Ein Machtkampf
Wie die Grünen in die Defensive gerieten
Es wäre sicherlich denkbar, die einhundertunderste Meinung zum deutschen Heizungsgesetz zu präsentieren, mit allen Details (nein, hier wird das Heizen nicht verboten, es ist ein Übergang, keine das Klima schützende Technologie wird ausgeschlossen, manche als Superlösung angepriesene Technologie ist in absehbarer Zeit nicht verfügbar oder pure Science-Fiction). Wer sich über die Fakten informieren möchte, hat genügend Gelegenheit dazu: GEO bietet „Sieben Mythen über Wärmepumpen im Faktencheck“ (Quelle: Correctiv), der Tagesspiegel informierte, was in anderen Ländern längst geschieht, nicht nur im oft zitierten Dänemark, das seine „Wärmewende“ wohl schon geschafft hat. Das ist die eine Seite der Geschichte.
Die andere Seite ist die Frage, wie von wem über das aktuelle Heizungsgesetz und damit auch über den Klimaschutz diskutiert wird. Diese Frage hat viel damit zu tun, wie hitzig oder erhitzt – man verzeihe die Metaphorik – Debatten in einer liberalen Demokratie geführt werden und wann sie diese beschädigen. Manchmal klingt es recht martialisch, so in der Überschrift des Textes von Peter Unfried in taz FUTURZWEI: „Wärmewende als Entscheidungsschlacht?“ Für die FDP offenbar schon, sonst hätte sie wohl kaum einen Tag nach dem Kabinettbeschluss, den sie mitgefasst hatte, öffentlichkeitswirksam 101 Fragen angekündigt, die dann doch nur 77 Fragen waren.
Johannes Hillje, Politik- und Kommunikationsberater, der 2014 den Europawahlkampf der Grünen organisierte, monierte zwei kritische Punkte: einerseits hätte Robert Habeck einkalkulieren müssen, dass der Gesetzentwurf durchgestochen wird (das ist nichts Ungewöhnliches!), sodass sich die BILD-Zeitung darüber hermachen konnte, andererseits hätte er vorbeugend in einer Pressekonferenz oder einem Interview offensiv für den Gesetzentwurf werben können. Stattdessen schwieg er. Den „Wendepunkt“ sieht Johannes Hillje jedoch bereits bei der verunglückten Debatte um die Restlaufzeiten der drei verbliebenen Atomkraftwerke. BILD und FDP schwiegen nicht und sorgten dafür, dass die Stimmung eskalierte. Die CDU zog nach, die AfD profitiert.
Man könnte dieses Verhalten als deutsche Neigung abtun, sich immer heftig aufzuregen. Roger de Weck schrieb am 13. Juli 1984 (erneut abgedruckt in der Sonderausgabe der ZEIT zu ihrem 77. Geburtstag), kurz nachdem er aus der Schweiz nach Hamburg kam, dass die Deutschen gar nicht so preußisch-unterwürfig wären wie sich das manche im Ausland vorstellten: „Nicht ihr Hang zu unbedingtem Gehorsam, sondern im Gegenteil ihre undemokratische Fähigkeit zu heller Empörung kennzeichnet die Menschen in der Bundesrepublik. (…) Jeder noch so laue Konflikt wird gleich als ‚Krieg‘ hochgespielt. Aussperrung, so war kürzlich auf Transparenten zu lesen, sei ‚Terror‘. Teilt die Presse harte Schläge aus, ist das ‚Hinrichtungsjournalismus‘. (…) Zunächst fiel mir auf, dass hierzulande unheimlich viel über Paragraphen gesprochen wird – darüber, wie jeder seine Interessen gegenüber dem Staat am besten wahrnehmen kann.“
Mein Haus, mein Auto, meine Heizung, meine Autobahn? Scheint so. Als Galionsfigur der Hetzvokabeln scheint sich Hubert Aiwanger wohlzufühlen. Er erntet Widerspruch, aber viele bejubeln ihn, als mutigen Kämpfer für alles, was immer schon so war und auch gefälligst so bleiben sollte. Hauptsache, es geht gegen die grüne „Verbotspolitik“, ihre „Bevormundung“ braver Bürger (ungegendert, alle aber mitgemeint), gegen die „Klima-Kleber“ (auch die bleiben ungegendert) und den „Heizungshammer“, all dies und mehr ist in den gängigen Medien nachlesbar und muss daher nicht näher ausgeführt werden.
Man könnte dies als „Krawallkonservatismus“ bezeichnen, so Liane Bednarz am 5. Juni 2023 in der ZEIT. Oder – wie Petra Pinzler am 26. Mai 2023 in ZEIT online – als „Scheinheiligkeit“: „Zwar halten die Menschen die Klimakrise für das größte politische Problem und wollen eine ehrgeizigere Klimapolitik. Gleichzeitig aber will eine überwiegende Mehrheit kein schnelles Verbot der Gasheizung. Sie will auch kein Verbrenner-Aus. Wie das zusammen geht? Gar nicht!“ Es nicht wie in dem schönen Goethe-Satz, dass man die Botschaft höre, aber der Glaube fehle. Die meisten Menschen glauben und wissen, dass die Überschwemmungen an der Ahr und der Erft, im Frühjahr 2023 in der Emilia Romagna, die Meldung, dass schon in etwa zehn Jahren die Arktis im Sommer eisfrei sein werde, eine Meldung, die in der zweiten Juniwoche 2023 es sogar in die zentralen Nachrichtensendungen schaffte. Einen Überblick über den weltweiten Verlauf des Temperaturanstiegs bietet ZEIT ONLINE: „Seit 111 Monaten zu warm“. Auch das wissen sie.
Aber ach was, wir tragen doch nur minimal zum Klimawandel bei, so Jens Spahn, der raisonnierte, das wären gerade einmal zwei Prozent. Also Augen zu und durch! Zum Vergleich: in Pakistan geht der Beitrag gegen Null. Ignoriert wird, dass die klassischen westlichen Industriestaaten, vor allem die Großindustrie und die Bestverdienenden und Wohlhabensten am meisten zur Erhitzung der Erdatmosphäre beitragen, man multipliziere die Zahl „zwei Prozent“ mit der Zahl der großen Industriestaaten.
Mag alles stimmen, aber hören will man es nicht. Bestraft wird der Überbringer der Nachricht und der heißt laut BILD und FDP: Robert Habeck. Die Süddeutsche Zeitung veröffentlichte am 13. Juni 2023 ein Gespräch von Ulrike Nimz mit Ulrike Seemann-Katz, Fraktionsvorsitzende für die Grünen im Kreistag von Ludwigslust-Parchim (Mecklenburg-Vorpommern), mit dem vielsagenden Titel: „Wir sind jetzt alle Robert Habeck“. Eine Schlussfolgerung klingt paradox und ist es auch: „Natürlich schwant auch den Menschen im Nordosten, dass sich etwas ändern muss, weil die Wiesen schon im Juni verdorrt sind, weil das Moor brennt und das Meer voller Quallen ist. Aber bitte nicht schon wieder wir, nicht schon wieder hier. Die Politik soll sich kümmern, die Politik soll sich raushalten.“
Die FDP hat sich nach mehreren Wahlniederlagen völlig kubickisiert und die Grünen als Hauptgegner gesetzt. Wer solche Koalitionspartner hat, braucht keine Opposition. Allerdings profitiert in den Umfragen nicht die FDP, sondern die AfD. Auch die CDU profitiert nicht und ob CSU und Freie Wähler profitieren, ist nicht ausgemacht. Die Grünen sind zurzeit (noch) die einzige Partei der Bundesregierung, die die Ergebnisse der letzten Bundestagswahl in den aktuellen Umfragen erreicht. Aber auch das kann sich ändern, sie sollten sich nicht in Sicherheit wiegen, dass es keine grünen Wähler*innen gäbe, die zur AfD wechseln könnten. Andreas Speit hat in seinem Beitrag zum Sammelband „Rechte Ränder“ (Berlin, Verbrecher Verlag, 2023) das Wahlverhalten von Anhänger*innen der „Lebensreformbewegung“ analysiert. 2017 wählten aus diesem Milieu 23 Prozent die Grünen, 18 Prozent die Linke und 15 Prozent die AfD. Mit der Corona-Politik der Bundesregierung, die auch von den Grünen unterstützt wurde, hat sich dies grundlegend verändert: 27 Prozent wählten die AfD, 18 Prozent Die Basis. 50 Prozent der Ungeimpften wählten AfD.
Wir sagen, der Appetit kommt mit dem Essen. Vielleicht ist es so auch beim Wahlverhalten. Die Analyse von Roger de Weck passt auf die heutige Zeit, aber im Jahr 1984 fehlten noch die aktuellen Konsequenzen für das Wahlverhalten. Ein Appell, man möge zu sachlicher Argumentation zurückkehren, dürfte wirkungslos bleiben. Aber die bloße Hinnahme all der Unsachlichkeiten, weil man doch selbst sachlich bleiben wolle, ist auch keine Strategie. Heilige haben in der Regel kein langes Leben zu erwarten. Jana Hensel schrieb am 21. Mai 2023 in ZEIT Online: „Die Grünen müssen sich wehren lernen.“: „Es geht also um einen knallhart geführten Machtkampf von CDU und SPD gegen eine erheblich jüngere und auch strukturell kleinere Partei, die seit einigen Jahren dennoch versucht, den traditionellen Volksparteien ihren jahrzehntelang ersessenen Rang streitig zu machen.“ Die nächste Debatte steht an: der EU-Asylkompromiss. All dies könnte an eine der genialen Kurzsatiren von Heinrich Böll erinnern: „Es muss etwas geschehen.“
(Anmerkungen: Erstveröffentlichung im Juni 2023, Internetzugriffe zuletzt am 13. Juni 2023.)