Hinter den Spiegeln
Christopher de Bellaigue – Portrait des Autors und investigativen Journalisten
“There is something wonderfully earnest and yet wholly irrelevant about Westerners demanding modernity from people who are drenched in it.” (Christopher de Bellaigue, The Islamic Enlightenment. The Modern Struggle Between Faith and Reason, 2018)
Christopher de Bellaigue ist vor allem im englischsprachigen Raum seit Ende der 1990er Jahre als sachkundiger Autor für den „Vorderen und Mittleren Osten“ und die Türkei bekannt. Einige seiner Bücher liegen inzwischen auch in deutscher Übersetzung vor. Er hat mehrere Jahre in der Türkei und im Iran gelebt, spricht u.a. Türkisch und Farsi. Geboren 1971 in London in eine aristokratische anglo-französische Familie wuchs er in einer, wie er am 7. März 2020 in der London Review of Books schreibt, selbst für aristokratische Verhältnisse in England Familie auf. Seine Großeltern mütterlicherseits wanderten bereits früh nach Kanada aus, auf der Flucht, sagt ihr Enkel, vor den seltsamen Sitten der Verwandtschaft. Seine Mutter wuchs in der kanadischen Weite auf, zog aber „zurück“ nach Europa. Die Familie des Vaters, alter englisch-französischer Adel, stand im Dienste Königin Elisabeth II, sein Onkel war der Direktor der königlichen Kunstsammlung, seine Großmutter die Französischlehrerin der Prinzessinnen Elizabeth und Margaret.
Ausmessung eines Standorts
Bellaigues Mutter litt unter manisch-depressiven Schüben. Der Freundeskreis der Eltern zieht sich daraufhin von der Familie zurück. Die Eltern trennen sich. 1984 wird Christopher de Bellaigue standesgemäß auf dem Eton College eingeschrieben. Mit 13 Jahren verliert er die Mutter durch Selbstmord. Auf dieses einschneidende Ereignis reagiert sein gesamtes Umfeld so, wie es das System gebietet: mit stoischem Schweigen, stiff upper lip.
Jahre später tastet sich Bellaigue an die eigene Geschichte heran und stellt sich kritisch zu dem elitären Klassenbewusstsein, dem er auch unterstellt wurde, das auf Performance und Erfolg und dem Bewusstsein, zur Elite zu gehören, ausgerichtet ist, gemäß dem Leitsatz, Gefühle müssten beruhigt, Selbstzweifel nicht zugelassen und mit genügend Willen und Bemühung könne fast jedes Hindernis überwunden werden.
Christopher de Bellaigue folgt zunächst diesem Leitsatz. Er macht seinen BA und MA in Oriental Studies am Fitzwilliam College in Cambridge und wird im Alter von 23 Jahren Korrespondent des „Economist“. Bald schreibt er für mehrere englischsprachige Zeitungen und Zeitschriften wie den London Review of Books, den Guardian, den New York Review of Books und den New Yorker. Und er macht sich einen Namen als Buchautor.
Zuerst hat es ihm die Türkei angetan. Er bereist das Land und eignet sich Sprache und Kultur an, taucht ein in diese neue Welt. 1999 fährt er in den Iran, er verliebt sich, lernt Farsi, heiratet und wohnt bis 2007 in Teheran. De Bellaigue und seine Frau, die iranische Architektin Bita Ghezellayagh, und die beiden gemeinsamen Kinder leben derzeit in London.
Seine Themen ergaben sich aus seiner Leidenschaft für die beiden Länder Türkei und Iran. Sein Blick erfasst die gesamte Region und stellt Geschichte und Zeitläufte in klug und ansprechend dargestellten Analysen in einen größeren Zusammenhang.
Über die Jahre erweitert er seinen Radius zu einem breiten ungewöhnlichen Spektrum von Themen: koloniales Erbe Europas, Radikalisierung und Religion, Umwelt und Nachhaltigkeit, Psychologie und Philosophie. Seine Buchtitel sind Programm, hier eine Auswahl:
- 2004: In the Rose Garden of the Martyrs. A Memoir of Iran (deutsch Im Rosengarten der Märtyrer. Ein Portrait des Iran, München, C.H. Beck, 2006)
- 2008: Rebelland. Among Turkey’s Forgotten Peoples (deutsch: Rebellenland. Eine Reise an die Grenzen der Türkei, München, C.H. Beck, 2008)
- 2012: Patriot of Persia. Muhammad Mossadegh and a Very British Coup (leider noch auf Deutsch erschienen, englische Ausgabe London, Vintage Books, 2012)
- 2017: The Islamic Enlightenment. The Modern Struggle Between Faith and Reason (deutsch: Die islamische Aufklärung. Der Konflikt zwischen Glaube und Vernunft, Frankfurt am Main, Fischer, 2018)
- 2022: The Lion House. The Coming of a King. (noch nicht auf Deutsch erschienen, englische Ausgabe London, The Bodley Head, 2022)
- Angekündigt für 2023: Flying Green. On the Frontiers of New Aviation (Columbia Global Reports).
Christopher de Bellaigue hinterfragt scheinbare Gewissheiten und dreht die Spiegel um, irritiert unsere europäische Selbstreferentialität. Seine Texte sind in jedem Fall erhellend, nie belehrend, eher mehrdimensional engagierte Berichte aus Zeiten und Orten, die uns fern und fremd erscheinen. Ein Autor, der zum Guide, im besten Sinne zu einem Führer in und durch eine Fremde wird, dem wir mit offenen Augen folgen können.
Im Folgenden werden die genannten fünf in den Jahren 2004 bis 2022 erschienenen Bücher vorgestellt, allesamt Anregungen, angestammte und erlernte Denkpositionen zu verlassen. Europa hat diese Welt geprägt und prägt sie noch, aber Europa ist nicht die Welt.
„Rebellenland“ – wem gehört die Geschichte?
Ein nicht mehr ganz junger Mann steht in Muş, Ostanatolien, in einem Hotelzimmer und betrachtet sich im Spiegel. Was er sieht, irritiert ihn zutiefst: „Was mich verstört, ist nicht die Tatsache, dass ich völlig durchnässt bin, auch nicht die Müdigkeit, sondern der Umstand, dass das Bild so stark von der Vorstellung abweicht, die ich von mir selbst habe. Als ich das erste Mal (vor sechs Jahren) in Zimmer 205 war, das ausländische Gäste hier immer bekommen, war ich ein altkluger junger Mann. In der Türkei war ich damals im glorreichen Auftrag des Economist, jenes Leuchtturms liberaler angelsächsischer Gesinnung. Damals konnte ich auf dem Podest aus Selbstgenügsamkeit und schmerzloser weltbürgerlicher Armut thronend, jedweden Erwartungsballast abwerfen. Jetzt bin ich, wie mein Spiegelbild mir einbläut, Ehemann, Vater, Hypothekenschuldner. Aber am härtesten trifft mich – ausgerechnet an diesem Ort hier – dass ich kein Türke mehr bin.“ (Rebellenland, deutsche Übersetzung Karl-Heinz Siber)
Was war passiert?
Im März 2001 veröffentlichte Christopher de Bellaigue im New York Review of Books einen Bericht über Ostanatolien, in dem er auf die Massaker und die Vertreibung der Armenier von 1915 Bezug nimmt. Aus dem Material, das er für seinen Artikel hinzuzog, entwickelte er die These, das Schicksal der Armenier sei Teil der Gewalttaten, die mit dem Zerfall und dem nachfolgenden Ende des Osmanischen Reiches geschahen. Ein Sturm der Kritik brach über den New York Review of Books und seinen Autor herein, der berechtigte Vorwurf: de Bellaigue habe sich die offizielle türkische Lesart zu eigen gemacht, die die Massaker an den Armeniern entweder leugnet oder kleinschreibt.
De Bellaigue war geschockt über seine eigene Kurzsichtigkeit und Blauäugigkeit, mit der er vor allem mündlichen Berichten von Ortsansässigen und den sehr fragwürdigen und den Genozid an über einer halben Million Armenier schlicht leugnenden offiziellen türkischen Quellen und Autoren vertraut hatte. Ausgerechnet er, der die Türkei gut kannte, und sich, ebenso blauäugig, selbst schon als Türke identifizierte.
Ein Schock für den erfolgreichen jungen Auslandskorrespondenten.
De Bellaigue stellt sich seinen Fehlern. Und macht sich erneut auf den Weg nach Ostanatolien. 2008 entstand das Buch „Rebellen Land“.
Dieses Buch ist ein selbstkritischer, ausführlicher Reisebericht über die Suche nach dem eigenen Standpunkt in den Weltläuften und ein Versuch zu verstehen, was damals wirklich geschehen ist. De Bellaigue geht es nicht um Schuldzuweisungen, es geht darum um der Zukunft willen begreifen zu wollen, welche tiefen Spuren und Narben der Genozid und die Todesmärsche der Armenier auf dem Weg aus Anatolien in die syrische Wüste in den ehemals durch die armenische Kultur geprägte Landschaften, Städte, Dörfer hinterlassen hat. Es geht darum zu hören, worüber geschwiegen und was verborgen werden soll.
Ausführlich setzt sich de Bellaigue mit der Verfolgung, Vertreibung und Ermordung der Armenier, der Aleviten und der Kurden in Ostanatolien durch die diversen türkischen Regierungen auseinander. Er beschreibt die täglichen Diskriminierungen, Drangsalierungen, die ständige Beobachtung durch Militär und zivile Beamte des türkischen Staates. Er beschreibt den Kampf der sogenannten „Rebellen“ um die Unabhängigkeit und die Freiheit, die eigene Kultur ausüben und die eigene Sprache sprechen zu können, den Kampf ums Überleben und den Kampf um das eigene Territorium. Er analysiert den auf Ideologie basierenden Korpsgeist der türkischen Streitkräfte, „einer stolzen, kampfbefleckten Armee“, nach wie vor die zweitgrößte der NATO obendrein. Er analysiert, wie die Geschichte und die Kultur der sogenannten „Minderheiten“ im ehemaligen Vielvölkergebiet zwischen der Türkei, dem Irak und Syrien systematisch von der Zentralregierung seit Atatürk negiert und ideologisch auf allen Ebenen der Erziehung und Verwaltung in die angeblich eigene glorreiche und rein türkische Geschichte der Türkei gebogen wird. Eine Ideologie, der auch er aufgesessen war.
De Bellaigue benennt offen die kontinuierliche Enttäuschung der Freiheitskämpfer*innen durch das Verhalten der ehemaligen Kolonialmächte, die die Kraft und den Kampfeswillen durch die Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts hindurch bis in die Gegenwart für eigene politische und ökonomische Zwecke nutzen.
Im ersten Kapitel von „Rebellenland“ schildert de Bellaigue schon das ganze Dilemma der Reise in einer kleinen Szene: Er hat sich einer Gruppe armenischstämmiger US Amerikaner*innen angeschlossen, die das Dorf Çengilli nordwestlich von Muş besucht. Dort stand bis zu seiner Zerstörung und der Ermordung und Vertreibung der armenischen Mönche und Gemeinde 1915 das im vierten Jahrhundert gegründete Kloster Surb Karapet. Nur noch in den Häusern verbaute Steine mit armenischen Schriftresten zeugen vom einstigen Zentrum armenischer Religion und Kultur, dessen intellektuelle und spirituelle Kraft die gesamte Region beeinflusste.
Die amerikanischen Armenier*innen – oder vielleicht könnten wir sie auch als armenische Amerikaner*innen bezeichnen – bilden einen Kreis um Reste der Apsis einer der Kapellen des Klosters, in der Holz gestapelt liegt, und beten. Die Dorfbewohner*innen stehen um sie im Kreis herum und beobachten die Szene, die türkischen Soldaten, deren Aufgabe es ist, „die Sicherheit“ zu gewährleisten, stehen in einem dritten Kreis außen um die Szene herum. De Bellaigue hat sich zu den Betenden gestellt.
„Drei verschiedene Kreise sind in dieser Szene sehr deutlich erkennbar, aber in der Weise, wie sie dreinschauen, wie sie stoisch und mit dem Gestus des Besitzers auf dem Boden stehen, haben alle drei etwas gemeinsam. / Das ist mein Platz, sagt der türkische Soldat, politisch gesehen, ich herrsche hier. / Das ist mein Platz, sagt die kurdische Dorfbewohnerin, deren Mann die Waffe gegen den türkischen Staat erhoben hat und jetzt im Gefängnis schmort, und die dieses Land im grundlegendsten Sinn ‚besitzt‘, weil sie darauf lebt. / Das ist mein Platz, sagt der Betende im inneren Kreis, und, dass ich mir die Mühe gemacht habe, mit meinem US-Reisepass hierher zu kommen, hier zu stehen und in meiner eigenen Sprache Gebete aufzusagen – das sollte jedem deutlich machen, dass ich meinen moralischen Anspruch nicht aufgebe. / Und dann bin da noch ich, der Außenseiter, der Naseweis, der mit frommem Gesicht bei den Armeniern steht, hoffend, dass der türkische Feldwebel sich nicht zu fragen beginnt, wer dieser Bursche ist. (Rebellenland, Übersetzung Karl-Heinz Sieber)
Wessen Eigentum ist ein Stück Land? Welcher Anspruch gilt? Eigentum, so de Bellaigue, ist in diesem Moment in Surb Karapet nicht so sehr eine juristische Angelegenheit, die zu klären wäre – nach welchem Rechtssystem denn auch? Dort in Surb Karapet wird klar, Eigentum ist ein emotionaler Ausdruck.
„Rebellenland“ reflektiert, schlicht gesagt, nebenbei die Erkenntnis, dass Mensch als Reisende*r, egal zu welchem Belang oder in welchem Auftrag, immer außen steht, so gut man um auch Sitten und Gebräuche, Kultur und Sprache eines Landes kennt und sich darin bewegen kann, ohne wirklich aufzufallen. Nie ist man „nur beobachtend“, immer trägt jede*r Reisend*e auch die Geschichte der Welt in sich aus der er*sie sich aufgemacht hat, eine andere zu erkunden.
De Bellaigue nimmt sich Zeit für die Darstellung alevitischer und kurdischer Lebensumstände unter den Zeichen der verborgenen und dennoch präsenten Geschichte. Um die rechtmäßige Auslegung dessen, was in der Vergangenheit geschah, wird mit ähnlicher Heftigkeit gekämpft, wie um die Rechtmäßigkeit der politischen Forderungen, die sich aus den unterschiedlichen Auslegungen ergeben. Auch Geschichte wird hier zum Eigentum. Der Kampf gegen die Zentralregierung verhindert nicht den Kampf der einzelnen Kulturgruppen untereinander.
Daran änderte auch die Wahl in der Türkei 2007 nichts, deren Hintergründen de Bellaigue am Beispiel der Rolle der PKK und der Ermordung des armenischen Journalisten mit türkischem Pass, Hrant Dink, im letzten weitsichtigen Kapitel mit dem Titel „Tiefer Staat“ nachgeht.
Jetzt sind wir 16 Jahre weiter. Die Hoffnungen der Wahl in der Türkei 2007, der Grünen Revolution im Iran 2009 und des arabischen Frühlings 2011 haben sich nicht erfüllt. Die ehemaligen Kolonialmächte mischen kräftig bei den Kriegen und der Gewalt der autokratischen Herrscher mit oder profitieren vom Machtvakuum oder der scheinbaren Stille im Libanon, in Ägypten, im Irak, in Syrien, im Iran, im Jemen. In der Türkei steht wieder eine Wahl an.
„Im Rosengarten der Märtyrer“ – Impotenter Imperialismus
Bereits 2004 erschien das in der englischen Originalausgabe als Andenken an den Iran bezeichnete, ausgesprochen einfühlsame Portrait des Landes mit seiner Jahrtausende alten Kultur und seiner jüngsten Geschichte.
De Bellaigue bedient sich unterschiedlicher Stilmittel und Annäherungen und fesselt die Lesenden mit lebendigen Schilderungen dessen, was er sieht. Er führt Interviews mit Zeug*innen aktueller und „vergangener“ Ereignisse und Traumata, bei denen man den Atem anhält. Er berichtet so nüchtern und so genau wie möglich über ein Land, das auf der Suche nach der eigenen Identität zu zerbrechen droht.
Mit großer Sachkenntnis zeichnet er die wichtigsten Linien der islamischen Religionsgeschichte nach, dabei dienen ihm die Atmosphäre und die religiöse und politische sowie ökonomische Bedeutung wichtiger Städte des Iran, Qom, Isfahan, Yazd, Teheran als Aufhänger.
De Bellaigue hat sich zur Zeit des Ashura-Festes auf den Weg gemacht. Ashura ist der Höhepunkt im ersten Monat des islamischen Kalenders, der dem Gedenken an den in der Schlacht von Kerbela 680 ermordeten Enkel des Propheten, Hussein, gewidmet ist. Im iranischen Schiismus ist das eine besondere, dichte Zeit tiefer, in abendlichen Prozessionen und allgegenwärtigen großen schwarzen Fahnen geäußerten Trauer, mit der das Erleben von Gemeinschaft beim Essen und Freude an der Gemeinschaft einhergeht.
De Bellaigue versucht, mit aller Liebe und gleichzeitig der selbstkritischen Distanz des bewussten Beobachters von außen, den Blick in die Seele des Irans zu öffnen. Wenn er in der Betrachtung der Städte und ihres alltäglichen Lebens die Bedeutung der Koranschulen, die langsame Zentralisierung des politischen Lebens auf Teheran und der zunehmenden Einflussnahme der Mullahs vor Augen geführt, ist dieses Buch viel mehr als ein Reisebericht.
De Bellaigues Interviews mit Zeitzeug*innen, auch zufälligen Bekanntschaften, beleuchten die Situation im Iran. Es sind die Menschen, die hinter ihren Geschichten und Berichten, mit ihrem Leben sichtbar werden, die verstehen helfen, politische Situationen besser einzuordnen statt Handlungen und Entscheidungen zu verurteilen.
Alle Gespräche kreisen um drei große den Iran bis heute maßgeblich prägende Themen:
- die Herrschaft des Shahs und die Rolle der Imperialmächte Frankreich, Russland, Großbritannien und der USA, vor allem die Rolle der Briten und Amerikaner seit dem Zweiten Weltkrieg,
- die Revolution 1979 und die Entwicklung der Autokratie der Mullahs,
- der Krieg zwischen Iran und Irak 1980 bis 1988.
De Bellaigue trifft Zeitzeug*innen wie die an der Kunsthochschule in Mainz lehrende Konzeptkünstlerin Parastou Forouhar, 1962 in Teheran geboren. Ihre Eltern wurden am 21. November 1998 in ihrem Haus in Teheran vermutlich vom iranischen Geheimdienst ermordet, der Beginn der sogenannten „Kettenmorde“. 1979 gehörte Dariush Farouar als Arbeitsminister zum Kabinett des von Khomeini ernannten Premierministers Mehdi Bāzargān, der im gleichen Jahr aus Protest gegen die Geiselnahme des amerikanischen Botschaftspersonals zurücktrat. Dariush und Parwahneh Forouhar zählten zu den führenden Oppositionellen des Landes. Beide standen bereits über längere Zeit immer wieder im Fokus des Regimes. Jedes Jahr reist Parastou Farouhar nach Teheran, um das politische Erbe ihre Eltern fortzuführen und eine Gedenkveranstaltung zu deren Ehren zu organisieren. Das Regime der Mullahs versuchte dies zu verhindern, durch Entzug des Reisepasses, eine Anklage wegen Majestätsbeleidung, weil sie ihre politische Überzeugung natürlich auch in ihren Arbeiten zeigt.
De Bellaigue spricht mit Menschen, die alle Hoffnungen auf die Mullahs gesetzt hatten und deren Revolution brennend unterstützten und zeichnet deren Weg zur religiösen Radikalisierung bis hin zur bereitwilligen Bespitzelung und Verfolgung von Oppositionellen nach – ohne seine Gesprächspartner zu verurteilen. Er lässt sie sprechen.
Großen Raum nimmt der Krieg ein, den der Irak, richtiger Saddam Hussein, durch seinen Überfall auf den Iran 1980 auslöste. Anlass waren der Besitzanspruch des Irak auf die iranische Provinz Khuzestan sowie Auseinandersetzungen um die religiöse Deutungshoheit islamischer Inhalte unter den Schiiten des Iran und den irakischen Sunniten. Den irakischen Truppen stand eine hochmotivierte, aber kläglich ausgerüstete iranische Armee gegenüber. Der Shah hatte sich auf das Arsenal auf den US-amerikanischen Stützpunkten verlassen. Die Amerikaner hatten mehr oder weniger freie Hand auf den Militärbasen im Land. Ein Zentralregister aller vorhandener Waffen gab es nach dem Abzug der Amerikaner nicht. So hatten die neuen Herren im Land nicht einmal annähernd einen Überblick, wo sich Waffenlager befanden, oder was sich dort befand.
Die USA und auch Deutschland lieferten unterdes Waffen an Saddam Hussein.
Wir lesen von Helden, von Dreck und Angst, von Menschen die mit dem Todesmut der Verzweiflung versuchten, Städte, Dörfer, Menschen zu verteidigen. Am Ende blieben über eine Million Menschen zu betrauern, die Grenzen blieben unverändert – und bis heute unverändert instabil. Der Krieg bleibt ein Trauma für den Iran.
Halb im Scherz während der üblichen Alltagsplänkeleien – und dann doch wieder sehr ernst greifen de Bellaigues Gesprächspartner*innen die Rolle der Imperialmächte auf: der Zugriff Russlands und der Briten 1941 auf die Wirtschaft und das Territorium des Iran, die zunehmende ökonomische und damit politische Abhängigkeit des Shahs und seiner Vorgänger von den Briten, Stichwort: Monopol der Ölförderung der iranischen Ressourcen durch die Anglo-Iranian Oil Company. Dann der Befreiungsschlag unter dem ersten demokratisch gewählten Ministerpräsidenten Mohammed Mossadegh, der die Ölförderung verstaatlichte. Großbritannien und die USA sahen ihre Wirtschaftsinteressen extrem gefährdet und stürzten, mit Hilfe eines Joint Ventures aus CIA und MI6 den Präsidenten, setzten den Shah wieder ein und behielten bis 1978 den Daumen auf dessen Politik.
Es kursieren steile Thesen, es ist klar: Briten und Amerikaner sind nicht gerade die engsten Freund*innen des Iran. Den Russen traut man ein bisschen, aber auch nur ein bisschen mehr, dem Kommunismus gar nicht.
„Patriot of Persia“ – die Hybris des Westens
Genau hier setzt de Bellaigues Monographie über Mohammad Mossadegh mit dem sprechenden Untertitel „Mohammad Mossadegh and a Very British Coup“ an.
Die ganze Tragödie der Region begann im Grunde in dem Bestreben der Kolonialmächte Frankreich und Großbritannien, nach dem erwarteten Zerfall des Osmanischen Reiches dessen Erbe untereinander aufzuteilen und sich eine territoriale Vormachtstellung zu sichern. Die Akteure: zwei junge Kolonialbeamte, François Georges Picot und Mark Sykes, die in absolutem imperialem Größenwahn bei gleichzeitiger verheerender historischer und politischer Inkompetenz eine Linie durch den „Nahen Osten“ zogen. Die nördlich von dieser Linie liegenden Gebiete – A – benannt, umfassten die Südosttürkei, den nördlichen Irak, Syrien und den Libanon. Das mit B bezeichnete Gebiet südlich der Linie deckte Jordanien, den südlichen Irak und die Gegend um Haifa ab. Mehr oder weniger durchsichtiges Interesse der Briten: sich den Zugang zur Kolonie Indien auf jeden Fall zu sichern, Russland einen Riegel vorschieben und die Ölreserven im Süden des Iran zukünftig selbst nutzen. Das Abkommen wurde einige Jahre später um die „Partner“ Italien mit einer Gebietszuteilung in Ägäis und Anatolien, und Russland mit Gebietszuteilung in Armenien und Kurdistan erweitert.
Kurzer historischer Abriss zur Orientierung: Reza Khan, der spätere Shah Reza, hatte sich an die Macht des Vielvölkerstaates Persien gebracht, mit guten Plänen und Absichten, sein Land zu öffnen und zu modernisieren. Moderne Industrie sollte entstehen, die Mechanisierung sollte vorangetrieben werden, ein auf Automobile und die Eisenbahn ausgelegtes Transportwegesystem ausgebaut werden. Dafür griff der Shah auf Know-How aus dem Deutschen Reich zurück. Das alles kostete Geld. Und das kam durch die Investitionen u.a. britischer und US-amerikanischer Industrieller ins Land. Der fast naive Glaube, den Iran im Zweiten Weltkrieg zur neutralen Zone zu erklären, führte dazu, dass Großbritannien und Russland 1941 im Schulterschluss das Land besetzten. Reza dankte ab, die Besatzungsmächte setzten seinen Sohn Mohammad Reza Pahlewi an seine Stelle. Und der machte da weiter, wo sein Vater aufgehört hatte, nur diesmal im Würgegriff der Besatzungsmächte. Das Land änderte seinen Namen, 1935 wurde der Name „Persien“, der als Fremdbezeichnung verstanden wurde, durch die auf die Jahrtausende alte Kultur verweisende Bezeichnung „Iran“ ersetzt. Iran also hatte einen Shah und Iran hatte ein Parlament. 1941 kandidierte der bereits in den 1920er Jahren als Finanz- und Justizminister tätige Mohammad Mossadegh, Mitbegründer der Nationalen Front, für das Parlament und wird dessen Abgeordneter.
Mossadegh wird 1951 und 1952 zum Präsidenten gewählt. Im Interesse, die wirtschaftliche Freiheit des Iran wiederherzustellen und so die politische Selbstständigkeit des Landes zu rekonstruieren, verstaatlichte die Regierung Mossadegh die von der Anglo-Iranian Oil Company kontrollierten Ölfelder und die Produktion des begehrten Rohstoffes. Der Shah wurde mehr oder weniger ins Exil gezwungen. Aber Mossadegh hatte sich verrechnet. Er erhielt keine Unterstützung durch andere Staaten. Der Iran stand alleine da. Und seiner politischen Karriere wurde durch den bereits genannten anglo-amerikanischen Coup ein Ende gemacht. Der Shah Mohammad Reza wurde aus dem Exil zurückgeholt und als Spielfigur westlicher Interessen, allen voran US-amerikanischer Interessen, installiert. Etwas vereinfacht gesprochen: Die Briten wollten das Öl, die Amerikaner wollten den Kommunismus verhindern. Zur Klarstellung: Mossadegh war kein Kommunist, er war Nationalist. Ob er ein Demokrat war? Darüber lässt sich streiten, das Parlament entließ er und schuf sich weitere Feinde und bot dem reaktionären Klerus Gelegenheit, sich mit Parlament und Shah zu verbünden. Die Fortsetzung ist bekannt.
De Bellaigue zeichnet Mossadegh wie folgt: „Mossadegh war der erste liberale Anführer im modernen Mittleren Osten. Er war Rationalist, der Obskurismus verabscheute und an die Vormacht des Gesetzes glaubte. Sein Begriff von Freiheit war sowohl im Iran als auch in der gesamten Region außergewöhnlich. Der Westen hätte ihn wohl mehr schätzen können, wenn er sich weniger für den Frieden eingesetzt hätte. Er wollte einfach nicht hinter seine Forderung nach ökonomischer Unabhängigkeit von Großbritannien zurück. Er wollte einfach keine Kommunisten einsperren, um Washington zu Gefallen zu sein. („Patriot of Persia“, Übersetzung BB)
Damit war sein politisches Schicksal eigentlich schon besiegelt, bevor sein eigentlicher Kampf gegen die Imperialmächte begonnen hatte. Christopher de Bellaigue macht allerdings auch keinen Hehl daraus, dass sich der „Westen“ mit seinem Vorgehen einen Bärendienst erwiesen hatte, der zur sehr langfristigen Destabilisierung der gesamten Region weiter beitrug, bis heute und möglicherweise sind die Auswirkungen nur zu deutlich zu spüren.
Klarer kann man es nicht formulieren: „Das war der Start einer Politik seitens der USA, die zum Inhalt hatte, schäbige mittelöstliche Despoten zu unterstützen. Die erste Niederlage erlitt diese Politik als Ayatollah Khomeinis Revolutionär*innen den Shah 1979 vom Thron stürzten, die Niederlage setzte sich mit dem Arabischen Frühling 2011 fort. Die unerklärte Logik hinter dieser Politik: Die Leute im Mittleren Osten können nicht mit Unabhängigkeit und Freiheit betraut werden; pro-amerikanische starke Männer bieten die stärkste Hoffnung auf Stabilität. Saddam Hussein war ein solcher starker Mann. Ebenso Hosni Mubarak. / Die Galerie der Schurken ist lang und gut beleuchtet. („Patriot of Persia“, Übersetzung BB)
Mit „Patriot of Persia“ beschreibt Christopher de Bellaigue das ganze Ausmaß der Tragödie einer gesamten Region, es ist die Hybris des „Westens“, die auch die Hybris „des Nordens“ ist. Sie ist verbunden mit der bis heute andauernden Inkompetenz zu begreifen, dass der „Westen“ oder wenn man so will der „Norden“ unter einer zunehmend gefährlichen imperialen Kurzsichtigkeit leidet. Selbst die Klimakrise vermag offenbar kein Umdenken zu bewirken. Lieber verharren wir hinter immer höheren Mauern, als einmal in den Spiegel zu schauen.
„Die Islamische Aufklärung“ und „The Lion House“ – Zwischen Glauben und Vernunft
Mit seinen beiden 2017 und 2022 erschienenen Büchern verändert de Bellaigue seine Blickrichtung. „The Lion House“ legt er offenbar als Trilogie an, an deren zweitem Band er gerade arbeitet.
Beide Bücher, obwohl qua Sujet auf die Vergangenheit der Beziehungen der Regionen Europa/Nordamerika und „Orient“ ausgerichtet, zielen in der Essenz darauf, unsere diffus erscheinende und aus den Angeln gehobene Welt zu begreifen, um zukunftsfähigere Modelle für den respektvollen Umgang unterschiedlicher Kulturen miteinander zu entwickeln.
„Die Islamische Aufklärung“ oszilliert zwischen philosophisch-politischem Essay und scharfsinnigem Kommentar der laufenden Ereignisse. An einigen Stellen wird de Bellaigues – berechtigte – Ungeduld mit der bornierten Selbstreferentialität des „Westens“ deutlich. Und von Anfang an ist klar, ein Perspektivwechsel ist dringend angesagt:
„Der Westen hat es traditionell abgelehnt, in auch nur irgendeinem Aspekt muslimischer Kultur und muslimischen Lebens die Möglichkeit, eigentlich die Notwendigkeit zur eigenen Regeneration und Modernität zu sehen. Diesen schwarzen Flecken gibt es seit Jahrhunderten, aber in der letzten Zeit ist er größer und dunkler geworden. Er bringt uns davon ab, die Vergangenheit zu verstehen und ermutigt uns stattdessen auf Tangenten loszulaufen, uns in Sackgassen zu verrennen und die Ansprüche von Demagogen und Populisten zu bestärken. Dieser schwarze Fleck ist ein Hindernis für eine ausgewogene und zusammenhängende Sicht auf Weltgeschichte.“ („The Islamic Englightenment“, Übersetzung BB)
„Dem Islam“ – immer mit bestimmtem Artikel adressiert – zu einer sozialen und intellektuellen Reform analog zur westlichen Aufklärung zu raten oder zu verlangen, er möge sich einer Renaissance unterziehen, seine Stellung in der modernen Welt bitte bedenken und vor allem an Humor zulegen, bringt überhaupt nicht weiter, so de Bellaigue.
Stattdessen – so de Bellaigue – sollte sich der Westen seiner Vorurteile bewusst werden.
Natürlich sei „der Islam“ offen gewesen für die Errungenschaften und Erkenntnisse, die die Gesellschaften im „Westen“ in den letzten beiden Jahrhunderten verändert und geprägt haben. Mit Napoleons Einzug in Ägypten Ende des 18. Jahrhunderts hätte „der Islam“, hätten sich Aufklärer in Ägypten, der Türkei und Persien/Iran auf unterschiedlichste Weise mit den Errungenschaften westlicher Modernität in jeweils eigenem Tempo und Rahmen auseinandergesetzt und vieles umgesetzt, vom in der westlichen Aufklärung verankerten Rechtsverständnis, über das Konzept der Gewaltenteilung innerhalb von Staatssystemen, die Idee der Nation, der Gleichberechtigung der Geschlechter, Schule und Bildungsideale, Industrialisierung und Mechanisierung, Digitalisierung möchte man hinzufügen.
Die genannten Errungenschaften der europäischen Aufklärung sind längst im Islam angekommen, so de Bellaigue. Mit der Implementierung mag es gehapert haben, denn natürlich gab Widerstände und Ablehnung, wie im Übrigen auch in unseren Gefilden im 19. Jahrhundert in den eher konservativen christlichen oder jüdischen Gesellschaften. Es ist allerdings ein bösartiges Narrativ, das „dem Islam“ an sich eine absichtliche Blockierung von demokratischen Reformen unterstellt.
Um seine These zu untermauern, verweist de Bellaigue beispielsweise auf den Ägypter Rifa’a al-Tahtawi, der 1826 eine Bildungsreise nach Frankreich unternahm. In seinem Reisetagebuch beschreibt er seine Faszination darüber, wie anders das Leben in Frankreich ist: statt Teppiche benutzen Franzosen und Französinnen Stühle zum Sitzen, Frauen bewegten sich ungezwungen in ungewohnter Kleidung. Aber es blieb nicht bei der Faszination über Äußerlichkeiten.
Ende des 19. Jahrhunderts war es besonders eine Elite aus Angehörigen der freien Berufe, die etwa in Kairo darüber nachdachte, wie Eckpfeiler der Aufklärung, Pluralismus, Freiheit, individuelle Rechte, ein der religiösen Gleichheit und der Gewaltenteilung verpflichteter Staat, eingeführt werden könnten. Zur Verbreitung der neuen Ideen trugen Druckerpressen und die stetige Verbreitung unterschiedlicher Zeitungen und Literatur, beispielsweise Übersetzungen europäischer Denker, Dichter und Erfinder bei. Aufsätze, wissenschaftliche Vorträge, Bücher wurden fast zeitgleich mit ihrer Veröffentlichung in Europa in Kairo, Istanbul und Teheran veröffentlicht. Ganz zu schweigen davon, dass es natürlich einen regen Austausch der Gelehrten in Kairo, Teheran und Istanbul miteinander und untereinander und entsprechende Einflüsse in den jeweiligen Metropolen gab.
De Bellaigue beschreibt das Wirken des ägyptischen Religionsgelehrten Muhammad Abduh, der bis heute als einer der bedeutendsten Reformer der arabischen Welt gilt, und dessen Ziel es war, den Islam mit der Moderne zu versöhnen, den Glauben und die menschliche Vernunft nicht als Gegenpart, sondern als Ergänzung zu begreifen. Das führte Abduh zu einem neuen Verständnis des Koran als Text, der nicht ewig, sondern offen für Exegese sein sollte.
Widerstand regte sich vor allem bei konservativen Religionsgelehrten. Und die Machenschaften des Kolonialismus spielten den Gegenreformern in die Hände, sodass sich radikale Islamisten als antiimperialistische Kämpfer inszenieren konnten und damit auch in europäischen Kreisen Unterstützung fanden. Denn: innerhalb der eigenen vier Wände predigte Europa Demokratie und Freiheit, strafte aber seine eigenen Ideale Lügen, indem es die arabische Welt in politischer und ökonomischer Knechtschaft knebelte.
Die vormals attraktiven Errungenschaften westlicher Gesellschaften wurden so Symbole der Unterdrückung. Die islamischen Regierungen und ihre Gesellschaften in Kairo, Teheran und Istanbul gerieten in den Strudel dessen, was de Bellaigue „muslimische Identitätskrise“ nennt. Und wieder liegt der Kernschmelzpunkt in den mehrfach geschilderten Ereignissen des Ersten Weltkrieges und den folgenden Aktionen der Siegermächte. Kernschmelzpunkt, Wasserscheide, Zeitenwende, man mag es nennen, wie man will: bis dahin hatte sich die Region in Richtung Moderne bewegt, liberale säkulare Werte übernommen. Und dann: Schockstarre angesichts der Unglaubwürdigkeit des „Westens“, der sich nicht an seinen eigenen Werten messen lassen konnte. Statt soziale Gleichheit und Menschenwürde erlebte die Region skrupellose koloniale Ausbeutung.
Widerstand gegen aufklärerische und demokratische Importe aus dem Westen war die Folge. Widerstand in der Bevölkerung, die die Auswirkungen der Ausbeutung schnell merkte, Widerstand bei den religiösen Führern, deren Verachtung der „westlichen Werte“ sich in Engagement für die Rückkehr zum „echten und wahren“ Islam kristallisiert. Hier liegt, so de Bellaigue, der Nährboden für einen politischen Islam, den Islamismus, der als antiimperialistische, auch antikommunistische Reaktion und auf die Zerstückelung der Region als Beute der Kolonialmächte entstand.
Zugespitzt: der Islamismus ist der Bumerang der islamischen Aufklärung.
Das Buch ist weder vom Umfang noch vom Inhalt her ein Leichtgewicht. Vieles kommt der Leserin bekannt vor, de Bellaigue hat all diese Themen in seinen früheren Büchern bereits gestreift. Aber auch hier schreibt er packend, mit Verve und Engagement – und, bei allem Zorn auf „den Westen“ durchaus nicht griesgrämig.
Wem nach dieser Lektüre nach Entspannung ist, wer aber noch mehr vom selben Autor und/oder diesem Themengebiet lesen möchte, lese „The Lion House“. Zweifelsohne das literarischste Werk de Bellaigues. Es ist die Geschichte von Süleyman dem Prächtigen, der sein Reich zwischen den Großmächten Spanien, Frankreich, dem sich unter Karl V. langsam formierenden Habsburger Reich, den Ansprüchen Persiens zu festigen und auszudehnen suchte und dabei auf die Unterstützung seines Großwesirs Ibraham, dem Franken, und dem reichen Diplomaten Alvise Gritti, unehelicher Sohn des Dogen von Venedig, angewiesen ist. Alles toll recherchiert. Beim Lesen beschleicht eine der Gedanke: plus que ça change, plus c’est la même chose – es geht immer um Macht, Geld, Habgier und die Kunst, nicht aus der Gunst zu fallen und dabei am besten den eigenen Kopf zu behalten. Nein, das ist jetzt despektierlich und unfair. De Bellaigues Buch ist beste britische Kunst, Geschichte und politische Entwicklung anschaulich und spannend darzustellen. Und die Vorfreude auf den zweiten Band ist eindeutig da.
Ein letzter Hinweis sei gestattet: Christopher de Bellaigue widmet sich mit dem gleichen Engagement wie bei all seinen hier beschrieenen Projekten dem Thema der Nachhaltigkeit. Hierzu seien sein Buch „Flying Green“ (angekündigt für 2023) und sein Text „The end of Tourism“ im Guardian den Freund*innen des Demokratischen Salons an Herz gelegt.
Zum Weiterlesen:
Die folgenden Empfehlungen zum Weiterlesen vertiefen, ergänzen und bestätigen manche Sichtweisen und Analysen Christopher de Bellaigues:
- Die Islamwissenschaftlerin Katajun Amirpur veröffentlichte 2018 ihr Buch „Reformislam“ (das Buch erschien in München bei C.H. Beck). Eine der Hauptfiguren ist der von Christopher de Bellaigue in „Die islamische Aufklärung“ genannte Muhammed Abduh. 2023 erscheint von Katajun Amirpur das Buch „Iran ohne Islam“, in dem die Widersprüche, Interaktionen und Konflikte zwischen liberalen Reformer*innen und der islamistischen Nomenklatura beschrieben wird, der es allerdings inzwischen auch nicht entgegen allen Behauptungen nicht mehr um den Islam geht, sondern um Machterhalt.
- Thomas Bauer hat sich intensiv mit der Frage befasst, ob die europäischen Epochen auf die islamischen Länder des Nahen und Mittleren Osten übertragbar sind. Sie sind es nicht. Lesenswert ist sein Buch „Warum es kein islamisches Mittelalter gab – Das Erbe der Antike und der Orient“ (München, C.H. Beck, 2018). Es ist ebenso absurd, von einem „islamischen Mittelalter“ zu sprechen wie es absurd ist, Karl den Großen als einen Kaiser aus der Zeit der chinesischen Tang-Dynastie zu bezeichnen. In „Die Kultur der Ambiguität – Eine andere Geschichte des Islams“ (Berlin, Verlag der Weltreligionen, 2011) beschreibt Thomas Bauer die Geschichte eines Islam, der „Ambiguitätstoleranz“ in Zeiten pflegte, als dies in europäischen Debatten noch ein Fremdwort war.
- Im Demokratischen Salon gibt es weitere Texte, in denen der Iran beziehungsweise die Geschichte und das Schicksal muslimisch geprägter Länder im Kontext des europäischen Blicks eine wichtige Rolle spielt. Beate Blatz schrieb ein Portrait über den in Frankreich lebenden libanesischen Autor Amin Maalouf, sie rezensierte das kürzlich erschienene Buch „Iran – Die Freiheit ist weiblich“ von Golineh Atai. Norbert Reichel stellte die Doktorarbeit von Lena F. Schraml vor (2022 im Berliner Verlag Frank & Timme erschienen), die u.a. die Präsenz des Kriegs zwischen dem Ira und dem Irak in der persisch-sprachigen Literatur analysierte. Die politischen Debatten um die aktuellen Rebellionen im Iran gegen die theokratische Diktatur beschrieb Norbert Reichel im Kontext des Dreiecks Iran, Israel und Deutschland vor. Eine Grundlage des Essays „Eine feministische Revolution“ ist das 2017 erschienene Buch „Iran – Israel – Deutschland“, das Stefan Grigat herausgegeben hatte (Leipzig, Hentrich & Hentrich). In all diesen Texten gibt es weitere Verweise auf beachtenswerte Bücher, Essays, Artikel diverser Zeitschriften und Zeitungen sowie Filme, in denen Menschen aus dem Iran, gleichviel ob sie dort (noch) oder im Exil leben sich für Freiheit und Demokratie einsetzen, nicht zuletzt im Sinne des Mottos der Demokratiebewegung „Frau, Leben, Freiheit“.
Beate Blatz, Köln
(Anmerkungen: Erstveröffentlichung im Januar 2023, Titelbild „Beauty! (Botticelli Meets Calligraphy 2022)” by Corinna Heumann (copyright), Internetzugriffe zuletzt am 11. Januar 2023.)