Gemeinsam souverän

Die netten Deutschen und die Impfpflicht-Debatte

„Ich war gestern zur Nazifeier im Sportpalast. Die nettesten Deutschen waren da. Familien an weißgedeckten Tischen bei Kaffee und Kuchen. Der einfache Mensch braucht Heimat, Volkslieder, Veilchen. Die Linke verlangt Internationalität und moderne Kunst für den Arbeiter. Er wird auf den ersten hereinfallen, der zu ihm sagt: ‚Unsere Deutsche Heimaterde, Veilchen im Frühling, Madel tanz mit mir.‘ Keiner kann mehr Expropriation der Expropriateure hören oder ähnliche Fremdworte. Vor Monaten habe ich schon geschrieben, einen Helden wollen die Leute auf der Bühne sehen. Sie haben genug von diesen albernen Stücken über §218 oder ‚Masse Mensch‘.“ (Fred Hildenbrandt, zitiert nach: Gabriele Tergit, Etwas Seltenes überhaupt – Erinnerungen)

In seiner Neujahrsbotschaft zum Jahr 2022 bemühte der frisch gewählte Bundeskanzler Olaf Scholz die Floskeln, die all denen gut anstehen, die Konflikte aus der Welt herausmoderieren möchten. Er sprach von „Gemeinsamkeit“, die notwendig sei, und davon, dass er keine „Spaltung“ der Gesellschaft sehe. Aber vielleicht hätten er und seine Redenschreiber*innen Gabriele Tergit lesen sollen. Gabriele Tergit legt die von mir zitierten Sätze in ihrem auto- und zeitbiographischen Buch „Etwas Seltenes überhaupt – Erinnerungen“ dem Tageblatt-Redakteur Fred Hildenbrandt in den Mund: Wer dessen weitere Biographie verfolgt, mag darüber nachdenken, ob auch er*sie ein solch „einfacher Mensch“ hätte werden wollen. Das liberale Berliner Tageblatt, zu dem ihn Theodor Wolff geholt hatte, verließ er und schrieb für Wehrmacht und NSDAP.

Falsche Prioritäten

Vielleicht kommt es gar nicht darauf an, ob eine Gesellschaft „gespalten“ ist oder nicht, sondern einfach nur darauf, zur Kenntnis zu nehmen, dass es eine nicht unwesentlich große Gruppe gibt, die der Meinung ist, mit als „Spaziergänge“ getarnten Aufmärschen, Drohungen und Belagerungen dafür sorgen zu können, dass das, was sie ablehnen, nicht stattfinden solle. Abgesehen davon wäre eine homogene Gesellschaft, in der es keine „Spaltungen“ gäbe, eine totalitäre Horrorfantasie. Das rechtfertigt und entschuldigt in keiner Weise die Art und Weise, in der manche „Spaltung“ zelebrieren und sich in einer Opferrolle präsentieren, die ihnen nicht zusteht.

Impfpflicht und Maskenpflicht sind bei den sogenannten „Spaziergängen“ nur ein Vorwand. Eigentlich geht es den „Spaziergänger*innen“ um etwas anderes. Und wenn eines Tages nicht mehr über die Impfpflicht gestritten wird, wird es ein anderes Thema geben, das sie aus ihren Häusern heraustreibt. Wir mögen viele der „Spaziergänger*innen“ für Verführte halten. Als „Verführte“ versuchten viele Deutsche nach dem 8. Mai 1945 ihr Verhalten in den vergangenen zwölf Jahren zu rechtfertigen. Viele der Verführten waren damals jedoch lange Zeit selbst Verführer*innen. Wie schnell Menschen, die einfach nur über die „Deutsche Heimaterde“ spazieren und „Veilchen im Frühling“ riechen möchten oder zumindest vorgeben, dies und nichts anderes zu wollen, zu aktiven Verführer*innen werden, ließ sich nach dem 30. Januar 1933 beobachten, und dies nicht nur bei den sogenannten „Märzgefallenen“. Jürgen W. Falter hat dies in dem von ihm herausgegebenen Band „Junge Kämpfer, alte Opportunisten – Die Mitglieder der NSDAP 1919-1945“ (Frankfurt / New York, Campus, 2016) dokumentiert. Andreas Nachama hat die eigene Dynamik der Identifikation auch eher unpolitisch denkender Menschen mit einer mörderischen Ideologie in seinem Buch „12 Jahre, drei Monate, acht Tage“ dokumentiert, eine wahrhafte Chronologie des Terrors (2021 in Leipzig bei Hentrich & Hentrich erschienen).

Vielleicht sollten wir darüber nachdenken, wie aus heutigen „Spaziergänger*innen“ gefährliche Verführer*innen werden könnten und was sie verbindet. Von einem 30. Januar 1933 sind wir allerdings zu unserem Glück weit entfernt. Die „Spaziergänger*innen“ verbindet auch nicht unbedingt eine gemeinsame Ideologie. Mich erinnern die Proteste eher an die französischen Gelbwesten. Aber was nicht ist, kann noch werden. Wir müssen aber leider auch immer wieder feststellen, wie erratisch Politik auf die Gewalt der „Spaziergänger*innen“ reagiert. Ich möchte dies an drei Texten demonstrieren, die Nely Kiyak, Mithu Sanyal und Eva Menasse im Herbst 2021 in der ZEIT veröffentlicht haben.

Nely Kiyak hat am 11. November 2021 in ihrer „Deutschstunde“ darüber nachgedacht, welche repressiven Maßnahmen deutsche Innenminister (damals alle männlich) bereits ergriffen hätten, wenn die „organisierten und radikalen Corona-Leugner keine wahlberechtigten Deutschen, sondern in Deutschland lebende Türken“ wären: „Jeden Ort, den die impfunwilligen Ausländer betreten würden, egal ob Rewe oder Risa-Chicken, würde man ihnen zum Ort der Radikalisierung umdeuten.“ In der Tat ist die Frage berechtigt, warum die meisten Politiker*innen entweder nicht ahnen oder sich offenbar nicht trauen, offen auszusprechen, worum es auf den „Spaziergängen“ wirklich geht. Dabei liegen die Parallelen zwischen PEGIDA-Bewegung und Corona-„Spaziergängen“ auf der Hand. Das, was im Herbst 2015 die sogenannte Flüchtlingskrise war, ist heute die Pandemie.

Das Ergebnis können wir auf der rechten Seite des Deutschen Bundestages und der Landtage täglich beobachten. Ihre ersten Wahlerfolge hatte die AfD mit der „EURO-Krise“, sie konsolidierte sich mit der „Flüchtlingskrise“, sie versucht, sich über die Pandemie zu profilieren, was ihr aber nur bedingt zu gelingen scheint. Die Präsenz von Rechtsextremist*innen bei Demonstrationen zu den genannten Themen wuchs im Laufe des letzten Jahrzehnts, die Nähe der AfD zu ihnen ebenso. Viele teilnehmende Bürger*innen, Wähler*innen der AfD scheint dies nicht zu stören, allenfalls dürfte es den weiteren Ausbau der Wahlergebnisse stören. Nely Kiyak: „Es geht bei dieser Bewegung schon lange nicht um Impfstoffe und derlei. Die Corona-Maßnahmengegnerschaft ist nur ein Mittel im Kampf darum, das demokratische System zu diskreditieren. Sicher wird es unter den sogenannten Impfgegnern auch welche geben, die sich ängstigen. Jeder kennt solche Leute. Aber das sind solche, die eher beschämt reagieren, wenn man sie darauf anspricht, und ihre Bedenken meistens eher zu verheimlichen versuchen, statt sie auf Marktplätzen randalierend und rebellierend vorzutragen. Auch sie werden von diesen Extremisten in Geiselhaft genommen.“

Mithu Sanyal hat am 8. Oktober 2021 in ihrer Analyse der angehenden Ampelkoalition explizit nach den Prioritäten in einer Demokratie gefragt. Rechte in einer Demokratie sind immer auch die Rechte der anderen. „Wir brauchen einen kritischen Blick auf die Einschränkungen unserer Bürgerrechte. Nicht weil sie alle falsch sind, sondern weil sie hinterfragt werden müssen, wieder und wieder. Denn das ist Demokratie auch immer: die Rechte derjenigen, mit denen wir eben nicht übereinstimmen, verteidigen.“ Dies bedeutet natürlich nicht, dass wir nur mit den Schultern zucken, wenn selbsternannte „Querdenker“ oder „Spaziergänger*innen“ mehr oder weniger gewalttätig demonstrieren. Wir sollten sie hingegen fragen, wie sie es mit den Rechten der anderen halten, ob sie respektieren, dass es gute Gründe für Impf- und Maskenpflicht gibt, auch wenn sie sie nicht teilen. Ich nehme an, hier scheiden sich die Geister: Demokrat*innen akzeptieren Skepsis gegenüber Impfungen, sollten sie zumindest, Anti-Demokrat*innen akzeptieren die Befürwortung von Impfungen nicht.

Die Prioritäten werden – so Mithu Sanyal – falsch gesetzt. Wir widmen den „Spaziergänger*innen“ eine Aufmerksamkeit, die sie nicht verdienen. Sie stilisieren sich als Kämpfer*innen für die Freiheit, die sie nicht sind. Andere, die sich für die freiheitliche Demokratie eingesetzt haben, werden von Politik und Medien ignoriert. „Deshalb fordere ich, Domenico ‚Mimmo‘ Lucano Asyl in Deutschland anzubieten. Der ehemalige Bürgermeister von Riace wurde in Italien gerade zu über 13 Jahren Haft verurteilt, weil er konsequent Geflüchtete aufgenommen und ihnen geholfen hat. Er hat in seinem Ort gezeigt, dass, wenn wir Hilfesuchende nicht verelenden lassen, sondern ihnen die Möglichkeiten für ein menschenwürdiges Leben geben, sie einfach Menschen sind, die mit uns zusammen arbeiten und leben und lieben. In dem durch Abwanderung betroffenen Riace führte das dazu, dass Handwerksläden entstanden und die Dorfschule wiedereröffnet wurde.“ Im Februar 2017 erhielt Domenico Lucano den Dresdner Friedenspreis, verurteilt wurde er im September 2021. Alexei Nawalny genießt in den deutschen Medien viel Aufmerksamkeit, aber wer berichtet über Domenico Lucano? Wo sind die Solidaritätsadressen, Unterschriftenlisten, Presseerklärungen, die sich für seine Freiheit einsetzen? Wo sind die Presseerklärungen der demokratischen Parteien, interveniert das Auswärtige Amt? Offenbar ist es wohlfeil, sich für politische Gefangene in Russland, in China oder in der Türkei einzusetzen, aber was ist mit politischen Gefangenen in einem EU-Land wie Italien?

Eva Menasse hat ihrem Essay vom 5. Januar 2022 die Überschrift „Die rote Linie“ gegeben und fragt: „Wie demokratisch ist eine Gesellschaft, die sich von Künstlern gestört fühlt? Und wie souverän sind Künstler, die vor dem Zeitgeist einknicken?“ Sie schreibt über die Angst, die regiere: „Aber Angst macht unsouverän. Sie führt direkt in Verschwörungsmythen, Massenhysterie, aggressiven Irrationalismus. Wenn sich gesellschaftliche Debatten verbissen den Künsten zuwenden, ist das ein Alarmsignal. Es zeigt, dass das demokratische Immunsystem nicht mehr richtig funktioniert.“ Als Österreicherin darf sie darauf verweisen, dass dies dort „schon vor dreißig Jahren“ so war. Die FPÖ hat eine Geschichte als österreichische Regierungspartei, in Koalitionen mit ÖVP und SPÖ. Eine solche Geschichte hat die AfD in Deutschland nicht.

Der Angriff auf Künstler*innen, Theaterintendant*innen, Kulturpolitiker*innen gehört zum ständigen Repertoire der AfD in Bundestag und Landtagen. Künstler*innen haben es in der Pandemie aber auch nicht leicht, wenn sie die offizielle Regierungspolitik kritisieren. Manche Künstler*innen verhalten sich sicherlich auch nicht sonderlich geschickt. Doch kann ich das von ihnen verlangen? Eva Menasse nennt „Monika Maron, Uwe Tellkamp und Neo Rauch (als) Beispiele für solche falsch verlaufenen, von Anfang an schiefen und vergifteten Prozesse. Mein persönlicher Tiefpunkt waren die flächendeckend verdammenden Reaktionen auf die #allesdichtmachen-Satire, mit der ein paar bekannte Schauspieler, die doch wahrlich verwirrt wirkende Corona-Politik aufs Korn nehmen wollten. Vom Gesundheitsminister und der Kulturstaatsministerin bis hinab in die Lokalpolitik glaubten Amtsträger ihren Senf dazugeben zu müssen, ob sie diese Satire ‚nur‘ für ungeschickt, für misslungen oder gleich für brandgefährlich hielten.“ Niemand kann und sollte von Künstler*innen verlangen, dass sie in allem was sie tun und sagen, moralisch und politisch einbahnfreie Vorbilder sind. Wer das verlangt, setzt falsche Prioritäten. Eva Menasses Befürchtung: „Eine Gesellschaft, die sich von ihren Künstlern zunehmend gestört und belästigt fühlt, könnte möglicherweise aufhören, eine demokratische Gesellschaft zu sein.“

Kontext schlägt Text

„Gemeinsamkeit“ als Leitbild – wer definiert es? Je öfter Politiker*innen „Gemeinsamkeit“ anmahnen, umso fragiler scheint sie zu sein. Möglicherweise ließe sich in Abwandlung eines Satzes von Carl Schmitt sagen, dass souverän ist, wer „Gemeinsamkeit“ definiert. Die Gefahr einer anderen „Gemeinsamkeit“ als der, von der Olaf Scholz spricht, ist offensichtlich. Andreas Zick sagte am 12. Januar 2022 dem RedaktionsNetzwerk Deutschland, er sehe „eine Konsolidierung von antidemokratischen, demokratiegefährdenden Ideologien und Verschwörungserzählungen“ sowie „einen Schulterschluss zwischen radikalen Systemgegnern und bürgerlichen Gruppen.“ Eben dies ist auch eine der Botschaft der letzten „Mitte“-Studie, zu deren maßgeblichen Autor*innen Andreas Zick gehört.

Vielleicht hätten manche Politiker*innen schon im Frühjahr 2020 offen über Impfungen diskutieren, die Medien valide Informationen verbreiten sollen. Das ist nicht passiert. Stattdessen fuhren zwei Züge zunächst langsam, jedoch mit ständig steigender Geschwindigkeit auf demselben Gleis aufeinander zu. Die Größe der Züge ist bei einem Zusammenprall nicht entscheidend, woran und was die Lokomotivführer zu wissen glauben auch nicht. Nehmen wir einmal an, die Impfdebatte löst sich auf, die Pandemie wird endemisch. Dann wird es andere Themen geben, in denen sich „radikale Systemgegner und bürgerliche Gruppen“ zusammenfinden.

Es lohnt sich, diese Zusammenhänge einmal von einer ganz anderen Seite zu betrachten. Rüdiger Görner hat in der Winterausgabe 2021 von Lettre International einen Essay mit dem Titel „Wider den Kritikverfall“ veröffentlicht. Mir erscheint seine folgende Formulierung schwer akzeptabel, gleichwohl sollten wir uns mit seinem Anliegen auseinandersetzen: „Um es ein für allemal festzuhalten: Die Entscheidung, sich nicht impfen zu lassen, ist kein extremistischer Akt, sondern Ausdruck individueller Freiheit, dem Menschen verbrieft im Nürnberger Ärztekodex von 1947 als Antwort auf die verbrecherischste Perversion ärztlicher Kunst im Nationalsozialismus.“ Ich unterstelle, dass Rüdiger Görner eine Impfpflicht nicht mit den Verbrechen nationalsozialistischer Ärzt*innen vergleichen wollte, sondern lediglich sagen, welch hohe Errungenschaft die Entscheidungsfreiheit eines Menschen über die Zulässigkeit eines medizinischen Eingriffs ist.

Nun geht es eben nicht nur um die Frage „Impfen oder nicht Impfen“, denn im Verlauf von Entscheidungsprozessen gibt es nie ein reines Entweder-Oder. Der Satz vom ausgeschlossenen Dritten gilt in gesellschaftlichen Konflikten nicht. TINA-Rhetorik („There is no Alternative“) verhindert sachorientierte Debatten. Politik geschieht immer in komplexen und nur diskursiv und dialektisch auflösbaren Situationen. Diesen Gedanken finden wir weder bei Rüdiger Görner noch bei all den Politiker*innen, die sich konsequent gegen eine Impfpflicht aussprechen, allen voran Wolfgang Kubicki. Und diejenigen, die eine Impfpflicht als einzige Alternative hinstellen statt offen darüber zu debattieren, erweisen der Demokratie einen Bärendienst. Sie gießen Öl ins Feuer.

Rüdiger Görner stellt die Frage: „Was sind das für Zeiten, wenn das Äußern einer unliebsamen Meinung zur öffentlichen Ächtung führen kann?“ Er zitiert zwei maßgebliche Autoren der französischen Aufklärung, Denis Diderot und D’Alembert, sowie ein Grundlagenwerk der Intellektuellenkritik, Julien Bendas „La trahison des clercs“ aus dem Jahr 1927. „Kritik braucht einen öffentlichen Akteur, den Intellektuellen. Er ist zuständig für unbequeme Fragen. Biedert er sich dem (quasi-)ideologischen Zeitgeist an, begeht er laut Julien Benda ‚Verrat‘ an der Sache und am Sinn der Kritik. In Diderots und d‘Alemberts Enzyklopädie sieht er sich sogar als ‚guide‘, als eine Leitfigur angesprochen, als eine Art moderner, also aufgeklärter Hermes psychopompos durch die labyrinthischen Verhältnisse in der Begriffs- und Tatsachenwelt führend, fähig, ‚de distinguer la vérité de l’opinion, le droit de l‘autorité, le devoir de l’intérêt…‘, also: Wahrheit von der Meinung, das Recht von der Autorität und das Sollen vom Interesse zu unterscheiden.“

Ob Julien Benda die These vom „Verrat der Intellektuellen“ auf die aktuellen Debatten rund um die Pandemie bezogen hätte, möchte ich nicht beurteilen. Lesenswert in Julien Bendas Buch ist das Vorwort der Neuauflage von 1946. Es geht dort nicht nur um die Kollaboration der Intellektuellen während der deutschen Besatzung in Frankreich, sondern auch um das, was diverse Intellektuelle in bereits vorangegangenen Zeiten an antidemokratischen Thesen vertraten. Wie stark sich Intellektuelle in politische Debatten einmischen sollten, ist allerdings auch eine schwierige Frage. Zumindest sollten sich Intellektuelle nicht als Wegbereiter*innen und Weggefährt*innen autoritärer oder totalitärer Politiker*innen einlassen. Wo dann die Grenzen sind, ließe sich im Einzelfall erörtern. Aber Intellektuelle und Politiker*innen sollten immer wissen (die folgende Formulierung verdanke ich Gerd Koenen): Kontext schlägt Text!

Gesundheit ist immer auch die Gesundheit der Anderen

Rüdiger Görner bietet eine intellektuell anspruchsvoll formulierte Kritik der Impfpflicht. Er unterlässt es jedoch, individuelle Freiheitsrechte im Zusammenhang kollektiver Ansprüche abzuwägen, er unterschlägt den Kontext der gewalttätigen „Spaziergänge“ ebenso wie den Kontext der Gesundheit der Vielen. So wie nicht nur nach Rosa Luxemburg Freiheit immer die Freiheit des Andersdenkenden ist, ist Gesundheit auch immer die Gesundheit der Anderen.

Das Beispiel der Pocken-Impfungen zeigt, wie eine Krankheit, die weitaus tödlicher war als eine COVID-19-Infektion, durch Impfungen ausgerottet werden konnte. Viele sogenannte Kinderkrankheiten werden heute durch systematische Impfung vermieden, vom Keuchhusten über die Diphterie bis zu den Masern. Viele kennen noch die Werbung „Schluckimpfung ist süß – Kinderlähmung ist grausam“. Reihenimpfungen in den Schulen waren lange Alltag, heute noch werden Mädchen systematisch gegen Röteln geimpft. Hygiene-Maßnahmen führten zu einer Reduzierung von Infektionen mit zahlreichen anderen tödlichen Krankheiten, von der Pest über die Cholera und die Ruhr bis hin zu diversen Tropenkrankheiten, die sich bisher glücklicherweise für Europa nur in ihren Ursprungsgebieten ausbreiten konnten. Individuelle Freiheitsrechte können mit Ansprüchen der Gemeinschaft kollidieren. In einer liberalen Demokratie stellt sich nun die Frage, wie solche Kollisionen gleichermaßen berechtigter Anliegen aufgelöst werden könnte.

Im Streit um eine Impfpflicht wird meines Erachtens auch viel zu wenig beachtet, dass die sogenannte „Triage“, die laut Urteil des Bundesverfassungsgerichts der Gesetzgeber regeln muss, nicht nur mögliche Konkurrenzen zwischen COVID-19 Infizierten betrifft, sondern auch Konkurrenzen zwischen an verschiedenen Krankheiten leidenden Menschen. Was ist mit aufgeschobenen Krebsoperationen, was ist mit Herzkranken, mit Patient*innen, die unter diversen Krankheiten leiden, die in der öffentlichen Aufmerksamkeit kaum beachtet werden, deren Behandlung aber so früh wie möglich erfolgen sollte? „Triage“ findet meines Erachtens längst statt, eine Tatsache, der sich Verfechter*innen und Kritiker*innen der Impfpflicht gleichermaßen stellen sollten.

Ich wage zu behaupten, dass es kaum jemanden geben dürfte, gleichviel welchen Standes und welcher Profession, der nicht irgendwann zweifelte, ob die verordneten Zwangsmaßnahmen gegen die Verbreitung der Pandemie sinnvoll und durchdacht wären. Offen gestanden kenne ich persönlich kaum jemanden, der diese Frage nicht ständig stellt. Dennoch hielten und halten sich die meisten trotz Zweifel an die verordneten Maßnahmen. An den sogenannten „Spaziergängen“ nimmt niemand teil.

Doch wo liegt das Problem einer Verteidigung des Rechts, nicht geimpft zu werden? Es liegt weniger in der Position als in der Art und Weise wie diese Position vorgetragen wird. Es liegt darin, dass der Versuch, die Berechtigung staatlicher Eingriffe zu hinterfragen, inzwischen von extremistischen Gruppen okkupiert werden konnte und dass diejenigen, die die Anti-Corona-Maßnahmen erließen oder verteidigen, schon im Frühjahr 2020 mögliche Kritik weder antizipierten noch zuließen. Schließlich eskalierte der Streit. Im Frühjahr 2020 wurde von fast allen verantwortlichen Politiker*innen eine Impfpflicht kategorisch ausgeschlossen. Wer sie dennoch verlangte, wurde sehr schnell zum Schweigen gebracht. Wie gesagt: es gab nur das eine oder das andere. Über die Frage, ob sich eine Situation so verändern könnte, dass es doch erforderlich wäre, eine Impfpflicht einzuführen, wollte bis zum Sommer 2021 kaum jemand diskutieren. Während der Bundestagswahl gab es ein paar zaghafte Stimmen für eine Impfpflicht, Fahrt nahm die Forderung erst nach der Bundestagswahl auf. Hätten die Regierungen – in Deutschland gibt es immerhin 17 davon – jedoch eine solche Debatte selbst initiiert und zugelassen, dass evidenzbasierte Argumente öffentlich diskutiert worden wären, hätte möglicherweise manche Radikalisierung verhindert werden können.

Impfpflicht und Aufstiegshoffnung

Ich beziehe mich noch einmal auf die Analyse von Andreas Zick. Die letzten „Mitte“-Studien haben sehr deutlich gezeigt, dass es keine Mehrheiten für eine rechtsextremistische Bedrohung unserer freiheitlichen Demokratie gibt. Die Zustimmungswerte für einige rechtsextremistische, antisemitische oder rassistische Aussagen sind zum Teil sogar gesunken. Viel gefährlicher ist die steigende Zahl derjenigen, die solche Aussagen nicht mehr rundweg ablehnen, gefährlich sind die Teils-Teils-Antworten. Eben dies erleben wir zurzeit auch bei all den Bürger*innen, die sich wenig dabei zu denken scheinen, gemeinsam mit Rechtsextremist*innen zu demonstrieren. Sie sind keine Rechtsextremist*innen, sicherlich nicht, oder sollte ich sagen: noch nicht? Ob sie noch Demokrat*innen sind? Ich zweifele.

Die Kritik an der Impfpflicht ist ein Modus der Kritik an der Regierung, der häufig auch als Elitenkritik firmiert. Die 17 deutschen Regierungen – und mit ihnen viele andere westlich-demokratische Regierungen – haben selbst dazu beigetragen, dass die Debatte so sehr aus dem Ruder gelaufen ist. Sie haben alle Kritik verdient. Regierungs- beziehungsweise Elitenkritik ist jedoch der falsche Ansatz. Nils C. Kumkar und Uwe Schimank haben in ihrem Essay „Mittelschichtsgesellschaft als Projektion“, erschienen in der Ausgabe der Zeitschrift Merkur vom Januar 2022, über diese Frage nachgedacht. Sie wenden sich gegen die Analysen von Andreas Reckwitz, der vielleicht der populärste Wissenschaftler unter denjenigen ist, die das Thema der Elitenkritik bearbeiten (die zitierte Merkur-Ausgabe enthält auch einen Text aus seiner Feder). Sie fragen, wie es dazu kommen konnte, dass Regierungs- und Elitenkritik so populär ist: „Gegenstand der Diagnose ist – anders als in der Rezeption oft unterstellt – nicht die gesellschaftliche Wirklichkeit, sondern die gesellschaftliche Selbstbeobachtung. Reckwitz prägt als nicht deshalb die Debatte, weil seine Diagnose ‚stimmt‘, sondern weil sie ‚passt‘.“ Eliten- oder Regierungskritik hat eben Konjunktur. Dann wären die „Spaziergänger*innen“ die Spitze eines Eisbergs. Eine bestimmte Ideologie ist dazu gar nicht erforderlich. Anders wäre auch der Wechsel von ganzen Wähler*innengruppen der Linken zur AfD nicht erklärbar.

Nils C. Kumkar und Uwe Schimank begründen ihre Analyse mit dem Schicksal grundlegender Versprechen der Politik. Das gebrochene Versprechen, es werde keine Impfpflicht geben, wirkt wie ein Déjà Vu anderer unerfüllter Versprechen, allen voran das Versprechen eines ständig steigenden Wohlstands, blühender Landschaften in Ost und West. Politiker*innen schufen „Aufstiegsaspirationen“, die sich aus einem „Leistungsethos“ ergaben und sich mit einem „Planungsimperativ“ verbanden: „Es geht darum, die eigenen Aufstiegsaspirationen systematisch, diszipliniert und Schritt für Schritt langfristig zu verfolgen. Dieses Ethos passte zu den veränderten ökonomischen Gelegenheitsstrukturen und den damit gemachten Erfahrungen.“ Das war ein Versprechen nach 1945 und es war ein Versprechen nach 1989, zumindest das, was große Teile der Bevölkerung sich davon versprachen, als sich nach 1945 und nach 1989 Regierungsform und Staatsverfasstheit veränderten.

Wer sich unterschiedliche Wege des Aufstiegs anschauen möchte, sollte zwei Auto-Städte besuchen, die nach dem Zusammenbruch totalitärer Herrschaft völlig unterschiedliche Wege gingen: Wolfsburg und Zwickau mit den Werken für Volkswagen und Trabant. Die Geschichte der Aufstiegsmisserfolge in Zwickau und an anderen vergleichbaren Orten zerstörte bei vielen Menschen den Glauben an „Leistungsethos“ und „Planungsimperativ“. Und enttäuschte Menschen fühlen sich sehr bald nicht mehr als Angehörige der „Mitte“ einer Gesellschaft. Wenn es nicht mehr zu gelingen scheint, das „Aufstiegsversprechen“ für alle umzusetzen, und sogar selbst diejenigen, die einen erfolgreichen ökonomischen und sozialen „Aufstieg“ in ihrer Biographie erlebt haben, fürchten, dass das Erreichte nicht von Dauer ist, liegt die Kritik an jeder staatlichen Maßnahme nahe, die zumindest gefühlt weiter in den Abgrund führt. Auch in Wolfsburg gibt es diese Ängste.

Die Impfpflicht ist nicht mehr und nicht weniger als ein ausgesprochen einfaches Symbol für den Weg in den Abgrund. Angeklagt wird ein Staat, der den Bürger*innen Vorschriften macht, wie sie sich zu verhalten hätten. Dieses Gefühl eint – auch ohne dass sie miteinander darüber diskutieren – Esoteriker*innen, Anthroposoph*innen und Anhänger*innen von Globuli, ehemalige DDR-Bürger*innen, Lehrer*innen in Waldorfschulen. Da spielt es irgendwann keine Rolle mehr, wenn sich extremistische Akteur*innen in den Vordergrund schieben. Immerhin sorgen diese für eine Aufmerksamkeit in Medien und Politik, die es sonst nicht gäbe. Impf- oder Maskenpflicht sind Anlass der „Spaziergänge“, aber nicht der Kern. Ähnlich funktionierte es in der Anfangszeit von PEGIDA. Und PEGIDA war erfolgreich. Die AfD ist heute relativ stabil. Im Januar 2022 ist es die Impfpflicht, es wird noch andere Anlässe geben, und wenn Politiker*innen diese Zusammenhänge ignorieren, werden sie feststellen müssen, dass wohlmeinende Bürger*innen sich immer weniger scheuen werden, sich von Rechtsextremist*innen vertreten zu lassen. Manche verhalten sich dann wie Fred Hildenbrandt, souverän gemeinsam mit „den nettesten Deutschen“.

Norbert Reichel, Bonn

(Anmerkungen: Auf die Textstelle von Gabriele Tergit wies mich Beate Blatz hin. Erstveröffentlichung im Januar 2022, Internetzugriffe zuletzt am 14.1.2022.)