Ermüdender Wahl-Marathon
Zu den Ergebnissen der Kommunal- und Europaparlamentswahlen in Polen
Die letzten Monate hat Polen einen wahren Wahl-Marathon hinter sich gebracht. Es fing mit dem Parlamentswahlen Ende 2023 an, aus denen die liberale Bürgerplattform erfolgreich hervorging und seitdem den Premierminister stellt. Dies ging einher mit fundamentalen Änderungen in Politik, Gesellschaft und Justizwesen. Allgemein befindet sich Polen seitdem in einer sehr angespannten politischen Situation, da die Gesellschaft seit Jahren tief gespalten ist und es so nur schwer zu politischen Kompromissen kommen kann. Nicht zuletzt das radikale Vorgehen der neuen Regierung unter Donald Tusk gegenüber der Vorgängerregierung, der rechtskonservativen Oppositionspartei Prawo i Sprawiedliwość hat seit den Wahlen am 15.Oktober 2023 den Riss in der Bevölkerung nochmal verstärkt. Viele fordern ein noch härteres und vor allem schnelleres Vorgehen, andere sehen überhaupt keinen Anlass die PiS-Ära aufzuarbeiten.
Spaltung oder Aufarbeitung?
Der Ursprung dieser gesellschaftlichen Spaltung liegt tief verwurzelt in der achtjährigen Regierungszeit der rechtskonservativen PiS, die den eigenen Machterhalt auf dem Rücken der politischen Gegner ausgetragen hat und so die politische Landschaft tief gespalten hat. Zu oft bediente man sich an abgenutzten Floskeln sowie der Unterstellung, dass alle derzeitigen Probleme auf die PO-Regierung (PO war die Vorläuferbezeichnung der KO) vor 2015 zurückzuführen sind. Diese tiefen Gräben, die damals entstanden, werden heute weiter vertieft, was man in den letzten Wochen an den Kommunalwahlen sowie den Wahlen zum Europaparlament ablesen konnte.
Beide Wahlen wurden als wichtige Stimmungstests im Land angesehen, die zeigen sollten, wie sich die neue Regierung um Donald Tusk schlägt und ob die Bevölkerung mit dem Vorgehen der Regierung zufrieden ist. Nicht zuletzt, weil bei den Wahlen vom Oktober 2023 die Bürgerplattform (KO) nicht als klare Siegerin mit den meisten Stimmen gewonnen hat, sondern einzig und allein aufgrund der Koalitionssituation die Regierung übernehmen konnte, ist es für Tusk umso wichtiger in den jetzigen Wahlen klar zu zeigen, dass die Polen zufrieden mit ihrer Wahl sind und hinter ihn stehen.
Besonders wichtig ist derzeit die Zustimmung bezüglich der Europäischen Union, da seit Jahren von der PiS ausschließlich negative Rhetorik zu vernehmen ist und die EU als Grund alles Bösen dargestellt wurde. Die EU wurde als künstliches Konstrukt dargestellt, dass von Deutschland dominiert wird und Polen als unterwürfigen Vasallenstaat haben möchte. Gesicht dieser Verschwörungstheorie: Donald Tusk. Immer wieder wurde Donald Tusk unterstellt ein deutscher Agent zu sein und nur für die EU und somit nicht für ein souveränes und unabhängiges Polen einzustehen. Es wurden immer wieder mit den Ängsten und Unsicherheiten der Menschen gespielt. Polen würde unter liberal-demokratischer Führung Tusks nicht mehr souverän und frei sein und zum Föderalstaat Europas unter deutscher Hegemonie. Dies hörte man oft vom Vorsitzenden der PiS Jarosław Kaczyński: „Es gibt bereits einen Plan, einen konkreten Plan, der, wenn er von der Europäischen Union umgesetzt wird, uns nicht nur unserer Unabhängigkeit, nicht nur unserer Souveränität berauben würde, sondern tatsächlich zur Vernichtung des polnischen Staates führen würde. Wir würden zu einem von Polen bewohnten Gebiet werden, das von einem Gähnenden regiert wird. Denn ein solcher Plan wurde vom Verfassungsausschuss des Europäischen Parlaments angenommen. Natürlich sind noch ein paar Schritte zu gehen. Sie können länger oder (…) Wir müssen kämpfen, kämpfen und nochmals kämpfen! (…) Wir müssen diesen Kampf gewinnen!“
Erst wird Angst verbreitet und dann zum Kampf gegen den gemeinsamen Feind aufgerufen. Ein deutliches Zeichen, dass die zuvor schon sehr aggressive und polemische Rhetorik weiterhin an Radikalität und Schärfe zugenommen hat. Dies war jedoch nicht die einzige Methode, die die PiS nutzte, um zu spalten und dadurch Wähler zu gewinnen. Auch hat man im Wahlkampf gemerkt, dass die hasserfüllte und stets negativ ausgerichtete Rhetorik nicht den gewünschten Erfolg mit sich brachte. Die Menschen standen weiterhin hinter den Regierungsparteien und unterstützten Donald Tusk.
Daraufhin wurde in der Kampagne zur Kommunalwahl ein ganz neuer rhetorischer Weg von der PiS eingeschlagen. Man versuchte nun mit positiven Wahlslogans zu überzeugen. Beispielsweise nutzte die PiS seit März 2024 den Slogans „Wir stimmen für JA“ („Jesteśmy na TAK“) oder „Ja zu Polen“ („Tak dla Polski“) in den Europawahlkampf. Diese Kampagne der PiS sollte zeigen, dass nicht nur Hass und Konkurrenzkampf die Agenda der Rechten bestimmen, sondern es auch eine positive Einstellung und produktive Zielsetzungen gibt. Meistens waren es jedoch die gleichen hasserfüllten Inhalte und nur die Art der Vermittlung wurde aufpoliert.
Auch die PO hatte damit zu kämpfen, dass die Aufarbeitung der PiS-Ära zu langsam und zu zögerlich voranschreitet, denn dieser Prozess gestaltet sich schwieriger und zähflüssiger als erwartet, da man sich selbst nicht durch unüberlegte oder zu hastige Handlungen belasten möchte. Es ist wichtig akribisch korrekt vorzugehen, um möglichen Anfeindungen und Vorwürfen der politischen Gegner von vornerein auszuschließen. Um ein Stimmungsbild im Lande zu zeichnen kamen die Kommunal und Europawahlen sehr gelegen.
Keine Überraschungen bei den Kommunalwahlen am 7. April 2024
Bei den Kommunalwahlen vom 7.April 2024 wurden Gemeinderäte, Kreistage, Mitglieder der Regionalparlament „Sejmiki“, sowie Gemeindevorsteher, Bürgermeister und die Stadtpräsidenten der großen Städte gewählt. Der Wahlkampf war aufgrund der rasch aufeinanderfolgenden Wahlen dieses Jahr emotionsloser als in den letzten Jahren und konzentrierte sich vielerorts auf lokale und regionale Fragen – dazu ausführlich Adam Jarosz in „Die Kommunalwahlen – Fast nur Gewinner“, 328. Ausgabe der vom Deutschen Poleninstitut herausgegebenen „Polen-Analysen“.
Nach den Parlamentswahlen im Herbst 2023 gab es einige gesamtpolnische Kontroversen und gesellschaftlich relevante Themen, die den Wahlkampf um die Sejmiki und Bürgermeisterposten in den Hintergrund geschoben haben. Nichtsdestotrotz waren es wichtige Wahlen, die ein erstes Stimmungsbild nach der Wahl Donald Tusks zum Premierminister 2023 abgeben sollten.
Das Ergebnis dieser Wahlen war hingegen keine große Überraschung, da sie die Tendenzen der Parlamentswahl 2023 nochmal bestätigten. Die PiS gewann mit 34,2% der Wählerstimmen den Kampf um die Regionalparlamente, gefolgt von der KO mit 30,5%. Auch die Trzecia Droga konnte, wie während der Wahlen vom letzten Herbst den dritten Platz mit 14,2% verteidigen. Die linke Partei Lewica war von ihrem Ergebnis von 7,2% tief enttäuscht und verschwindet auf regionaler Ebene in der Bedeutungslosigkeit, genau wie die rechtsradikale Konfederacja.
Die Wahlbeteiligung lag bei 54%, was nicht besonders hoch ist, aber immerhin um 3 % höher als vor fünf Jahren. Auch während dieser Wahl wurde erneut deutlich, dass Polen eine tiefe Ost-Westspaltung plagt. Die KO hat im Westen und Norden die meisten Wähler von sich überzeugt und die PiS-Wähler befinden sich weiterhin im stukturschwächeren Süd-Osten.
Besonders wichtig erschienen vielerorts die Fragen nach der Wahl des Stadtpräsidenten von Warschau. Im Gegensatz zu Deutschland sind die Stadtpräsidenten der größten Städte Polens bekannte Gesichter, die nicht nur auf lokaler Ebene bekannt und beliebt sind. Das Amt in der Hauptstadt Warschau bekleidet seit Jahren erfolgreich der beliebte Bürgerplattform-Politiker Rafał Trzaskowski, der in den letzten Jahren neben Donald Tusk zum Gesicht der PO avancierte. Dieser konkurrierte mit dem PiS-Herausforderer, dem noch weitestgehend unbekannten Tobiasz Bocheński. Von vornherein war klar: Wer dieses Rennen gewinnt, hat die besten Chancen, im Kampf um das Präsidentenamt 2025 von seiner Partei aufgestellt zu werden, wie es sich in der Vergangenheit bereits bei Lech Kaczyński zeigte. Rafał Trzaskowski konnte die Wahl in Warschau mit einem fulminanten Sieg im ersten Wahlgang für sich entscheiden. Trzaskowski erreichte 57% und sein Konkurrent Bocheński lediglich 23%, eine schwere Niederlage in der Hauptstadt für die PiS. Somit ist relativ sicher und Rafał Trzaskowski hat es bereits bestätigt, dass er sich erneut um das Amt des polnischen Präsidenten bewerben wird.
Auch in den anderen Großstädten Polens sieht es ähnlich aus. In Danzig hat Aleksandra Dulkiewicz ihren Posten verteidigt. In Krakau und Breslau kam es zu jeweils einem zweiten Wahlgang, wo erneut die Kandidaten der KO bzw. Parteilose Politiker erfolgreich waren. Besonders spannend wird es jedoch, wenn wir uns Hochburgen der PiS anschauen. Hier hat die PiS immens an Rückhalt verloren. Sogar in Białystock, Kielce oder Legnica, die als sehr konservativ und PiS-affin gelten, waren die Kandidat:innen der KO erfolgreich. Auch hier sieht man eine herbe Niederlage für die Partei Kaczyńskis.
Trotzdem hat sich Jarosław Kaczyński nach der ersten Hochrechnung der Wählerstimmen auf die Bühne gestellt und einen Wahlsieg verkündet. Die PiS hat in den Regionalparlamenten zwar konstant ihren Einfluss beibehalten können, allerdings hat sie es in nahezu allen wichtigen Städten nicht geschafft, den Stadtpräsidenten zu stellen. Die PO feiert sich auch als Siegerin dieser Kommunalwahlen, weil sie durch den Hinzugewinn einiger Stadtpräsidenten und Bürgermeister in kleineren Städten und Gemeinden direkt an Einfluss gewonnen hat. Die nächsten Kommunalwahlen finden im Jahr 2029 statt.
Führungswechsel bei den Europaparlamentswahlen am 9. Juni 2024
Die Wahlen zum Europaparlament 2024 fanden in Polen genauso wie in Deutschland und der Mehrheit der europäischen Staaten am 9. Juni 2024 statt. Polen hatte insgesamt 53 Sitze im Europaparlament zu vergeben. Die Wahl gewonnen hat die Bürgerplattform mit 37,1% (21 Sitze). Die PiS befindet sich nur knapp dahinter mit 36,2% (20 Sitze), was jedoch einen Verlust von 10% zur letzten Wahl 2019 bedeutet. Überraschung des Abends war die rechtsradikale Konfederacja mit unglaublichen 12% (6 Sitze) auf dem dritten Platz. Ganz weit abgeschlagen fanden sich die Koalitionspartner der Bürgerplattform wieder, Trzecia Droga mit 6,9% (3 Sitze) und Lewica mit 6,3% (3 Sitze).
Damit ist auch in Polen ein Trend zu verzeichnen, der den rechtsradikalen Parteien auf europäischer Ebene Aufwind verschafft, wie es in fast ganz Europa zu beobachten ist. Erfreulich für die liberal-demokratischen Kräfte war hingegen, dass es ihnen das erste Mal seit zehn Jahren gelang, mehr Stimmen zu holen als die PiS. In den letzten Wahlen hat die PiS sich wegen der höheren Stimmenanzahl stets zur Wahlsiegerin erklärt, obwohl sie faktisch nicht regierungsfähig war. Diesmal war es nicht möglich und Jarosław Kaczyński musste eine Wahlniederlage eingestehen, was ihm sichtlich schwerfiel. Eine weitere herbe Enttäuschung war, wie zu erwarten, die sehr niedrige Wahlbeteiligung von nur 40%. Es ist jedoch bekannt und seit Jahren ein Problem, dass die Europawahlen schlecht frequentiert sind, dass nicht nur in Polen.
Im Vorfeld wurde der Wahlkampf von Seiten der Parteien sehr verbissen geführt, da man sich in allen politischen Lagern bewusst war, dass diese Wahl ein klares Abbild der Zufriedenheit in der Bevölkerung und der Unterstützung der noch jungen polnischen Regierung darstellen würde. Einige der Hauptthemen in diesem Wahlkampf waren der Green Deal und die darauffolgenden Bauernproteste sowie die Frage der europäischen Sicherheitspolitik im Angesicht des russischen Angriffskriegs auf die Ukraine.
Jedoch ist von dem zähen Wahlkampf kaum etwas beim Wähler angekommen, was die eben erwähnte niedrige Wahlbeteiligung bestätigt. Dies hat zwar unter anderem mit der ermüdeten Stimmung aufgrund der zeitlich nah beieinanderliegenden Wahlen zu tun, jedoch nicht nur. Auch die jahrelange Anti-EU-Rhetorik der PiS und die ewigen Schuldzuweisungen haben Spuren hinterlassen und zu Politikverdrossenheit in der polnischen Bevölkerung geführt (siehe auch die Auswertung von Renata Mienkowska-Norkiene in den Polen-Analysen). Der Wahlkampf und die Ergebnisse der Europawahlen 2024 – Desinteresse, viele Verlierer und ein symbolischer Sieg der Bürgerkoalition.
Für die PiS war die Europaparlamentswahl ein Schicksalswahl, da sie hofften so der Regierung Tusk zeigen zu können, dass die Mehrheit der Bevölkerung noch hinter ihnen stehe. Dies sollte besonders in Anbetracht dessen geschehen, dass die PO weder bei den Parlaments- noch den Kommunalwahlen die meisten Wählerstimmen hinter sich vereinen konnte. Üblicherweise werden vorwiegend unbekannte Politiker der zweiten Reihe ins Europaparlament geschickt. So jedoch nicht dieses Mal.
Denkwürdige Kandidaturen
Besonders die PiS überraschte mit einer besonders pikanten Auswahl an bekannten Kandidaten aus den Reihen ehemaliger Minister und anderer gut bekannter Spitzenpolitiker und Parteifreunde. Zahlreiche Politiker, die derzeit in gesellschaftliche Missgunst gefallen sind, aufgrund von verschiedenen politischen Affären und straffrechtlichen Unstimmigkeiten, wurden auf die Europawahllisten gesetzt. Dies ist seit längerem ein beliebtes Mittel der PiS, aber auch der Konfederacja, treue Parteifreunde, die strafrechtlich auffällig geworden sind, in gut bezahlte Posten nach Brüssel zu schicken. Dort sind sie aus der Schusslinie der polnischen Medien und der Justiz und was noch wertvoller ist: Sie genießen politische Immunität. Die Liste der PiS-Kandidaten liest sich nur schwer in Anbetracht dieser Vorwürfe: Beata Szydło (ehemalige Premierministerin), Daniel Obajtek (ehemaliger Vorstandsvorsitzender des staatlichen Mineralölunternehmens Orlen, Vorwürfe des Machtmissbrauchs und Veruntreuung), Jacek Kurski (ehemaliger Direktor des öffentlich-rechtlichen TVP), Mariusz Kamiński (verurteilt wegen Korruption, ehemaliger Leiter der Antikorruptionsbehörde CBA und Innenminister), Maciej Wąsik (verurteilt wegen Korruption, Mitarbeiter von Kamiński).
Während einer Wahlveranstaltung hat sich Donald Tusk zur Auswahl der PiS-Kandidaten zum Europaparlament wie folgt geäußert: „Verdammt nochmal, sollen wir uns schämen für unsere Repräsentanten in Brüssel? Wollen wir wirklich eine Delegation senden von Dieben, von Schurken, von gewissenlosen Menschen, die Polen so viele Jahre bestohlen haben? Ich habe mir die Listen der Kandidaten der PiS nochmal angeschaut, das sind Fahndungslisten und keine Listen fürs EU-Parlament.“
Diese Worte wählte Donald Tusk an einem historisch sehr bedeutenden Tag für Polen, dem 4. Juni 2024. Er sprach auf einer Kundgebung im Herzen Warschaus, die man weder als Wahlveranstaltung noch als Gedenkveranstaltung klar einordnen konnte. Natürlich durfte bei dieser Veranstaltung dieses Jahr der erste polnische Präsident Lech Walesa nicht fehlen, der sich für die Koalition der Bürgerplattform aussprach.
Dieser Tag und dieses Datum wurden gezielt gewählt, um historische Kontinuitätslinien zu ziehen, da vor 35 Jahren, am 4. Juni 1989, die ersten (halb)freien Wahlen nach dem Fall des Kommunismus in Polen stattfanden. Die kommunistische Partei PZPR (Vereinte Polnische Arbeiterpartei) erlebte eine herbe Niederlage. Auch deswegen wird dieser Tag als „Dzień Wolnośći i Praw Obywatelskich“ (deutsch: „Tag der Freiheit und der Bürgerrechte“) bezeichnet.
Genau vor einem Jahr, am 4.Juni 2023 fand, auch in Warschau, der „Marsz Million Serc“ (deutsch: „Marsch der Millionen Herzen“) statt, womit Donald Tusk zur Parlamentswahl im Oktober 2023 aufrief. Seinem Aufruf folgten hunderttausende Polen und Polinnen und sie alle zusammen marschierten für ein demokratischeres Polen. Man sieht, dass auch Donald Tusk es versteht, historische Daten und Ereignisse in seiner Politik zu nutzen, um mit Hilfe gemeinsamer Erinnerung und Emotion ein verbindendes Element in der zutiefst gespaltenen polnischen Gesellschaft zu schaffen. Das sieht man nicht zuletzt an Aussagen wie: „Dieser Tag, der 9. Juni, die Wahlen, werden ebenso wichtig sein wie die unseren vom 4. Juni 1989.“ Er verglich in dieser Rede die PiS und die Zeit ihrer Regierung mit der „sowjetischen Okkupation in Mitteleuropa“ und betonte, dass Europa der Garant ist, dass Polen so etwas nicht nochmal widerfährt, besonders in Zeiten der Bedrohung durch Russland.
Auch war im Vorfeld viel Kritik an der Regierung Tusks geübt worden, da er einige Minister, die grade erst ein halbes Jahr im Ministeramt waren, von ihren Ämtern enthoben hatte, um diese als Spitzenkandidaten im Europawahlkampf aufzustellen. Dies betraf Borys Budka (Minister für Staatsvermögen) und Marcin Kerwiński (Innenminister), und weckte unangenehme Erinnerungen an Donald Tusks Wechsel im Jahr 2014 nach Brüssel, um Präsident des Europäischen Rates zu werden. Zu der Zeit war Tusk eigentlich noch Premierminister in Polen und hatte zuvor medienwirksam versprochen, Polen nicht zugunsten der EU zu verlassen. Viele Menschen tragen ihm das bis heute nach und empfanden dies als Zeichen, dass er Europa über Polen stelle und nur seine eigene Karriere im Blick hätte.
Ein Sieg der PO? Eine Niederlage der Koalitionspartner
Die Wahl zum Europaparlament vom 9.Juni 2024 ging für die PO trotz aller Schwierigkeiten mit einem Sieg aus. Die ersten Wahlprognosen vom Wahlabend gingen von einer nahe 10%igen Überlegenheit der PO gegenüber der PiS aus. Dieses Ergebnis konnte sich jedoch nicht halten und im Nachhinein wissen wir, dass der Vorsprung der Bürgerplattform doch nur rund 1 % betrug. Trotzdem war es ein Wahlerfolg für Donald Tusk und seine Partei, jedoch nicht für seine Koalition, denn die Koalitionspartner Trzecia Droga und die Lewica erreichten nur sehr schwache Ergebnisse.
Der Wahlkampf des Wahlbündnisses „Trzecia Droga“ war von völlig anderen Parametern geprägt als die der anderen Parteien. Das Wahlbündnis Trzecia Droga, bestehend aus der Baernpartei PSL und Polska 20250, ist geprägt von zwei zentralen Persönlichkeiten, dem derzeitigen Verteidigungsminister Władysław Kosiniak-Kamysz (PSL) und dem Sejmmarschall Szymon Hołowinia (Polska 2050). Sie erreichten lediglich magere 6%. Grund für dieses schlechte Ergebnis können Hołownias umstrittenen Aussagen sein, durch die er zuletzt auffiel, wie: „Was würde es den bringen sie (die PiS) zur Rechenschaft zu ziehen?“ oder zum Thema der Abtreibungsdebatte, die die Partei, nicht ohne Einschränkungen unterstützt. Er wandelte sich vom gefeierten und eloquenten Sejmmarschall zum „kirchennahen Außenseiter“, der in den Augen vieler junger Polen und vor allem der Frauen an Glaubwürdigkeit verloren hat. Diese gesellschaftlichen Debatten haben sich daraufhin in dem Wahlergebnis der Europaparlamentswahl widergespiegelt. Das Ergebnis in den Europaparlamentswahlen zeigt aber auch, dass die Menschen in Polen eine Aufarbeitung des Vorgehens der Vorgängerregierung im rechtlichen Sinne wünschen und sogar fordern. Die Trzecia Droga ist ungemein wichtig für die Koalition von Donald Tusk, weswegen ein schlechtes Ergebnis bei der Trzecia Droga auch eine Schwächung der Bürgerplattform darstellt.
Größte Überraschung des Abends war der deutliche und rasante Zuwachs an Stimmen für die rechtsradikale „Konfederacja“. Diese hat 12% erreicht und der umstrittene Politiker und bekennende Antisemit Gregorz Braun hat einen Platz im EU-Parlament ergattert. Er hat weltweit zweifelhafte Bekanntheit erlangt, als er letztes Jahr brennende Chanukka-Kerzen im Sejm mit einem Feuerlöscher medienwirksam löschte. Die starke Unterstützung der Konfereracja ist maßgeblich auf die Stimmverluste der PiS zurückzuführen, da es die einzige Möglichkeit der konservativen PiS-Stammwählerschaft ist, ihre Unzufriedenheit auszudrücken.
Laut der bereits zitierten polnischen Politologin Renata Mienkowska-Norkiene gab es nur Verlierer in dieser Wahl. Die PiS hat an Zustimmung verloren, was man ganz klar an ihren schlechteren Wahlergebnissen sieht, genau wie die Koaltionsparteien Trzecia Droga und Lewica. Die Bürgerplattform hat die Wahl laut Stimmenauszählung knapp gewonnen, jedoch in Anbetracht der Wahlbeteiligung ist es kein überragendes Ergebnis. Als Sieger benennt Mienkowska-Norkiene den Populismus und Radikalismus, da bei Addition der Stimmen der PiS und der Konfederacja zusammen eine Summe von 48% zustande kommt. In kaum einem anderen Europäischen Land haben die Rechten so viele Menschen zu den Wahlurnen gelockt wie in Polen.
Wie geht es nun weiter?
Für dieses Jahr hat Polen den Wahlmarathon hinter sich gebracht. Die nächsten Wahlen werden die des Präsidenten im Herbst 2025 sein. Eines ist klar: Es wird nicht Andrzej Duda sein. In Polen ist das Amt des Präsidenten auf zwei Amtszeiten beschränkt. Vor allem die Stadtpräsidentenwahl in Warschau sollte eine Entscheidungshilfe sein, wer als Kandidat für dieses Amt 2025 antreten sollte. Es ist sehr, sehr wahrscheinlich, dass die PO den Warschauer Stadtpräsidenten Rafal Trzaskowski ins Rennen schickt. Er hatte sich bereits 2020 im Kampf mit Andrzej Duda um das Amt beworben, war jedoch knapp gescheitert. Wer es von Seiten der PiS wird, ist noch völlig offen. Es ist jedoch ersichtlich, dass die PiS alle Hebel in Bewegung setzen wird, um das Amt des Präsidenten mit jemandem aus ihren Reihen zu besetzen. Präsident Andrzej Duda ist derzeit der Einzige, der noch in einem hohen politischen Amt ist und im Namen der PiS handelt. Ihm ist sehr daran gelegen, die konservativ-populistischen Errungenschaften der Jahre 2015 bis 2023 zu verteidigt. Immer wieder legt er sein Veto gegen Parlamentsbeschlüsse ein und ist der schärfste Kritiker der Regierung Tusk. Beispielsweise blockiert er den Beschluss, Schlesisch als eigene Sprache einer nationalen Minderheit in Polen zu klassifizieren oder den Gesetzesbeschluss bezüglich der Freiverkäuflichkeit der sogenannten „Pille-danach“. Würde der PiS dieses überaus wichtige Amt aus den Händen gleiten, wäre ihr Einfluss Kaczyńskis so marginal, dass sie kaum mehr etwas mitbestimmen oder verhindern könnte. Nun kann man gespannt sein, wie diese Wahl, die das weitere Schicksal Polens nachhaltig beeinflussen wird, ausgehen wird. Die Frage nach dem neuen Präsidenten wird darüber entscheiden, ob die Regierung Tusk handlungsfähig bleibt oder weiterhin jeder Gesetzesentwurf mit einem Veto von Seiten des Präsidenten blockiert wird. Eines ist bei dieser politischen Konstellation jedoch absehbar: Langweilig wird es auch zukünftig in unserem Nachbarland sicherlich nicht.
Ines Skibinski, Abteilung für Osteuropäische Geschichte der Universität Bonn
(Anmerkungen: Erstveröffentlichung im Juni 2024, Internetzugriffe zuletzt am 22. Juni 2024.)