatisierung“.

Patrice Poutrus: Der Traumabegriff wird zurzeit inflationär verwendet. Ich habe neulich in der Berliner Zeitung gelesen, der Abriss des Palastes der Republik habe bei Ostberlinern ein Trauma ausgelöst. Ich habe nur gedacht, den Begriff können wir jetzt auch in den Skat drücken. Der bedeutet alles und nichts mehr. Er wurde ursprünglich entwickelt, um Gewalterfahrungen von Weltkriegsteilnehmern beschreiben zu können. Das meinte ursprünglich „Trauma“. Der Begriff ging dann ins Kriminologische über und im Feuilleton ist inzwischen alles Trauma.

Solche Entdifferenzierungen führen dazu, dass dann welche sagen, ich habe beim REWE etwas nicht bekommen und das war ein Trauma! Das ist auch eine Form von Homogenisierung. Die Gleichmachung von Erfahrungen, dass irgendwie alles eins ist.

Das ist fast so schlimm wie die Bemerkung, dass wir alle uns einmal nach dem Nazi in uns selbst befragen sollten. Das ist völliger Unsinn, denn Nazi ist eine konkrete Positionierung, sowohl in der Geschichte als auch in der Gegenwart. Das in jedem zu sehen ist für die Nazis eine ungeheure Entlastung. Sie müssen sich gar nicht mehr mit ihrer Menschenfeindlichkeit konfrontieren, denn Nazis sind ja überall. Das korrespondiert mit der Vorstellung, dass es ein Wert an sich wäre, dass alle gleich sein sollten. Diese Vorstellung ist in der ostdeutschen Debatte über Jahrzehnte vorangetrieben worden. Von Wolfgang Engler bis zu Dirk Oschmann.

Diese Vorstellung hat mit der Wirklichkeit überhaupt nichts zu tun. Vor etwa fünf Jahren habe ich in der ZEIT einmal einen wütenden Artikel mit dem Titel „Neo-Ostalgiker“ geschrieben, dass wir auch in der DDR verdammt noch mal nicht alle gleich waren. Ich kritisierte „das homogenisierende Opfernarrativ“. Ich habe das auf den einen Punkt gebracht, von dem ich dachte, dass ihn jeder verstehen müsse. Die wenigsten haben im Gefängnis der Staatssicherheit gesessen und die wenigsten waren Schließer in diesen Gefängnissen. Und doch gibt es einen signifikanten Unterschied, ob man vor dieser Tür oder hinter dieser Tür war, oder ob man nicht ins Gefängnis gekommen war, ob man aber vielleicht damit bedroht wurde oder nicht bedroht wurde. Wir waren in der DDR nicht alle gleich. Wir haben auch die „Transformationszeit“ nicht alle auf gleiche Weise erlebt.

Norbert Reichel: Offenbar ist das Opfernarrativ, wir haben alle gleichermaßen gelitten, in hohem Maße identitätsstiftend. In dieser Erzählung haben Minderheiten natürlich keinen Paltz, auch nicht Frauen. Daher möglicherweise die Kampagnen gegen „Genderwahn“ und „LSBTIQ*“, gegen sogenannte „Identitätspolitik“.

Denkmal „Herbst 1991 – Hoyerswerda vergisst nicht – Wir erinnern“ im Stadtpark in Hoyerswerda. Wikimedia Commons.

Patrice Poutrus: Diese Aneignung der Kinder der politischen Klassen des SED-Staates, die ihre Eltern haben leiden sehen, als es zum Elitenwechsel kam, ist noch lange nicht das Gleiche wie das Schicksal von Millionen, die ihre Existenz verloren haben. Diejenigen, die der Dienstklasse der DDR angehören, tragen Verantwortung dafür. Es gibt auch hier in der Diskussion um die Vergangenheit eine Vereinheitlichung, die zu einfachen Lösungen führt. Entweder sind die Wessis alles schuld. In der Transformationszeit wurde an vielen Stellen auch ganz bewusst Wessis die Verantwortung übertragen. Zum Beispiel in meinem Fußballclub: Da kam so ein Scharlatan und sagte, ich habe hier drei Millionen und ich bringe euch in die Erste Bundesliga. Wir haben uns dann in der vierten Liga wiedergefunden. Heute will niemand mehr wissen, dass Mitglieder darüber abgestimmt haben, dass das in der Presse positiv begleitet wurde, oder auch, dass an der Universität, an der ich studiert habe, der evangelische Pfarrer, der Präsident war, sich als IM herausstellte und man sich auf die Lösung verständigte, sich jemanden aus dem Westen zu holen, weil man mit dem das Stasi-Problem nicht hätte.

Norbert Reichel: Ich kann dazu aus meiner West-Erfahrung sagen, dass es eine ganze Reihe von Menschen gab, die im Westen nicht zurechtkamen, an den Hochschulen, in der Wirtschaft, in den Ministerien, die sich dann im Osten anboten und verdingten. Auch da waren eine ganze Menge Scharlatane unterwegs. Zur Anfälligkeit in Ostdeutschland für deren Heilsversprechen passt ein Plakat, das auf Demonstrationen gezeigt wurde: „Helmut, nimm uns an die Hand und führe uns ins Wirtschaftswunderland“.

Patrice Poutrus: Es hatte Auswirkungen, wie die Hochschulen geführt wurden, wie die Entscheidungen getroffen wurden. Die Fragen wurden nicht gestellt, aber es hat mich dazu geführt, Geschichte zu studieren. Ich hatte in der DDR die Hoffnung, dass Gorbatschow uns alle retten wird und dachte, da machst irgendwie mit. Das Scheitern musste man irgendwie auf sich nehmen, aber es ist eben schwer und offenbar kaum möglich, sich einzugestehen, dass es auch ein persönliches Scheitern war. Das waren nicht irgendwelche Mächte, die hinter einem standen.

Man muss sich die Fragen stellen, was hast du da gemacht, was bedeutet das heute? Diesen Fragen wurde Anfang der 1990er Jahre gerade in der Asylkrise nicht nachgegangen. Entweder waren die Flüchtlinge an allem schuld oder die Wessis waren an allem schuld. Oder wer auch immer. Aber dass es irgendetwas mit einem selbst zu tun hat, dass man Entscheidungen getroffen hatte, dabei auch Fehler gemacht, das steht offenbar nicht zur Debatte, obwohl einem daraus kein öffentlicher Nachteil entsteht, wenn man sich eingesteht, dass man sich in Konfliktsituationen verändert hatte, sich neu orientieren musste, sich eben nicht ungebrochen die Lebensgeschichte erzählt, sondern als Geschichte der Brüche. Wovon sollen wir denn lernen? Doch nur davon, dass wir Fehler gemacht haben. So wird auch in der Migrationsdebatte wieder über Menschen geredet, dass alles in Ordnung wäre, wenn Menschen verschwinden.

Ich bin ja ein älterer Herr und bin noch auf Facebook. Da bekommt man auch Werbung. Seit Solingen bekomme ich dauernd Werbung von Standmessern. Kann das mir mal jemand erklären? Standmesser. Deutsche Anbieter von Messern mit langen Klingen bieten mir auf Facebook seit dem Anschlag von Solingen permanent Standmesser an.

Es ist so eine einfache Sache, an die einfachen Lösungen zu glauben und alles wäre gut. Letztlich ist es das, was man in der DDR geglaubt hat, dort machen zu können. Man verabschiedet sich von der nationalsozialistischen Geschichte und alles ist gut. Niemand war mehr im BDM, niemand war mehr in Hitlerjugend, niemand in der Arbeitsfront. Man musste nicht mehr darüber reden, diese Fragen nicht stellen, sondern sich nur irgendwie dagegen bekennen. Darauf haben auch westdeutsche Wissenschaftler in dem Buch „Opa war kein Nazi“ hingewiesen. Sie wollten sich ursprünglich nur mit Nordrhein-Westfalen beschäftigten und stellten dann fest, dass es ganz ähnliche Selbstdeutungsmuster in Ostdeutschland gab, die diesen Fragen aus dem Weg gehen wollten.

Wenn wir über Solingen sprechen: 1992 hat das Haus der Familie Genç gebrannt. Die Opfer waren Frauen und Mädchen. Die Reaktion der Bundesregierung war, die Migrationsgesetze zu verschärfen, das Asylrecht zu verändern. Die von der Gewalt Betroffenen waren die Betroffenen der Änderungen. Das aktuelle Messerattentat fand übrigens auf einem „Fest der Vielfalt“ statt – das war nicht irgendein Stadtfest. Es gibt unter den Überlebenden einen iranischen Geflüchteten. Und worüber reden wir in der politischen Debatte? Was soll als nächstes erfolgen?

(Anmerkungen: Erstveröffentlichung im September 2024, Internetzugriffe zuletzt am 4. September 2024. Titelbild: Andreas Bohnenstengel, Asylbewerberheim 1993 in München, aus der Serie „Kindheit im Asyl“, Wikimedia Commons.)