Feministisch – türkisch – deutsch
Ein Gespräch mit der Erziehungs- und Politikwissenschaftlerin Meltem Kulaçatan
„Wir müssen intensiver nachdenken über das Wesen der Macht, wozu sie dient und wie gemessen wird. Anders gesagt: Wenn Frauen nicht innerhalb der Machtstrukturen wahrgenommen werden, müsste dann nicht statt der Frauen, die Macht neu definiert werden?“ (Mary Beard, Frauen & Macht – Ein Manifest, Frankfurt am Main, S. Fischer, 2018, Originaltitel: Women & Power, London, Profile Books, 2017)
Wer sich mit intersektioneller Forschung befasst, wird immer wieder feststellen, dass und wie sich diverse Formen der Diskriminierung und Abwertung verbinden und wiederholen. Wer sich antisemitisch oder antimuslimisch äußert, lehnt in der Regel auch gleiche Rechte für Frauen und Männer ab, und wer den Balken im eigenen Auge nicht sehen möchte, externalisiert die eigenen Ressentiments auf muslimisch gelesene Menschen und Länder. Zurzeit verschärfen sich in Deutschland und in anderen europäischen Ländern anti-türkische, anti-arabische und anti-islamische Diskurse. Die Rechte von Frauen werden dabei entweder instrumentalisiert oder ignoriert. Wie weit diese Diskurse die Wirklichkeit abbilden, ist eine für Wissenschaft und Politik gleichermaßen bedeutende Frage.
Meltem Kulaçatan, 1976 in Lindau am Bodensee geboren, Erziehungs- und Politikwissenschaftlerin, forscht und lehrt an der Goethe-Universität Frankfurt am Main zu den Spiegelungen von Migrationsdiskursen in Gesellschaft und Politik, unter anderem im Hinblick auf jugend- und genderpolitische Einstellungen. Bildung, Religion, Politik, Positionierungen in der türkisch-deutschen Zivilgesellschaft – das sind die Themen, die immer wieder ihre Arbeit prägen. In ihrer Dissertation hat sie Europaausgaben türkischer Zeitungen analysiert, in ihrer Habilitation geht es um Selbstpositionierungen von jungen Muslim*innen in Deutschland.
Norbert Reichel: In Ihrer Arbeit verbinden Sie politik-, erziehungs-, gender- und islamwissenschaftliche Diskurse.
Meltem Kulaçatan: Ich habe an der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen studiert, dort im Fachbereich Politikwissenschaften promoviert und zehn Jahre am Zentrum für Islam und Recht in Europa an der juristischen Fakultät der Universität gearbeitet. Ein Thema war der Islam in der Gegenwartsforschung. Schwerpunkte waren Öffentlichkeit, Religion und Integration. Nach der Promotion habe ich berufsbegleitend Islamische Religionslehre studiert. 2015 wechselte ich an die Goethe-Universität in Frankfurt am Main, um den Bereich „Islamische Religionspädagogik“ mitaufzubauen. Etwas später nahm ich ein Semester lang eine Gastprofessur am Religionswissenschaftlichen Seminar der Universität Zürich wahr. Zurückgekehrt nach Frankfurt arbeitete ich an einem Drittmittelprojekt, das ich gemeinsam mit Harry Harun Behr eingeworben hatte. Thema waren unterschiedliche religiöse Positionierungen im Islam, im Judentum und im Christentum. Dies ist auch Thema meiner Habilitationsschrift.
Zeitgleich habe ich mich mit religiös bedingtem Extremismus befasst. Wir haben vor kurzem das Verbundprojekt MAPEX mit der Universität Bielefeld, der Universität Osnabrück und der Fachhochschule Münster abgeschlossen. In einem weiteren Projekt ging es um Frauen und Djihadismus. Ich leite zurzeit gemeinsam mit Harry Harun Behr das Projekt Fem4Dem, ein Verbundprojekt mit Michael Kiefer von der Universität Osnabrück.
Türkische Presse in Europa – eine Brückenfunktion
Norbert Reichel: Ihre Dissertation war eine Medienanalyse. Sie wurde 2013 bei Springer VS unter dem Titel „Geschlechterdiskurse in den Medien – Türkisch-deutsche Presse in Europa“ veröffentlicht.
Meltem Kulaçatan: Es ging um Geschlechterdiskurse in den Europa-Ausgaben von zwei türkischen Tageszeitungen, der Hürriyet und der Zaman. Ich habe die Diskurse in zwei Öffentlichkeiten, in der Türkei und in Deutschland, anhand des in den beiden Zeitungen veröffentlichten Datenmaterials miteinander verglichen. Die Zaman wurde inzwischen verboten.
Norbert Reichel: Und die Hürriyet hat ihre Ausrichtung verändert.
Meltem Kulaçatan: Das könnte man so sagen.
Norbert Reichel: Es gab in diesen Zeitungen damals eigene Europa-Ausgaben mit einer europäisch ausgerichteten Berichterstattung. Gibt es diese noch heute?
Meltem Kulaçatan: Die Europaseiten der Hürriyet wurden nach der Fertigstellung meiner Dissertation, etwa ab 2013, in Absprache mit dem Mutterkonzern in Istanbul wegen des sinkenden Absatzes deutlich reduziert. Ich habe damals mit der Redaktion telefoniert und erfahren, dass das Internet eine Rolle spielte, aber auch die Notwendigkeit, andere Staaten mit abzudecken. Andererseits geriet die Zaman sozusagen unter die Räder der türkischen Politik.
Norbert Reichel: Das war noch vor dem Putschversuch vom 15. Juli 2016.
Meltem Kulaçatan: Ja, das war vor dem sogenannten Putsch. Man spürte damals schon, dass einerseits wirtschaftliche, andererseits politische Aspekte eine Rolle spielten. Ein wesentliches Ergebnis meiner Dissertation war, dass die Wahrnehmung von Öffentlichkeit stark durch die Kontexte in der Türkei geprägt wurde. Das betraf beide Zeitungen. Das, was in der Türkei geschah, hatte Einfluss auf das, was in den Europa-Ausgaben der beiden Zeitungen veröffentlicht wurde.
Das andere Ergebnis: bestimmte Themen wurden in den Europa-Ausgaben aufgearbeitet, die für die türkischsprachige Bevölkerung in den deutschen Medien de facto gar keine Rolle spielten. Die Hürriyet hatte beispielsweise eine Serie mit über 100 Folgen über Zwangsehen, arrangierte Ehen und sogenannte Ehrenmorde herausgebracht. Menschen, Akteur*innen aus unterschiedlichen Milieus wurden zu Aspekten der „Machokultur“ – das wurde tatsächlich so genannt –, zu „Ehrenmorden“, Geschlechterstereotypen, Vorstellungen über Sexualität befragt. Diese Themen fanden in den deutschsprachigen Medien damals keinen Widerhall, obwohl das in den beiden türkischen Zeitungen sehr aufwändig, reichhaltig und auch sehr differenziert dargestellt wurde. Das gilt beispielsweise für den Mord an Hatun Aynur Sürücü im Jahr 2005.
Ähnliches gilt für die Zaman, die auch über Kontexte in der islamischen Welt berichtete, beispielsweise über Pakistan oder über Afghanistan. Es ging um gesellschaftspolitische, auch frauenpolitische Aspekte. Journalist*innen der Zaman sind in diese Länder gefahren, haben dort Menschen interviewt und berichtet.
In beiden Zeitungen gab es darüber hinaus Informationen zu den unterschiedlichen Voraussetzungen für die schulische Bildung und die Berufsausbildung in den deutschen Bundesländern. Die Hürriyet hatte sogar eine regelmäßige Hotline eingerichtet, über die sich Eltern und Jugendliche informieren konnten.
Dies alles zeigt, welche Leistungen diese beiden Zeitungen in Deutschland und in Europa erbrachten, unabhängig davon, was man*frau ideologisch von ihnen denken mag.
Norbert Reichel: Warum wurde die Zaman verboten?
Meltem Kulaçatan: Die Zaman gehörte zum Medienimperium der Hizmet- beziehungsweise Gülen-Bewegung.
Norbert Reichel: Im Grunde hatte sie damit – unabhängig von der Beteiligung der Gülen-Bewegung an dem gescheiterten Putsch – damals eine konservativ-bürgerliche Ausrichtung.
Meltem Kulaçatan: So könnte man das sagen, damit es für Außenstehende verständlich wird, auch wenn der Begriff „konservativ-bürgerlich“ eigentlich nicht auf die türkischen Verhältnisse passt. Die Zaman wurde von der Ästhetik, in Bezug auf das Publikum, oft mit der FAZ verglichen. Die Zeitung hatte eine der FAZ vergleichbare Ästhetik. Es wurden in der türkischen Sprache auch eine Menge gewählter Begriffe gewählt, die im Alltagssprachgebrauch nicht verwendet werden. Die Hürriyet war in der Sprache deutlich niedrigschwelliger. In der Zaman gab es auch ein großes Feuilleton mit breiten Kommentarspalten.
Norbert Reichel: Die FAZ ist sehr wirtschaftsfreundlich.
Meltem Kulaçatan: Das ist die Gülen-Bewegung auch. Sehr wirtschaftsfreundlich und wirtschaftsaffin. Was die Zaman sicherlich ausmachte – sie ist übrigens im Internet in Teilen noch verfügbar – ist, dass sie sich an eine hochgebildete, wertkonservative, muslimische Öffentlichkeit richtete. Das hat sicherlich auch den Erfolg dieser Zeitung ausgemacht.
Wichtig ist aber auch Folgendes: die Zaman und die Hürriyet sprachen die Leser*innen direkt an, sie luden ihre Leser*innen ein, öffneten die Tore der Redaktionen. Das gilt nicht nur für diese beiden Zeitungen, auch für andere, beispielsweise die Sabah. Es war ein intrinsisches Motiv der Zeitungen, mit ihrem europäischen Publikum einen engen Kontakt zu halten, die Zeitungen nahbar zu gestalten.
Norbert Reichel: Sie haben gesagt, dass Begriffe wie „konservativ“ oder „bürgerlich“ eigentlich nicht passen. Ohnehin passen viele politische Begriffe, die wir in Deutschland verwenden, nicht auf die Verhältnisse in anderen Ländern. Ein Kollege vertrat beispielsweise die Meinung, dass die HDP in der Türkei so etwas wäre wie die Grünen in Deutschland, eine These, die sich meines Erachtens nicht halten lässt, auch wenn es natürlich ökologische Inhalte im Parteiprogramm gibt. Auch die Bezeichnung der CHP in deutschen Medien als „sozialdemokratisch“ passt ja nicht unbedingt. Andererseits sind CHP und HDP beide Mitglieder der Sozialistischen Internationale.
Es gab – so schließe ich aus Ihrer Darstellung – vor dem gescheiterten Putsch in der Türkei ein relativ liberales Klima. Die türkischen Zeitungen entsprachen einem Standard wie er auch in Deutschland oder Frankreich üblich war.
Meltem Kulaçatan: So kann man das sagen. Man muss auch immer berücksichtigen, dass die türkischen Zeitungen seit den 1970er Jahren eine Brückenfunktion ausübten. Die Hürriyet war Vorreiter. Es ging darum, den Kontakt zu den türkischen Gastarbeiter*innen in Deutschland zu halten. Damals war ja noch nicht geplant, dass die in Deutschland arbeitenden Türk*innen in Deutschland blieben. Das war in Deutschland nicht gewollt. Sie sollten nach einem Rotationsprinzip zurückkehren.
Insbesondere die Hürriyet hat in dieser Brückenfunktion eine wesentliche Rolle gespielt. Das änderte sich Ende der 1980er Jahre, als Deutschland quasi immer mehr zum Lebensmittelpunkt der Generation der Gastarbeiter*innen und der folgenden Generationen wurde. So reagierten auch die Zeitungen und bauten ihre Europa-Seiten aus. Sie hatten schnell verstanden, dass die türkische Bevölkerung nicht in die Türkei zurückkehren würde.
Die große Enttäuschung
Norbert Reichel: In Deutschland gab es eine parallele Entwicklung. 1979 veröffentlichte der erste Ausländerbeauftragte in Deutschland, Heinz Kühn, das unter seinem Namen bekannt gewordene Kühn-Memorandum. Damals dachten dann doch einige, dass viele „Gastarbeiter*innen“ in Deutschland bleiben würden.
Meltem Kulaçatan: Zumindest im Kühn-Memorandum. Die Auseinandersetzungen blieben nach wie vor, ob das so richtig wäre, dass sie blieben.
Norbert Reichel: Memoranden sind immer etwas weiter als die allgemeine Debatte in Politik und Öffentlichkeit, aber das haben Memoranden so an sich. Ich habe aber auch den Eindruck, dass die türkische Öffentlichkeit sich Europa zunehmend öffnete und gegenüber Europa, gegenüber Deutschland offener war als umgekehrt die deutsche oder französische Öffentlichkeit gegenüber den aus der Türkei ein- und zugewanderten Menschen. In den 1990er und 2000er Jahren gab es nach meiner Wahrnehmung in den türkischen Öffentlichkeiten ein relativ freundliches Bild gegenüber Europa.
Meltem Kulaçatan: Ich weiß nicht, ob ich den Begriff „freundlich“ in den Mund nehmen würde. Es ist eher eine realistische oder pragmatische Haltung zu akzeptieren, dass die aus der Türkei in Deutschland eingewanderten Menschen in Deutschland bleiben. Die Zeitungen nahmen diese Haltung als journalistischen Auftrag an und verstanden sich auch als Sprachrohr oder sogar als Anwält*innen der Leser*innen, denen sie in der Öffentlichkeit dienen wollten, völlig unabhängig von der Regierungspolitik in der Türkei, die mal affiner, mal skeptischer gegenüber Europa war.
Norbert Reichel: Die Menschen verändern sich, so verändern sich auch die Zeitungen.
Meltem Kulaçatan: Genau. Das war aus der redaktionellen Perspektive sehr klug und hat auch funktioniert.
Norbert Reichel: Aber es veränderte sich in den 2010er Jahren bis hin zur Einstellung der Europa-Ausgaben. In diesem Kontext denke ich an die Dissertation von Burak Çopur, Titel: „Neue deutsche Türkeipolitik der Regierung Schröder / Fischer (1998-2005)“, erschienen 2012 in Hamburg, im Verlag Dr. Kovać. Der Untertitel sagt eigentlich alles, was sich hätte entwickeln können, wäre diese Politik fortgesetzt worden: „Von einer Partnerschafts- zur EU-Mitgliedschaftspolitik mit der Türkei“. Das brach mit der Kanzlerschaft Angela Merkels nach 2005 und mit dem seit 2007 amtierenden französischen Staatspräsidenten Nicolas Sarkozy ab. Es gab dann so merkwürdige Begriffe wie den der „privilegierten Partnerschaft“. Das hatte sicher Wirkungen.
Meltem Kulaçatan: Die Enttäuschung war groß. Sie war auch deshalb groß, weil in den Äußerungen von Angela Merkel und Nicolas Sarkozy eine Aversion gegen Muslim*innen deutlich wurde. Es wurde offenbar erwartet, dass es einen „Zustrom“ aus der Türkei nach Europa geben würde, der „abzuschwächen“ wäre. Das hing sicherlich auch damit zusammen, dass die demographischen Entwicklungen in der Türkei und in Deutschland beziehungsweise Frankreich sich voneinander unterscheiden. Die türkische Bevölkerung ist deutlich jünger. Dies führte aber bei der türkischen Bevölkerung in Deutschland auch dazu, dass sie das Gefühl hatten, dass sie wegen der Herkunft aus der Türkei, als Muslim*innen eigentlich nicht gewollt wären. Das war politisch und emotional ein Bruch.
Norbert Reichel: Dieser Bruch wirkt sich dann auch auf die Mentalitäten in der zweiten und dritten Generation der Ein- und Zugewanderten aus.
Meltem Kulaçatan: Das kann ich so pauschal empirisch nicht belegen, aber punktuell bestätigen. Ich würde mir aber nicht zutrauen, das so allgemein zu formulieren.
Norbert Reichel: Das würde ich von Ihnen als Wissenschaftler*in auch nicht verlangen. Es wäre auch monokausal gedacht. Ich versuche nur darüber nachzudenken, warum ich denn die Folgen dieses Bruchs auch in der sehr jungen, der vierten Generation, der Generation Z, spüre, auf Schulhöfen, an den Orten, an denen sich Jugendliche treffen. Sie fühlen sich bedroht, ziehen sich zurück, machen ihr eigenes Ding. Das kann eine Gesellschaft spalten.
Meltem Kulaçatan: Aus meiner Forschung kann ich Rückzugstendenzen bestätigen, die aber weniger mit der Türkei zu tun haben als mit Diskriminierungserfahrungen, die die Jugendlichen in der Schule, in der Öffentlichkeit machen. Ich kann in den Interviews, die ich geführt habe, feststellen, dass das Nicht-Ergebnis des NSU-Prozesses, die Morde in Hanau und in Halle Zäsuren sind, die sehr stark greifen, auch immer wieder erwähnt werden, wenn es darum geht, Rückzüge in die eigenen Communities, die eigenen Freundeskreise, die eben nicht herkunftsdeutsch geprägt sind, zu erklären.
Niemals gleichwertig?
Norbert Reichel: Das ist vielleicht nur die Spitze des Eisbergs, im Grunde auch ein Zeichen des Versagens von Integrationspolitik. Vielleicht sprechen wir etwas ausführlicher über Ihre Forschungen zu diesem Thema.
Meltem Kulaçatan: Das sind Einzelinterviews im Rahmen meines Habilitationsprojektes, aber auch Ergebnisse aus Workshops in der Jugend- und Erwachsenenbildung, die ich haupt- wie ehrenamtlich mache. Diese Ergebnisse entsprechen Ergebnissen aus anderen Projekten, in denen es um Diskriminierungserfahrungen sowie um die Beschränkung von Partizipationsmöglichkeiten in der hiesigen Zivilgesellschaft geht. Das Gefühl jüngerer Menschen, im Alter zwischen etwa 16 und 27 Jahren, im Hinblick auf das in der Gesellschaft latente Bedrohungspotenzial nicht ernstgenommen zu werden, ist sehr hoch.
In Frankfurt haben wir sicherlich eine etwas exponiertere Situation, weil Hanau eine Nachbarstadt ist. Einige unserer Studierenden haben Bekannte und Verwandte aus dem Umfeld der ermordeten Personen in Hanau. Das sind Ereignisse, die erschüttern. Wir sind nicht sicher an Orten, an denen wir uns mit Freund*innen treffen, an migrantisch gelesenen Orten wie Shisha-Bars, die zunächst für Safe Spaces gehalten wurden, es jetzt aber nicht mehr sind. Es gibt das Gefühl, nicht gleichwertig zu sein, als Mensch, als vulnerabler Mensch, ich spreche nicht vom Status als Staatsbürger*in, nicht anerkannt zu werden von sich herkunftsdeutsch definierenden Menschen.
Norbert Reichel: Und zwei Wochen später sagte Wolfgang Schäuble im Deutschen Bundestag, man müsse die Fremdheitsgefühle der Menschen in Deutschland verstehen, und er meinte die Deutsch-Deutschen, wenn ich das mal so nennen darf.
Meltem Kulaçatan (zögert ein wenig mit der Antwort): Ja,… ja.
Norbert Reichel: Sehr irritierend fand ich auch die Formulierung, die ich in einigen Medien las: „Sie waren keine Fremden“. Eigentlich bestätigt ein solcher Satz das, was er eigentlich negieren sollte. Schäubles Rede macht es dann noch schlimmer. Über die Fremdheitsgefühle von ein- und zugewanderten Menschen sprach er nicht.
Meltem Kulaçatan: Vor allem greift eine solche Rede nicht die Kontinuität der Ereignisse auf. Ich könnte noch weiter zurückgehen: Hoyerswerda, Rostock, Mölln, Solingen. Die 1990er Jahre waren mit Ermordungen, mit Jagden auf „fremd“ aussehende Menschen gespickt.
Norbert Reichel: Zwischen 1990 und 1993 gab es meines Wissens etwa 70, 80 solcher Ereignisse. Sie gingen nicht alle tödlich aus, aber fast alle hätten tödlich ausgehen können.
Meltem Kulaçatan: Die Amadeu Antonio Stiftung spricht von etwa 200 Menschen, die seit 1990 durch rechtsextreme Angriffe ihr Leben verloren haben. Damit spreche ich noch nicht einmal von den Kontinuitäten seit den 1950er Jahren, beispielsweise den Angriffen auf Jüdinnen*Juden. Es gibt in dieser deutschen Gesellschaft eine Unfähigkeit über die Opfer all dieser Angriffe und Morde zu trauern. Dieses Signal ist fatal.
Norbert Reichel: Nicht alle bekommen die Rede von Wolfgang Schäuble mit, aber der Geist dieser Rede ist – auch durch die Beiträge diverser Medien – Allgemeingut. Es musste viel passieren, bis ein Bundesinnenminister, in diesem Falle Horst Seehofer, sagte, dass der Rechtsextremismus in Deutschland das größte Problem wäre. Das sagte er erstmals zwei Tage nach dem 19. Februar 2019. Aber die Racial Profiling Studie gibt es immer noch nicht. Lippenbekenntnisse?
Meltem Kulaçatan: Das bekommen Menschen mit, die zum Beispiel Walter Lübcke schätzten, als einen humanen Politiker, der den Pluralismus in dieser Gesellschaft stark machte.
Feminismus heißt Bildung – der Weg in die Freiheit
Norbert Reichel: Wir haben über Stimmungsbilder gesprochen. Eine Art roter Faden in Ihrer Arbeit ist die Stellung von Frauen.
Meltem Kulaçatan: Ich versuche diesen Faden zu spinnen. Zur feministischen Theorie kam ich bereits sehr früh, schon in der Schule. Wichtig ist jedoch auch ein anderer Weg. Ich habe feministische Denkerinnen* und Autorinnen* aus dem Vorderen Orient bzw. Nahen Osten gelesen. Das war Ende der 1990er Jahre in einem politikwissenschaftlichen Schwerpunkt zum Vorderen Orient. Über diese Frauen kam ich zu dem Thema und habe mich dann im Kontext Türkei, Libanon, Syrien und Maghreb damit beschäftigt. In meiner Dissertation habe ich die Gunst der Stunde genutzt und mich mit feministischer Theoriebildung in säkularisierten Gesellschaften in Mittel- und Westeuropa beschäftigt. Das war der Weg zu diesem Thema.
Norbert Reichel: Sie haben feministische Ansätze in Mittel- und Westeuropa und feministische Ansätze in der Levante aufeinander bezogen.
Meltem Kulaçatan: Vor allem im Hinblick auf die Türkei, gerade in Bezug auf die Hybriditäten und Ambiguitäten, die es in der türkischen Öffentlichkeit gab und zum Teil auch immer noch in dieser Form präsent sind. Es ging nicht nur um die 1990er und 2000er Jahre, sondern auch um die 1960er Jahre bis hin zur Republikgründung. Mich hat aber der gesamte Raum des ehemaligen Osmanischen Reiches, im Balkan, in der Levante, im Maghreb im Hinblick auf das Thema fasziniert.
Norbert Reichel: Was war ein zentrales Ergebnis Ihrer Auseinandersetzung mit diesem Thema?
Meltem Kulaçatan: Alles steht und fällt mit Bildung. Das gilt für Mädchen und Frauen, für Jungen und Männer. Aber vor allem im Hinblick auf die Mädchenarbeit spielt Bildung eine ganz ganz große Rolle für ein erfolgreiches feministisches Projekt. Anfang des 20. Jahrhunderts, auch in den Umbruchphasen vom Osmanischen Reich zur Republik waren die Akteurinnen* oft vorgebildete Frauen mit den entsprechenden finanziellen Mitteln. In Städten wie Istanbul zum Beispiel. Das hatte auch mit Reformbewegungen gegen Kolonialismus und gegen Imperialismus in der Region zu tun. Das waren Frauen, die in dieser Zeit groß geworden sind, die mitbekommen haben, was es heißt, wenn die eigene Muttersprache, in dem Fall in der Regel das Arabische, unterdrückt werden, andere Sprachen dominieren, aber diese Dominanz gleichzeitig einen Bildungsweg eröffnen, über das Britische, über das Französische, um Selbstbewusstsein zu erlangen. Das hat mich intellektuell und emotional sehr berührt. Ich begreife Bildung als Weg in die Freiheit. Es kann ein Weg in die Freiheit sein, es geht um Selbstermächtigung, ich kann meine eigene Biographie selbst gestalten. Das ermöglicht Bildung. Das habe ich in diesen Ländern spüren können.
Norbert Reichel: Ich habe Ähnliches Anfang der 1990er Jahre in einem EU-Austauschprogramm für Ministerialbeamt*innen in Andalusien erlebt. Dort habe ich in Guadix ein Alphabetisierungsprojekt besucht. Zunächst kamen die Frauen. Als dann die Männer merkten, dass die Frauen schlauer wurden, kamen auch sie und wollten lesen und schreiben lernen. Ich denke, dass die Bildung von Mädchen und Frauen in der Tat der Schlüssel ist, um einerseits mehr Freiheit, soziale Gerechtigkeit zu schaffen, andererseits Armut und patriarchalische Strukturen zu bekämpfen. Auch in UNO-Kontexten habe ich diese Erfahrung gemacht, beispielsweise in afrikanischen Ländern.
Meltem Kulaçatan: Das zivilgesellschaftliche Engagement verändert sich, die Erziehung verändert sich, auch die Wirtschaft verändert sich, Armut verschwindet, weil mehr Frauen auf den Arbeitsmarkt strömen und dort tätig werden. Alphabetisierung, Bildung, ökonomische Unabhängigkeit, das stabilisiert solche Entwicklungen, für Mädchen wie für Jungen. Der Effekt einer geschlechtergerechten Politik hat unabhängig vom Geschlecht eine stabilisierende Wirkung in der Gesamtbevölkerung. Meiner Meinung nach werden diese Wirkungen unterschätzt.
Weibliche politische Partizipation
Norbert Reichel: Es wird meines Erachtens auch unterschätzt, welche Potenziale die Förderung einer solcher feministisch orientierten Politik in der Levante und anderswo eröffnet.
Meltem Kulaçatan: Es geht um den Effekt weiblicher politischer Partizipation. 2011 war das ein Thema im „Arabischen Frühling“. Europa wurde damals mal wieder aufmerksam, um das einmal salopp auszudrücken, weil die Bewegungen im Nahen Osten, im Maghreb ohne die Aktivistinnen* nicht hätten gestaltet werden können. Das ist empirisch belegt. Wir haben allerdings oft eine sehr stark determinierte Wahrnehmung dieser Länder. Sie werden oft homogenisiert, islamisiert, religionisiert, auf einige wenige Faktoren hin analysiert, die dann dominieren. In dieser Situation bewegt sich dann vielfach die Wahrnehmung und alle tun so, als gäbe es nur Europa und als wäre Europa der Maßstab, der Rest der Welt existiert im Grunde nicht. Kaum jemand kann sich in Europa Allianzen zwischen religiös orientierten und laizistisch orientierten Feministinnen* vorstellen. Die Vorstellungen, was Religion bedeutet, sind so eindimensional. Ich halte das nach wie vor für ein Problem, trotz der breiten Medienlandschaft.
Bei jüngeren Menschen, in Workshops, in Seminaren erlebe ich allerdings, dass sie fluider, volatiler sind. Sie haben den Globalisierungsaspekt in ihrer Mentalität wirklich verstanden. Da laufen die Diskussionen auch anders ab. Über Stereotype und Vorurteile muss ich mit ihnen gar nicht mehr diskutieren. Ich habe das noch vor Kurzem bei einer Veranstaltung gemerkt: wir konnten direkt über Inhalte sprechen, beispielsweise über jüdisch-muslimische Allianzen. Das ist schon interessant, diesen Unterschied zwischen den Generationen zu beobachten. Darüber freue ich mich sehr, das muss ich zugeben, weil ich mir sehr viel Arbeit, sehr viel Abarbeiten sparen kann, sondern sofort auf die Inhalte eingehen kann.
Norbert Reichel: Ähnliches erzählte mir Lamya Kaddor, als ich sie interviewte. Sie sagte, dass in ihrem islamischen Religionsunterricht ihre Schüler*innen mit traditionellen Begriffen wie beispielsweise der „Ehre“, mit den traditionellen Vorstellungen, was Mädchen dürften und was Jungen dürften, nichts mehr anfangen könnten. Da hat sich offenbar viel verändert.
Meltem Kulaçatan (lacht): Ja, da hat sich viel verändert.
Norbert Reichel: Sie sprachen eben von Allianzen zwischen säkular und religiös orientierten Feministinnen*. Ich lasse jetzt einmal die Hardliner*innen unter den Säkularen außen vor, für die Religion oft das Böse schlechthin ist.
Meltem Kulaçatan: Im Grunde genommen geht es um frauen- oder geschlechterpolitische Anliegen. Den Schwerpunkt würde ich sogar bei der Geschlechterpolitik setzen. Es geht um Aspekte wie Gerechtigkeit am Arbeitsmarkt, beispielsweise wenn eine alleinerziehende Frau oder eine durch bestimmte Kleidung als religiös gelesene Frau nicht zu einem Vorstellungsgespräch eingeladen werden. Dann haben beide Frauen das gleiche Problem, aus unterschiedlichen Gründen. Sie finden keinen Zugang zum Arbeitsmarkt. Es ist ein Trugschluss, dass dies nicht so laufen würde. Das sind nur zwei Beispiele.
Frauen geraten sehr schnell in eine Lage, von der wir dachten, sie wäre überwunden, aber sie ist es nicht, strukturell und institutionell bedingt. Ich habe mich letztlich sehr gewundert, als Angela Merkel sich vor Kurzem als Feministin bezeichnete. Ich erinnere mich an eine Rede vor etwa einem Jahr. Da hatte Ulle Schauws, die frauenpolitische Sprecherin der Bundestagsfraktion der Grünen, Angela Merkel direkt nach der Situation der Frauen in der Pandemie gefragt. Da reagierte Angela Merkel, ich sage jetzt einmal wie eine Lehrerin, schnitt Ulle Schauws das Wort ab und sagte, auch die Männer übernähmen jetzt die Betreuungsarbeit. Das stimmt so nicht.
Wo ist die Lobby für frauenpolitische Themen?
Norbert Reichel: Eine Kollegin aus Ostdeutschland sagte mir mal, Angela Merkel wirke in solchen Situationen manchmal wie eine Pionierleiterin. Dann will sie einfach recht haben. Aber das lasse ich mal beiseite. Zu dem von Ihnen angesprochenen Thema gibt es valide Forschungsergebnisse. Jutta Allmendinger sprach bereits im Frühjahr 2020 zu Recht von „Retraditionalisierung“. Diese Warnung spielte jedoch bei der Konzeption der Maßnahmen gegen die Pandemie keine Rolle.
Meltem Kulaçatan: Sprechen wir über strukturelle Bedingungen, über Narrative, wie Frauen zu sein hätten, welche Erwartungen sie zu erfüllen hätten, so stellen wir fest, das betrifft sehr viele Frauen. Unter diesen Frauen gibt es natürlich Gruppierungen, die vulnerabler sind als privilegierte Frauen. Vulnerabler ist eine Frau, wenn sie eine befristete Beschäftigung hat, eine Teilzeitbeschäftigung, ihre Kinder alleine erzieht, wenn sie äußerlich auf Grund von Hautfarbe, Kleidung markiert wird. Intersektionelle Verschränkungen, zu denen Benachteiligungen führen können, sind dann virulent. Über diese Aspekte treffen sich dann Frauen unterschiedlicher Herkunft, kulturell, sozial, mental. Das heißt nicht, dass das dann konfliktfrei wäre. Feministische Arbeit, politische Arbeit ist nicht etwas, das im Stuhlkreis stattfindet und sich dort alle liebhaben. Das sind harte Auseinandersetzungen. Aber es gibt Schnittpunkte, Schnittmengen, wo sich Frauen treffen und zusammentun können. Die Frage ist eigentlich die – und da treffe ich mich mit Jutta Allmendinger und Ulle Schauws – wann diese Frauen die Zeit dazu haben.
Norbert Reichel: Und wann haben sie das Geld? Beispielsweise für Kinderbetreuung. Mir ist nicht bekannt, dass in der letzten Legislaturperiode viel zum Thema Equal Pay geschehen wäre. Zum Equal Pay Day gibt es jedes Jahr ein paar Statistiken, aber das war es dann auch.
Meltem Kulaçatan: Ich versuche das in den Mittelpunkt meiner Forschungen zu stellen. Es geht darum, wie partikulare Interessen gebündelt werden können, im Hinblick auf strukturelle Benachteiligungen, die doch sehr viele Menschen betreffen und die auch langfristige Auswirkungen haben wie beispielweise der Aspekt der Altersarmut oder der Erschöpfungsaspekt. Gerade dieser wirkt sich auf die Gesundheit vieler Frauen, aber eben auch auf die Kinder aus. Ein großer Kontext ist schließlich die Care-Arbeit, die Sorgearbeit. Etwa 90 Prozent der Beschäftigten in der Care-Arbeit sind Frauen. Abgesehen von der Care-Arbeit in den Familien.
Norbert Reichel: Ich muss sagen, dass ich noch nie so viel über das Thema Care-Feminismus gelesen habe wie während der Pandemie. Das kann auch an mir liegen, denn wir lesen ja alle zu unterschiedlichen Zeiten im Leben auch unterschiedliche Texte. Aber das ist vielleicht mal ein positiver Effekt der Pandemie, dass das Thema Care-Feminismus, Care-Arbeit zumindest auf der Tagesordnung steht. So richtig angekommen ist es in der Politik allerdings nun nicht.
Meltem Kulaçatan: Frauenpolitische Themen sind unterrepräsentiert. Es gibt nur wenige Parteien und dort nur wenige Politiker*innen, die diese Themen aufgreifen.
Norbert Reichel: Das belegt auch der Wahl-O-Mat der Bundeszentrale für politische Bildung. Dort gibt es nur eine frauenpolitische Frage und das ist die Frage nach der geschlechtsgerechten Sprache. So ist das ja auch in der Öffentlichkeit. Diskutiert wird über Gendersternchen, alles andere findet kaum statt. Viele Debatten laufen noch nach dem Motto Gerhard Schröders, der 1998 seine für Familie, Senioren, Frauen und Jugend zuständige Ministerin Christine Bergmann als Ministerin für Gedöns vorstellte.
Aber vielleicht darf ich Sie fragen, wie Sie diese Themen im Hinblick auf die arabisch-deutsche oder türkisch-deutsche Bevölkerung bewerten. Gibt es da Veränderungen, Trends? Ich habe den Eindruck, dass vor allem soziale Faktoren entscheiden.
Meltem Kulaçatan: Aus unseren Forschungen kann ich dies bestätigen. Es geht im Grunde immer um soziale Faktoren. Es geht darum, welche soziale Herkunft Menschen haben, aus welchem Milieu sie kommen. Entsprechend entfaltet sich der Lebensalltag. Wir haben jetzt sicherlich auch eine Fragmentierung in der Gesamtgesellschaft, auch innerhalb der Mehrheitsgesellschaft, was auch immer unter „Mehrheitsgesellschaft“ verstanden werden kann, auch im Kontext „Migrationshintergrund“, was auch immer dies ist, in verschiedenen Milieus. Die sozialen Problemlagen betreffen Menschen mit „Migrationshintergrund“ genauso wie Menschen in der „Dominanzgesellschaft“.
Wir können empirisch feststellen, dass sich im Laufe der Jahrzehnte eine stabile wohlhabende türkische Mittelschicht herausgebildet hat, die wirtschaftlich gesettlet ist, auch in diesem Land gesettlet ist, die hohe Kaufkraft besitzt und sowohl in Deutschland als auch in der Türkei investiert. Deren Kinder sind hochgradig mobil, reisen beruflich viel, haben aber ihren Lebensmittelpunkt in Deutschland. Das ist eine Mittelschicht, die wenig Aufmerksamkeit auf sich zieht, weil sie eben so unauffällig ist. Alles, was auffällt, was sich deviant verhält, kriminell verhält, wird jedoch in den Medien und in der Öffentlichkeit wahrgenommen. Darauf wird dann der Fokus von Politik und Berichterstattung fixiert. Alle, die sich unauffällig verhalten, werden ignoriert.
Norbert Reichel: Naika Foroutan hat den Begriff der „Devianzkonstruktion“ eingeführt. Es wird so diskutiert, als gehöre jede*r immer nur einer bestimmten Gruppe an. Die Wirklichkeit ist eine andere: wir alle gehören zehn oder zwanzig verschiedenen Gruppen oder Milieus an. Es ist eben nicht alles binär strukturiert. Die differenzierenden Zugänge der SINUS-Studien zu den diversen Milieus sind offenbar in Politik und Medien immer noch nicht angekommen, obwohl inzwischen immerhin fast 40 Jahre alt.
Kapital Familie
Norbert Reichel: Dort wo es größere Familienverbände gibt, wird jemand, der*die in Schwierigkeiten gerät, leichter aufgefangen als in Kleinfamilien. Solche größeren Familienverbände geraten jedoch in der Öffentlichkeit immer wieder in den Ruch der Parallelgesellschaft oder gar der kriminellen Clans. Wenn Großeltern, Eltern, Kinder, Onkel, Tanten, Nichten, Neffen sich gegenseitig leicht erreichen, leicht unterstützen können, hat das natürlich Vor- und Nachteile. Einerseits steht jedes Familienmitglied unter ständiger Beobachtung, was nicht immer lustig ist, aber andererseits fängt die Familie auf. Wer schwer krank ist, seine Arbeit verliert, fällt nicht ins Bodenlose.
Meltem Kulaçatan: Der Aspekt der Familie oder ich muss besser formulieren der Anerkennung in der Familie steht ganz weit oben vor der Anerkennung in der Gesellschaft, im Kreis der Freund*innen. Das hat auch damit zu tun, dass das Gefühl vorherrscht, dass das institutionelle Netz, das soziale Netz außerhalb der Familie nicht funktioniert. In der Gesellschaft, in der wir leben, haben wir uns, wir können uns aufeinander verlassen. Ganz einfach gesprochen: Blut ist dicker als Wasser. Das ist nichts Spezifisch Migrantisches, das gilt eigentlich immer.
Norbert Reichel: Im Zwei- oder Dreipersonenhaushalt ist nicht viel Familie vorhanden.
Meltem Kulaçatan: Familie ist ein Kapital, ein Netzwerk, ein Auffangbecken. Niemand muss nur auf eine einzige Person zurückgreifen, die beispielsweise ein Studium finanziert. Da tun sich dann mehrere Personen zusammen, finanzieren eben die Berufsausbildung, das Studium, einen Auslandsaufenthalt.
Norbert Reichel: Ein schwieriges Thema ist meines Erachtens auch die Würdigung der Lebensleistungen von Frauen aus der ersten Generation der Gastarbeiter*innen.
Meltem Kulaçatan: Die Sorgearbeit, die diese Frauen geleistet haben, ihre Belastung, findet in der wissenschaftlichen wie in der politischen Diskussion keinen Platz. Das sind Frauen, deren Arbeit, deren Leistungen oft im Grunde genommen verschwinden. Das waren Frauen, die im Akkord, in Schicht gearbeitet haben, die ihre Kinder großgezogen haben, ohne dass es ein breit angelegtes Betreuungsangebot gegeben hätte. Sie lebten immer mit der Vorstellung, wir gehen wieder zurück, wir gehören hier eigentlich nicht her, wir müssen um unsere Aufenthaltsberechtigung fürchten. Ich nenne Ihnen ein Beispiel. In diesem Jahr feiern wir 60 Jahre Anwerbeabkommen zwischen Deutschland und der Türkei, und nur sehr wenig, eigentlich gar nicht, wird über die Gastarbeiterinnen aus der Türkei gesprochen. Das betrifft auch Gastarbeiterinnen aus anderen Anwerbeländern, Griechenland, Ex-Jugoslawien.
Ich halte das für ein Leck, für verzerrt, wenn jetzt von jüngeren Generationen gesagt wird, wir können jetzt sprechen, wir können diese Arbeit machen. Das stimmt, rein faktisch. Aber die Fähigkeit dahin zu kommen, überhaupt sprechen zu können, das haben die Frauen aus der ersten Generation geleistet, nicht öffentlich, aber im familiären Kontext, in ihrem kleinen und mittelgroßen Wirkungskreis, zwischen Familie, Arbeitsplatz und Schule, und das oft in einer Situation, in der sie der deutschen Sprache kaum mächtig waren.
Norbert Reichel: Diese Leistungen werden nicht gewürdigt, nicht anerkannt. Das führt dann dazu, dass die Tochter die Mutter auf ein Amt oder zum Arzt begleitet, dolmetscht, Ärzt*innen oder Sachbearbeiter*innen sich aber dann beschweren, dass die Mutter kein Deutsch spricht. Ihre Lebensleistung wird nicht anerkannt, nur ein einziges Problem wird angesprochen, doch wo hätte diese Frau denn Deutsch lernen sollen und wann hätte sie die Zeit dazu gehabt?
Meltem Kulaçatan: Es wird auch wenig darüber gesprochen, dass die Arbeit dieser Frauen auch eine feministische Arbeit war, eine Arbeit, die für mehr Gerechtigkeit im Leben ihrer Töchter gesorgt hat. Sie haben versucht, das alles zu gewährleisten. Diese Aspekte der deutschen Zeitgeschichte – das sage ich ganz bewusst – werden weitgehend ignoriert. Es gibt einzelne Studien, aber in der öffentlichen Wahrnehmung hat das nicht stattgefunden und findet auch nach wie vor nicht statt.
(Anmerkung: Erstveröffentlichung im Oktober 2021, alle Zugriffe auf die im Text verlinkten Internetseiten zuletzt am 14.10.2021)