Inklusiv, pluralistisch, demokratisch
Ein Gespräch mit Anastassia Pletoukhina über Jüdischsein heute
„Die demokratische Kultur kann aus den jüdischen Traditionen viele grundlegende Praktiken gewinnen. Möglicherweise würden viele jüngere (und ältere) Menschen ihre Wege in die Gemeinden (zurück) finden, wenn sie mehr Möglichkeit von Machloket, von politischer Partizipation, sähen. (….) Weil ich hier leben will, brauchen wir eine lebendigere und demokratischere Streitkultur innerhalb der jüdischen Gemeinschaft, zwischen verschiedenen Minderheitengruppen und in gesamtgesellschaftlichen Diskursen.“ (Hannah Peaceman, in: „Weil ich hier leben will…“ – Jüdische Stimmen zur Zukunft Deutschlands und Europas, Freiburg im Breisgau, Herder, 2018).
Machloket, Streit in der jüdischen Community, Streit in der demokratischen Gesellschaft, ein Lebenselixier, aber natürlich nicht immer einfach und manchmal auch einfach provokativ – wir brauchen mehr davon, damit wir einander zuhören, einander widersprechen, uns im Streit gegenseitig stärken, reicher machen und vielleicht auch neue Wege finden, an die wir noch gar nicht gedacht haben. Eine zentrale Rolle spielt dabei für junge Jüdinnen*Juden das Ernst Ludwig Ehrlich Studienwerk (ELES). Vorsitzende des ELES-Trägervereins ist Anastassia Pletoukhina, promovierte Sozialwissenschaftlerin, die im Jahr 2023 im Verlag Hentrich & Hentrich ihre Dissertation unter dem Titel „Doing Judaism“ veröffentlichte. In dieser Dissertation hat sie sich wissenschaftlich mit den Erwartungen und Perspektiven junger Jüdinnen*Juden in den jüdischen Gemeinden und Gemeinschaften außerhalb der Gemeinden sowie in der deutschen Mehrheits- beziehungsweise Dominanzgesellschaft befasst. Programmatisch sind auch Titel weiterer Sammelbände zum Thema: „Wir lassen uns nicht unterkriegen“ oder „Weil ich hier leben will“. Aufsehen erregte Max Czolleks Appell „Desintegriert euch!“
Anastassia Pletoukhina überlebte an Yom Kippur 5979, nach europäischer Zeitrechnung dem 9. Oktober 2019, den Mordanschlag auf die Synagoge in Halle. Beeindruckend ist ihr Schlusswort als Nebenklägerin vom 20. Dezember 2020, aus dem wir im folgenden Gespräch zitieren werden. Nora Pester, der Inhaberin des Verlags Henrich & Hentrich, danke ich für den Hinweis auf „Doing Judaism“ und die Vermittlung des Kontaktes zu Anastassia Pletoukhina, mit der ich im Juni 2023 mehrfach gesprochen habe.
Jüdischsein in Moskau
Norbert Reichel: Sie sind in Moskau geboren, mit der russischen Sprache aufgewachsen.
Anastassia Pletoukhina: Ich bin 1986 in Moskau geboren und mit meiner Familie im Alter von zwölf Jahren nach Deutschland gekommen. Ich wusste in der Moskauer Zeit auch nicht ganz genau, was meine religiöse Zugehörigkeit sein sollte. Es ist wichtig zu wissen, dass in meiner Familie nicht offen kommuniziert wurde, dass wir jüdisch sind. Ich kannte das Wort auch gar nicht so richtig. Ich meine, ich habe das Wort einmal im Alter von zehn Jahren gehört, aber ich weiß nicht mehr, in welchem Kontext.
Norbert Reichel: Stand es nicht im Pass?
Anastassia Pletoukhina: Bei mir nicht. Bei meinen Eltern stand das irgendwann auch drin, bei meinen Großeltern auf jeden Fall. Ich habe das nicht wahrgenommen, vieles auch erst im Nachhinein erfahren. Ich wusste nur, dass wir anders sind als viele andere Familien. Das lag auch daran, dass meine Großeltern sehr spannende Jobs hatten. Sie haben einige Zeit lang auf Kuba gearbeitet, wo meine Mutter zur Welt gekommen ist. Sie haben dort als Dolmetscher Spanisch-Englisch-Russisch für das Militär gearbeitet.
Wir hatten einiges Exotische im Haushalt. Die jüdische Tradition fiel da nicht so stark auf. Es war insgesamt etwas anders als bei den anderen. Auch in der Schule wurde das verbal nicht thematisiert. Im Nachhinein weiß ich oder vermute, welche Kinder jüdisch waren. Verbal haben wir das Wort „Jude“ nicht verwendet. Es gab auch keine Zuschreibungen. Es war eher subtil. Es war das neue Russland, und viele Familien haben versucht, es anders zu formulieren. Später entdeckte ich dann, warum manche Eltern unbedingt wollten, dass ich mit ihren Kindern befreundet sind und warum andere unbedingt nicht wollten, dass ich mit ihren Kindern befreundet war. Ich konnte das damals allerdings nicht richtig zuordnen.
Für den Hintergrund: als wir nach Deutschland eingewandert sind, war ich 12 Jahre alt, zwei Jahre vorher ist mein Urgroßvater gestorben. Für ihn wäre es undenkbar gewesen, nach Deutschland auszuwandern. Deutschland war für ihn definitiv ein Nazi-Land.
Ich habe das auf den Zweiten Weltkrieg bezogen, das Shoah-Narrativ war in der Familie nicht präsent.
Norbert Reichel: Aber das Narrativ des deutschen Vernichtungskrieges in Russland?
Anastassia Pletoukhina: Das war ein Thema. Meine Großeltern waren schon mehrfach in Deutschland, sie kamen auch mit sehr guten Eindrücken zurück. Sie hatten eine Freundin besucht, die nach Deutschland gegangen war, so wie das damals so war, mit einem Kissen und einem Topf, die ganze Familie auf einem Kreuzfahrtschiff in Rostock ausgestiegen und nie mehr zurückgekehrt. Das war 1990. Sie waren vor dem Antisemitismus geflüchtet. Diese Familie hat meine Großeltern bearbeitet: kommt doch auch nach Deutschland, helft, die jüdischen Gemeinden aufzubauen. Hier ist doch alles so schön. Es ist alles im Aufschwung, es ist ein anderes Deutschland. Sie haben irgendwann meine Großeltern überredet, dass sie im frühen Rentenalter sehr tatkräftig in den Gemeinden sein könnten und wirklich gebraucht würden. Dazu kam die sehr unsichere Lage in den 1990er Jahren in Russland. Es war kein sicheres Land. Es war das neue Russland, aber es war deshalb noch lange nicht nicht antisemitisch.
Norbert Reichel: Sie haben in Russland Antisemitismus erlebt?
Anastassia Pletoukhina: Meine Großeltern natürlich. Mein Großvater hatte die klassischen Erfahrungen, dass er nicht studieren durfte, was er wollte, durch Prüfungen gefallen war, obwohl er sie mit Bravour bestanden hatte, nur weil im Pass – und auch im Gesicht – stand, dass er jüdisch ist, und sofort als Jude gelesen wurde. Mit Ach und Krach und Hilfe von Menschen, die sich diesem Antisemitismus widersetzt haben, hat er dann doch noch einen Studienplatz bekommen. Auf der Arbeit wurde ihm aber ganz klar gesagt: hier ist karrieremäßig Schluss für dich, du bist der Beste, wir schätzen dich, es tut uns leid, du bist jüdisch. Das sind die Klassiker des Antisemitismus in Russland. Für meine Mutter war es schon etwas entspannter. Sie sagte, wir hätten keinen Antisemitismus erlebt, weil wir immer eine große Schnauze hatten.
Norbert Reichel: Das heißt nicht, dass man ihn nicht erlebt hat, sondern, dass man ihn kontern konnte.
Anastassia Pletoukhina: Genau das. Ich glaube, es ist immer dieser Mechanismus, wenn es nicht so schlimm ist, haben wir es nicht erlebt. Wir haben über die Jahre Strategien gelernt, damit umzugehen, sich dem nicht fügen, Resilienz aufgebaut. Das heißt nicht, dass es den Antisemitismus nicht gibt, aber er war schon anders, nicht so wie meinem Großvater, aber im Alltag präsent. Die Strategie meiner Mutter und die meines Vaters lief darauf hinaus, dass sie sich hauptsächlich mit jüdischen Freund*innen umgaben. Schon in der Schule. Dann waren sie so eine Gang. Es gab natürlich Lehrer*innen, die deshalb die Noten drückten, aber andere, die selbst jüdisch waren und das mit besseren Noten wieder ausglichen. Es wurde viel ausgehandelt, es war sehr spürbar, sehr klar, dass Jüdinnen*Juden anders behandelt werden. Sie haben einfach versucht, sich nicht unterkriegen zu lassen. Wenn ich sie ins Gesicht fragen würde, würden sie natürlich nein sagen, weil es anders war als bei meinen Groß- und Urgroßeltern. Meine Urgroßmutter ist in einer streng religiösen Familie aufgewachsen. Sie hat alle Traditionen sehr verdeckt weitergegeben. So ganz unvermittelt hat sie alle am Samstag eingeladen. Dann hatte sie besondere Gerichte.
Norbert Reichel: Sie sahen Shabbat-Kerzen, wussten aber nicht, dass es Shabbat-Kerzen sind?
Anastassia Pletoukhina: Im Grunde ja, aber bei den Kerzen bin ich mir gar nicht mehr so sicher, wie sie es gemacht hat. Aber sie hat jeden Samstag Tscholent gekocht, Eintopf, lange gekocht, oder Gefillte Fisch. Auch zu Pessach gab es immer Mazzot. Es wurden auch immer Geschichten erzählt, die meine Mutter geglaubt hat, ohne zu wissen, wie es eigentlich zuging. Mein Urgroßvater, der nach außen alles Jüdische immer abgewehrt hatte, das wäre überholt, wir wären doch das neue sowjetische Volk, vorwärts habe es zu gehen, das ist der Fortschritt, er ging immer in die geheime Mazze-Bäckerei und hat Mazzot gekauft. Das war alles verboten, under cover, wurde immer gemacht, aber um das auszugleichen, wurde ein Trara veranstaltet, dass es niemandem auffiel. Meine Großmutter hat zu Pessach für die Nachbarn diesen Osterkuchen gemacht, damit nur niemand wusste, dass wir Pessach feiern. Alles under cover.
All das habe ich eigentlich erst erfahren, als wir nach Deutschland kamen und ich nachgefragt und recherchiert habe. Ich habe sehr viel mit meinem Großvater über seine Kindheitserinnerungen gesprochen, seine Erinnerungen als Jugendliche. Vieles hat er erst einmal abgetan, aber als ich nachhakte, war es dann doch kein Zufall. Bei meiner Mutter war es genauso. Das haben wir nur über ständiges Nachfragen herausbekommen, es war eine Sache, die in der Familie blieb. Wir verstanden, dass meine Großeltern einen Samen gesät hatten, dass irgendwann, wenn die Zeiten es zulassen, diese Jüdischkeit geweckt wird. Als wir nach Deutschland gekommen sind, haben wir alle diese Aufgabe, diese Mission zum Wiederaufbau der jüdischen Gemeinden sehr ernst genommen.
Ankunft in Lübeck
Norbert Reichel: War Rostock auch Ihre erste Station in Deutschland?
Anastassia Pletoukhina: Nein, Lübeck. In Rostock wohnte die Freundin meiner Großeltern.
Norbert Reichel: Rostock wäre für mich ein Stichwort, Sie zu fragen, ob Sie Rabbi William Wolff sel.A., der damals dort Landesrabbiner war, kennengelernt haben. Er war ein wunderbarer Mann. Ich liebe diesen wunderbaren Film von Britta Wauer.
Anastassia Pletoukhina: Ich habe ihn kennengelernt, aber nicht als Landesrabbiner. Er hat so viel für uns alle hinterlassen.
Wir sind in Lübeck sofort in die Gemeinde gegangen. Ich war sehr glücklich, denn jetzt gab alles einen Sinn. Jüdischsein war für mich vorher nicht so präsent und ich dachte, wenn wir nicht christlich sind, dann sind wir Atheisten, Religion spielt keine Rolle, aber irgendwie doch. Das war alles sehr verwirrend für mich. In Deutschland war ich überrascht und auch abenteuerlustig, auch wegen des Narrativs, die Deutschen wären alle Nazis und dann erfuhr ich, was die Shoah war, da dachte ich erst recht, warum fahren wir dahin? Später kam die Erklärung, dass wir kommen, um die jüdischen Gemeinden aufzubauen. Mit zwölf Jahren ist das alles ja ganz aufregend.
Norbert Reichel: Wie sind Sie mit der Sprache zurechtgekommen?
Anastassia Pletoukhina: Meine Großeltern haben miteinander – so als Geheimsprache – Spanisch gesprochen. Meine Großmutter hat auch viel auf Englisch gearbeitet. Seit der ersten Klasse hatte ich Englisch in der Schule, bin daher nach Deutschland mit guten Englisch-Kenntnissen gekommen. Das war so eine Wahrnehmung, wenn das Kind so jung so gut Englisch kann, kann es ja nicht blöd sein. Ich bin dann schnell aufs Gymnasium gekommen, das ist ja auch nicht so einfach. Jiddisch sprach in der Familie niemand, das konnte niemand. In Moskau war es eh erst einmal wichtig, dass man als Jude*Jüdin seinen Hintergrund zurückließ und dem sowjetischen Volk angehörte. Jiddisch gab es allenfalls als Floskeln, aber sonst sehr wenig in der Familie.
Norbert Reichel: Wie ging es dann weiter?
Anastassia Pletoukhina: Während der Schulzeit gab es viel Gemeindeleben. Natürlich auch die Integration in die Dominanzgesellschaft, auch die sprachliche Integration. Immer aber einhergehend mit der jüdischen Tradition. Ich habe sehr früh angefangen Koscher-Style zu essen, mal dies nicht, mal jenes nicht, ein bisschen mehr Schabbat, ein bisschen mehr Tradition. Dann kam raus, alles schön und gut, aber meine Mutter ist halachisch nicht jüdisch, ich daher auch nicht. Meine Möglichkeiten waren begrenzt, es sei denn, ich mache den Übertritt. Das wollte ich auch sofort machen, aber es gab keine Struktur dafür. Das hat dann sehr lange gedauert, bis es für eine Jugendliche möglich war, den Status als Jüdin zu erhalten. Auch wenn es sich eben vielleicht nicht so angehört hatte, ich bin mit jüdischen Werten aufgewachsen. In Deutschland habe ich sehr schnell verstanden, dass wir keine atheistische, sondern eine jüdische Familie sind, mit vielen Traditionen, mit der Weltanschauung aus dem Judentum. Meine Familie war eben nicht exotisch und komisch, es gab eine Menge solcher Familien in der Sowjetunion, und die waren eben alle Jüdinnen*Juden.
Norbert Reichel: Eine größere Community in Lübeck?
Anastassia Pletoukhina: Als wir in Lübeck ankamen, hatte die Gemeinde etwa 1.000 Mitglieder plus Angehörige, die so wie ich entweder halachisch nicht jüdisch, Vaterjüdinnen*juden waren oder Angehörige.
Norbert Reichel: In welchem Alter sind Sie dann übergetreten?
Anastassia Pletoukhina: Das war vor fünf Jahren, 2018. Aber ich bin ja eigentlich nicht übergetreten, ich war eigentlich immer schon jüdisch. Wenn ich das auf Deutsch formuliere, nenne ich das Statusanerkennung.
Willkommen in der jüdischen Welt
Norbert Reichel: Der Begriff der „Statusanerkennung“ zeigt, dass das auch eine Menge Bürokratie ist.
Anastassia Pletoukhina: Das ist es ja eigentlich. Nicht so einfach. Ich bin sehr froh, dass es in Deutschland jetzt ein anderes Verständnis gibt, dass es jetzt auch Strukturen gibt.
Norbert Reichel: Das ist ja keine einfache Debatte. Wenn ich an die Debatte denke, die Maxim Biller über das Jüdischsein von Max Czollek losgetreten hat.
Anastasia Pletoukhina: Das zeigt, dass es häufig um Macht geht. Wer darf für Jüdinnen*Juden sprechen? Wie, warum? Es gibt so einen Drang nach Aberkennung von Mitspracherecht. Das ist mit den Voraussetzungen der jüdischen Gemeinden in Deutschland schwierig. Ich sagte ja, viele von uns sind nach Deutschland mit der Mission gekommen, die jüdischen Gemeinden wieder aufzubauen, wurden dann aber zurechtgewiesen: ihr dürft das, ihr aber nicht. Eigentlich hatten alle etwas vor, aber selbst vor Ort ging es in den 1990er Jahren sehr scharf zu, auch das Verständnis, wie das Judentum gelebt werden sollte, war ein anderes als bei den Menschen, die aus der Sowjetunion kamen. Viele Biografien wurden nicht berücksichtigt. Aber es ändert sich. Das betrifft auch viele Aktive wie beispielsweise Max Czollek, der selbstbewusst sagt, das ist mein Narrativ, damit bin ich unterwegs, auch andere….
Norbert Reichel: … ich denke an Mirna Funk….
Anastassia Pletoukhina: Ja, ja, ja, ja! Aber sie hat jetzt auch eine Statusanerkennung gemacht. Jetzt ist ihre Position nicht so ganz klar, aber als sie die Statusanerkennung noch nicht hatte, hatte sie eine sehr selbstbewusste Stimme für die patrilinearen Jüdinnen*Juden, aber Positionen können sich auch ändern. Ich denke aber, dieses Selbstbewusstsein hat zugenommen, ist aber immer noch ein Riesen-Riesen-Problem, das viele Organisationen versuchen zu überwinden. Dazu gehört das Ernst-Ludwig-Ehrlich-Studienwerk (ELES), das versucht, allen zu vermitteln, ihr seid gut, so wie ihr seid, das ist wunderbar. Auch ausländische Organisationen wie die Jewish Agency for Israel, die seit etwa vier Jahren diese Plattform des Mitmachens überhaupt erst möglich macht. Die Jewish Agency war auch für mich wichtig, neben meiner jüdischen Gemeinde in Lübeck, die mich geliebt und geschätzt hat. Das war die erste Organisation, die zu mir gesagt hat, du kannst bei uns mitmachen, auch wenn du halachisch nicht jüdisch bist. Viele junge Jüdinnen*Juden erhielten so das Gefühl, dass sie in der halachischen Welt willkommen sind. Das hat doch sehr viel verändert. Aber nicht alle werden durch diese Organisationen erreicht.
Das Positive ist dabei, dass die Orthodoxe Rabbinerkonferenz sich auch weiterentwickelt hat. Es sind nicht mehr die ausländischen Rabbiner, die die Regeln setzen. Als wir nach Deutschland kamen, waren fast alle orthodoxen Rabbiner aus Israel und das ist ein ganz anderes Verständnis von Jüdischsein als das, das die Migrationswelle der 1990er Jahre hatte. Es ging sehr schroff und mit wenig Verständnis für einander vor sich. Jetzt sind die Rabbiner*innen, im orthodoxen und im liberalen Bereich, selbst oft Migrant*innen, die diese Narrative kennen, selbst vielleicht die Statusanerkennnung machen mussten oder Verwandte haben, die dies mussten, und jetzt ein Gefühl dafür haben, dass eine solche Statusanerkennung nicht langwierig und schwierig sein muss. Sie wissen, dass wir nicht am Ende eines Weges, sondern am Beginn sind, und dass dieser Weg möglichst unbürokratisch sein muss. Es gibt mehr Empathie. Das ist sehr sehr viel wert.
Selbstermächtigung und Allianzen
Norbert Reichel: Sie sind unabhängig von dem langen bürokratischen Prozess doch sehr etabliert und vertreten irgendwie eine ganze Generation von Jüdinnen*Juden, nicht nur als Vorsitzende des ELES-Trägervereins. Wie kam es dazu?
Anastassia Pletoukhina: Mein Weg hat in der Gemeinde angefangen, weil das Judentum und das Gemeindeleben nur funktionieren, wenn alle anpacken. Als ich 18 war, habe ich angefangen, an dem Programm der Jewish Agency teilzunehmen. Das war – ich kann es nicht oft genug sagen – in meinem Leben die erste Organisation, die sagte, es ist gut so wie du bist. Ich habe dann mein Abitur gemacht und mein Freiwilliges Soziales Jahr in der Jüdischen Gemeinde in Lübeck absolviert. Das war mein erster Schritt zur Professionalisierung in der jüdischen Gemeinschaft. Studiert habe ich Sozialpädagogik und Soziale Arbeit, mich nebenbei immer für das jüdische Leben engagiert, um solche Menschen wie mich abzuholen. Ich wollte Allianzen mit anderen jungen Erwachsenen schließen, um Strukturen, die für uns nicht geschaffen sind, zu reformieren, Wege finden, wo wir eigene Ideen umsetzen können, ohne dass wir ständig an verschlossene Türen klopfen müssen. Das war zu diesem Zeitpunkt über die Jewish Agency möglich.
Ich komme aus dem Norden und da hat man oft das Gefühl, man wäre so allein, das eigentliche Leben liefe woanders. Ich habe dann angefangen, in der Gemeinde das Jugendzentrum zu leiten, nicht für Kinder, sondern für Abiturient*innen und junge Studierende, so zwischen 16 und 25, etwa 50 Leute. 70 Prozent waren patrilinear jüdisch. Die meisten hatten in ihren Herkunftsorten, St. Petersburg, Dnipro. Saporischschja, you name it, auf jüdischen Schulen. Sie hatten viel Wissen, wurden aber von den offiziellen Strukturen nicht als Jüdinnen*Juden anerkannt. Wir haben stark an der Vernetzung mit anderen Organisationen, mit Gemeinden gearbeitet, uns gegenseitig besucht. Wir hatten das Gefühl, das ist nicht nur in unserer Gemeinde ein Anliegen, sondern das ist eine Gemeinschaft, die darüber hinaus geht.
Vieles entsteht durch die Zentrale Wohlfahrtsstelle (ZWST), durch die Machanot, die Feriencamps. Voraussetzung für die Teilnahme ist die Gemeindezugehörigkeit. Diese war für viele in der Gruppe leider nicht gegeben, weil sie halachisch nicht jüdisch waren. Wir haben es dann selbst gemacht. Wir haben gesehen, da du bist ausgeschlossen, aber du kannst viel selbst machen, wenn du Power investierst, wie das heute so heißt, out-of-the-box denkst. Wenn du Allianzen mit Gleichaltrigen schließt, kannst du viel Selbstermächtigung daraus schließen. Das haben wir irgendwie intuitiv gemacht. Und ich habe verstanden, das kann noch ausgebaut und ausgebaut und ausgebaut werden.
Ich bin 2011 wegen des Studiums nach Berlin gezogen, habe meinen Master angefangen. Das war der Punkt, als ich mich für das Ernst-Ludwig-Ehrlich-Studienwerk beworben habe. Nicht sofort, denn in der Ausschreibung stand als Voraussetzung „Zugehörigkeit zu einer jüdischen Gemeinschaft“. Und das Wort „Gemeinschaft“ hieß für mich „Zugehörigkeit zu einer Gemeinde“ und „Mitgliedschaft“. Deswegen habe ich mich nicht getraut, mich schon während der Vorbereitung auf den Bachelor zu bewerben.
Norbert Reichel: Aber Gemeinde und Gemeinschaft sind nicht dasselbe.
Anastassia Pletoukhina: Das war 2011! Das Verständnis war noch nicht so etabliert. Das Wort „Gemeinschaft“ war in diesem Kontext noch nicht so richtig ein Begriff. Es war in der Wahrnehmung ein anderes Wort für „Gemeinde“. Doch dann – einfach so Chuzpe – habe ich gesagt, ich bewerbe mich. Schlimmer als Nein-Sagen können sie nicht. Ich habe mich beworben, ich wurde zur Vorstellung nach Berlin eingeladen. Da hatte ich zuerst immer noch meine schlechte Laune, ja jetzt werden sie dir sagen, es geht nicht. Und sie haben gesagt, solche Menschen wie dich wollen wir, brauchen wir.
Mein damaliger Freund, mein jetziger Mann, wir sind nach Berlin gezogen. Ich habe eine wunderbare Erfahrung gemacht mit dem pluralistischen Studienwerk, mit anderen Menschen, mit ganz ganz anderen Themen, nicht nur meinen, das war die Generation von ELES-Stipendiat*innen wie Max Czollek, Hannah Peaceman, mit ganz vielen, alle so in meinem Alter, etwas drüber, etwas drunter, die einen sehr besonderen Bezug zur jüdischen Gemeinschaft hatten. Da habe ich angefangen zu verstehen, was es alles für Schichten gab.
In Berlin habe ich festgestellt, dass es außer ELES nichts für Studierende gab. Da habe ich mit anderen ELES-Stipendiat*innen Studentim gegründet, eine Studierenden-Initiative, die nach ganz anderen Regeln als alle anderen Organisationen geschaffen war. Uns war wichtig, dass wir nicht gemeindeabhängig waren, kooperieren, aber nicht abhängen. Die Satzung haben wir an die Werte von ELES und der Jewish Agency angelehnt, auch die Formulierung, wen wir als jüdisch sehen – wie soll ich sagen – absichtlich offengelassen, eher inklusiv gedacht.
Norbert Reichel: Eine liberale Gemeinschaft?
Anastassia Pletoukhina: Neeee, pluralistisch, inklusiv und demokratisch. Nicht liberal, denn „liberal“ ist auch eine religiöse Zuschreibung. Es ging darum, dass alle partizipieren können, dass sich niemand outen muss. Man kommt, weil man studiert, weil man jüdisch ist, weil man sich für die Themen interessiert, aber niemand schaut dir unter den Rock (gemeint ist, ob man Zizit trägt, NR). Du kannst orthodox sein, die Kaschrut einhalten, du kannst einfach kommen, dich entspannen, du kannst auch vegan sein – Essen ist ja bei uns sehr wichtig, auch gerade bei den Studis. Es war immer wichtig, gutes Essen zu organisieren, bei Studierenden, die wenig Geld haben, noch wichtiger. Solche Sachen waren uns in dem Sinne wichtig, damit ist nach der Maslow-Pyramide für die Basics gesorgt, dann können wir diskutieren, was wir wollen.
Es war auch zu der Zeit, als es auf den Straßen in Berlin sehr antisemitisch zuging, mit BDS und den Demonstrationen 2014. Das war schlimm und gefährlich und hat viele verunsichert. Es ging darum, einen sicheren Ort zu suchen. Wir haben gesagt, wir sind nicht politisch. Es ist nur nötig, dass alle den Staat Israel anerkennen, wir können sonst über alles diskutieren, rechts, links, wie wichtig uns Israel sein sollte. Es gab ein paar Sachen, in denen sich der Verein positionierte, aber immer mit dem inklusiven Gedanken, dass alle daran teilnehmen könnten.
Es wurde auch dann spannend, als es um die AfD ging. Manche junge Erwachsene waren zu Beginn gar nicht so abgeneigt.
Norbert Reichel: Die AfD agierte geschickt. Sie setzte sich für Israel ein, versteckte ihren Antisemitismus, indem sie Antisemitismus von Muslim*innen anprangerte. Eigentlich ging es ihr darum, Muslim*innen zu verteufeln.
Anastassia Pletoukhina: Nach 2014, gerade in Berlin, wo diese Demonstrationen stattfanden, war es heikel, sich zu Muslim*innen zu positionieren. Das war für den Verein schwierig. Ganz zu Beginn, nicht in der fortgeschrittenen Zeit der AfD, sondern damals, als sie die Bühne betrat. Das musste diskutiert werden. Es ging darum, auch im Sinne von Inklusion, nicht sofort den Mund zu verbieten, sondern zu diskutieren und auszuhandeln. Das ist immer noch ein großes Thema. Die Sprache wird immer gewaltvoller, es gibt wenig Raum für Diskussion. Wir sind nicht liberal, sondern pluralistisch inklusiv.
Das war für mich der Sprung in Berlin zu vielen Netzwerken. In meiner Masterarbeit habe ich mich mit Netzwerken der jungen Erwachsenenarbeit befasst, weil ich, die ich aus dem Norden kam, meinte, dass wir uns mehr vernetzten müssten, gerade die jungen. Wir hatten nach den Machanot, den Sommerferien, wenig Möglichkeiten uns zu vernetzen. Die Jewish Agency hat dafür ein eigenes Projekt eingerichtet, jetzt ein Programm: NEVATIM, Projekte von jungen Erwachsenen. Wir haben uns mit der Studierendeninitiative beworben.
Dann habe ich mich auch wissenschaftlich gefragt, ob das mit den vielen neu entstandenen Organisationen eine neue Entwicklung ist. Mit der Master-Arbeit habe ich an der Oberfläche gekratzt, es in der Doktorarbeit vertieft.
Doing Judaism
Norbert Reichel: Die Doktorarbeit hat Hentrich & Hentrich 2023 unter dem Titel „Doing Judaism – Neue Formationsprozesse der Jüdischen Gemeinschaft in Deutschland“ veröffentlicht. Den Titel haben sie an dem Begriff „Doing Gender“ orientiert.
Anastassia Pletoukhina: Ich war davon überzeugt, dass es viele junge Jüdinnen*Juden gibt, die ganz viel bewegt und auch andere Strukturen geschaffen haben, die jetzt immer mehr Anerkennung erhalten. Als ich mich auf die Forschungsreise begeben habe, dachte ich, vielleicht wird es auch nur eine Eintagesfliege. Auch gut, dann ist wenigstens diese kurze Zeitspanne festgehalten. Es gibt viele Studien zur jüdischen Identität, aber nur wenig zu jüdischen Organisationen und Strukturen nach 1945 außerhalb der Gemeinden. Dann hatte ich natürlich den Wunsch, dass etwas Solides entsteht, das die Aufmerksamkeit der Strukturen und Organisationen auf dieses Thema längt. Ich denke, beides ist gelungen. Die Erkenntnisse basieren auf biografisch-narrativen Interviews der Aktiven.
Norbert Reichel: Das ist sehr gut gelungen. Was wären Ihre Kernthesen?
Anastassia Pletoukhina: Kernthese ist, dass es für unsere jüdische Gemeinschaft wichtig ist zu überleben. Fußnote: das ist auf andere Gemeinschaften übertragbar, weil es zum Zeitgeist gehört. Es ist wichtig, dass junge Erwachsene handlungsfähig bleiben und dafür Räume bekommen, physische Räume, Zugang zu Gemeindeinstitutionen, zu Ressourcen, dass sie nicht nur voneinander und lokal gesehen werden, sondern dass auch auf institutioneller und struktureller Ebene das Verständnis, die Einsicht entsteht, dass nur sie diese Dinge tun können. Es geht nicht mehr nur darum zu hören, das ist eine gute Idee, machen wir, kopieren wir. Das geht nicht mehr. Es reicht nicht, eine Idee zu haben, das brauchen die jungen Leute, machen wir mal für sie. Das funktioniert nicht mehr. Da fehlt das Verständnis für das Authentische, du musst das Problem spüren.
Gerade die jungen Leute, die ich erforscht habe und die die Community bilden, haben eine postmigrantische Biografie, sind über Eltern und Großeltern nach Deutschland gekommen, mit Großeltern, die sehr handlungsorientiert waren, sich proaktiv für Deutschland entschieden haben, einen großen Vertrauensvorschuss gegeben und sich in den Gemeinden engagiert haben. Den jungen Erwachsenen, die erfahren haben, dass hier in Deutschland und von Deutschland aus Jüdinnen*Juden ermordet wurden und die jetzt das Gefühl haben, dass sie das jüdische Leben wieder aufbauen sollen, diesen jungen Menschen muss selbstbestimmter Raum überlassen werden. Das ist eine der Hauptthesen, nicht paternalistisch, sondern mit viel Vertrauen, mit viel Respekt. Viele der jungen Erwachsenen haben eine gute Ausbildung, gute Vernetzungen und wissen auch von anderen Gemeindestrukturen weltweit, weil sie im Studium und auch danach die Welt gesehen haben und Inspiration bekommen haben, was für Deutschland gut wäre.
Und das ist wichtig: für viele junge Jüdinnen*Juden ist es tagtäglich eine Entscheidung, in Deutschland zu bleiben, gerade angesichts des Antisemitismus.
Norbert Reichel: Eines der beiden Gespräche, die ich mit Michael Szentei-Heise, dem langjährigen Geschäftsführer der Jüdischen Gemeinde Düsseldorf, veröffentlicht habe, hat den Titel „Nächstes Jahr in Jerusalem?“ Er hatte damals in der Jüdischen Allgemeinen in einer Pro-und-Contra-Diskussion die Position vertreten, dass nach der nächsten (zum Interviewzeitpunkt nach der übernächsten) Bundestagswahl die AfD Teil einer Regierungskoalition würde. Dann wäre der Zeitpunkt gekommen, dass Jüdinnnen*Juden Deutschland verlassen müssten.
Anastassia Pletoukhina: Das ist nur eine der Gefahren, die wir tagtäglich spüren.
Die andere These meiner Arbeit lautet, dass das Judentum – und das geht über das Tikkun Olam hinaus – eine sehr handlungsorientierte Religion ist. Es geht fast gar nicht darum, ob man an Gott glaubt.
Norbert Reichel: Es gibt den schönen Satz, dass man Jude und gleichzeitig Atheist sein kann. Das geht in Christentum und Islam gar nicht.
Anastassia Pletoukhina: Das stimmt. Warum? Eigentlich ist klar, wir verinnerlichen, dass wir an Gott glauben. Aber tagtäglich geht es um die Handlungen. Das Judentum ist eine Gesetzesreligion und die meisten Gesetze regeln die Beziehungen zwischen den Menschen. Du musst aktiv zum Judentum beitragen, damit das funktioniert.
Norbert Reichel: Das sind die zentralen Mizwot.
Anastassia Pletoukhina: Deshalb sind wir als Jüdinnen*Juden, denen das bewusst ist, dass wir es sind, schon immer klar, dass sie das machen. Jetzt haben wir eine Generation von jungen Erwachsenen und bald jungen Erwachsenen, Menschen, die viele Ideen haben, die ein anderes Verständnis von Authentizität und der Bedeutung der Gemeinden haben, über Social Media ganz anders vernetzt sind. Gerade die Krisen zeigen, was zu tun ist, dass wir die Werte, die wir im Judentum vermittelt bekommen, auch anwenden können. Das ist das, was ich in dem Begriff „Doing Judaism“ gefasst habe. Das ist immer etwas Aktives, etwas, das wir tun müssen. Das sind die Hauptthesen meiner Arbeit.
Einschnitt Halle – Nach Halle
Norbert Reichel: Wir haben schon mehrfach die Gefahren angesprochen, die Jüdinnen*Juden bedrohen. Es war Yom Kippur 5979 in Halle (nach europäischer Zeitrechnung der 9. Oktober 2019). Sie waren an diesem Tag in der angegriffenen Synagoge zugegen. Ein Jahr später haben Sie dort das Festival of Resilience gemeinsam mit Rebecca Blady, die an dem Tag auch in der Synagoge war, gestaltet und moderiert. Das Festival findet seit 2019 jährlich statt.
Programmatisch ist der Titel des von JALTA 2023 herausgegebenen Buches: „Nachhalle“. Ich erlaube mir die Frage, wie einschneidend war und ist Halle? Wir haben nicht erst seit 2019 gewalttätigen bis mörderischen Antisemitismus in Deutschland, wir hatten schon 1959 die sogenannte „Schmierkampagne“, die Adenauer noch als „Flegeleien“ bezeichnete, auch den Angriff auf die Kölner Synagoge, den Adenauer dann nicht mehr unter „Flegeleien“ abbuchte, wir hatten die Morde an dem Ehepaar Frida Poeschke und Shlomo Levin durch ein Mitglied der Wehrsportgruppe Hoffmann, das Olympiaattentat mit all dem Versagen der deutschen Sicherheitskräfte und vieles mehr. Ronen Steinke hat all dies in seinem Buch „Terror gegen Juden“ (Berlin Verlag 2020) dokumentiert, es enthält eine etwa 100 Seiten lange Liste, die aber durchaus noch erweitert werden kann.
Anastassia Pletoukhina: Ich denke, es ist ein Einschnitt auf vielen Ebenen. Die Frage, warum dieses Attentat in Halle so hohe Wellen geschlagen hat, hat ihre Gründe, die auch mit dem Thema zu tun haben, über das wir heute sprechen. Ich versuche es kurz und prägnant zu formulieren. Warum waren wir überhaupt in Halle? Halle ist eine kleine Gemeinde, die wie viele andere davon spricht, wir sterben aus, aber wir geben das nicht so einfach auf.
Dazu muss ich eine Fußnote setzen: die Rede vom Aussterben von Gemeinden ist mit Vorsicht zu genießen. In bestimmten Orten schrumpfen die Gemeinden, aber dort sind sie auch nicht natürlich gewachsen. Es gibt viele Kontingentgeflüchtete aus den 1990er Jahren, die in diese Gemeinden hineingesetzt wurden, die auch an diesen Ort gebunden waren. In unseren Ausweisen stand eine Zeitlang, dass wir Lübeck nicht verlassen durften. Wir durften reisen, aber nicht woanders hin umziehen. Meinen Großvater hat das vielleicht nicht gestört, aber insgesamt durften wir unseren Aufenthaltsort ohne bestimmten Grund nicht frei wählen. So funktioniert das nach wie vor, das wissen wir ein wenig besser durch die syrischen Geflüchteten von 2015. Die Gemeinden sind künstlich geschaffen worden, wo es gerade passte, eine jüdische Gemeinde zu etablieren, weil die Räume da waren, oder weil die finanzielle Möglichkeit bestand, wie beispielsweise in Dresden.
Diese Fußnote ist wichtig. In Halle ist es ähnlich. Die Gemeinde weiß, dass viele junge Leute wegen ihrer Lebensumstände, aus beruflichen Gründen, auch wegen der Gründung einer Familie, wegziehen werden. Die Menschen, die in der Synagoge waren, sind ältere Menschen. Die Gemeindeführung hat sehr stark in die Nachwuchsgeneration investiert, mit dem Gedanken, das ist als Nachwuchs für die jüdische Community insgesamt wichtig, unabhängig vom Ort. So war es für die Gemeinde leichter, die Türen für etwa zwanzig junge Menschen von außerhalb zu öffnen, weil es ihr Wunsch ist, dass auch andere Gemeinden für ihre Kinder die Türen öffnen. Und dass junge Leute da sind, das ist gut. Wir hatten einen Freund, der dort vorbetet. Die Gemeinde in Halle ist ein langjähriger Kooperationspartner der Jewish Agency. Die Überwachungskamera, die uns daran hinderte, nach draußen zu laufen, war von der Jewish Agency eingerichtet worden. Über diese zwei Zugänge konnte die Verbindung mit Hillel Deutschland hergestellt werden, die Reise organisiert hat. Damals hieß sie noch etwas anders, eine international sehr aktive Gruppe mit einem großen Netzwerk redegewandter junger Leute. All das hat dem Ereignis eine ganz andere Reichweite gegeben, darüber zu erzählen, im Sinne der jüdischen Gemeinschaft, nicht im Sinne der Polizei oder der Gesamtgesellschaft, der Dominanzgesellschaft, von Rassist*innen. Die Gemeinde in Halle ist eine migrantische Gemeinde, die überwiegende Sprache ist Russisch. Wären die redegewandten jungen Leute nicht dabei gewesen, wäre das schwieriger gewesen. Die Migrant*innen werden oft überhört, haben oft auch nicht die Energie, sich gegen Widerstände zu Wort zu melden, vielleicht der Vorsitzende, aber auch der ist von vielem abhängig.
Die Sichtbarkeit von dem, was vorgefallen ist, wäre ohne all diese Voraussetzungen eine ganz andere gewesen. Dann wäre nicht Mike Pompeo aus den USA gekommen, denn es waren auch US-amerikanische Staatsbürger*innen in der Synagoge. Und es wäre nicht der heutige israelische Präsident, Jitzchak Herzog, damals Vorsitzender der Jewish Agency, gekommen. Es hätte im Laufe des folgenden Strafprozesses nicht die Wirksamkeit gehabt, die es hatte. Den Überlebenden, nicht nur den jungen Erwachsenen, ging es nicht nur darum, das jüdische Narrativ zu bestimmen, sondern auch zu zeigen, das geht nicht nur um uns, es ist die Kontinuität des rassistischen Terrors, der sich gegen uns als Migrant*innen richtet, er richtet sich auch gegen andere Migrant*innen und Minderheiten.
Norbert Reichel: Am 29. Mai 2023 hatten wir den 30. Jahrestag des mörderischen Brandanschlags in Solingen auf die Familie Genç. Der Katalog des Zentrums für verfolgte Künste thematisiert ausdrücklich die Zusammenhänge, auch Rostock-Lichtenhagen, Mölln und Hanau, nennt die Namen der Ermordeten. In meinem Newsletter Juni 2023 durfte ich die von Sandra del Pilar gemalten Bilder der fünf ermordeten jungen Frauen sowie das von Beata Stankiewicz geschaffene Bild von Mevlüde Genç zeigen.
Anastassia Pletoukhina: Wir sitzen alle im selben Boot. Die Allianzen sind nicht einfach und werden auch nicht einfacher. Das Verständnis davon, die Sichtbarkeit auch für andere Gruppen und Betroffene zu schaffen und sich nicht gegeneinander ausspielen zu lassen – wir sprachen über antimuslimischen Rassismus in der jüdischen Community – das betrifft uns alle und das macht es auch besonders. Auch der Prozess gegen den Attentäter.
Ich habe in meinem Plädoyer – meinem Schlusswort als Nebenklägerin – gesagt: „Bei dem Attentat hat es mich als Jüdin getroffen. Aber die vom Angeklagten repräsentierte Gesinnung trifft mich auch als Migrantin, als Frau und als Teil der deutschen Gesellschaft, die so vielfältig und divers ist, dass jede und jeder von uns irgendeiner Minderheit gehören kann, die unter Umständen für Benachteiligung markiert werden kann. Fragen wir dann alle Angehörige der Gesellschaft: ‚Wollt ihr nach dem Attentat in Deutschland blieben? Ich spreche für mich und sage: Ja, ich will hier in diesem Land bleiben. Ich stelle aber einige Bedingungen. Und sie lauten: Zuhören, Ernstnehmen, reflektieren, Fehler bekennen und im Sinne der Demokratie handeln. Doch in erster Linie den Menschen sehen und keine Angst vor dem Mitfühlen haben.“
Mehr Demokratie schaffen
Norbert Reichel: Im Schulunterricht, bei Gedenkfeiern werden Jüdinnen*Juden regelmäßig als Opfer präsentiert. Dagegen verwahren Sie sich mit Ihrem Handeln. Wie verhält sich Ihr Engagement zu dem Engagement der offiziellen Gremien, zum Zentralrat der Juden in Deutschland, den beiden Rabbinerkonferenzen, der Zentralen Wohlfahrtsstelle und den verschiedenen Landesverbänden der Gemeinden. Dort leiten in der Regel – mit wenigen Ausnahmen – ältere Herren, so in meinem Alter. Gibt es Dialog oder eher verhärtete Fronten?
Anastassia Pletoukhina: Ich denke, das hat viele Schichten. Es gibt noch Vertrauensmangel in den Gemeinden gegenüber den jungen Menschen, die nicht aus den Gemeinden selbst kommen, vor allem in den kleinen Gemeinden. Es gibt auch noch sehr korrupte Strukturen in den großen Gemeinden.
Norbert Reichel: Ein hartes Wort. Darf ich das so schreiben?
Anastassia Pletoukhina: Ja, ich glaube doch. Es gibt Korruptionsprobleme, Demokratieprobleme, die werden mal besser, mal schlechter bearbeitet. Das können Sie schreiben. Das ist auch Thema in meinem Buch. Meine Gesprächspartner*innen in „Doing Judaism“ sagten das auch, dass sie kein Interesse an Machtkämpfen haben, in denen nur persönliche Interessen im Vordergrund stehen.
Dialog oder verhärtete Fronten? Vieles ist in Bewegung, auch beim Zentralrat, über den Gemeindebarometer. Viele Jüdinnen*Juden haben gesagt, warum sie keine Gemeindemitglieder sind. Viele, die das sagten, sind jünger als 65. Das kann nicht mehr von der Hand gewiesen werden. Es ist eine sehr große Errungenschaft, dass diese Untersuchung gemacht und veröffentlicht wurde. Aufgrund der Untersuchung wurde eine eigene Abteilung „Gemeindecoaching“ gegründet, die das Thema bearbeiten soll. Wie können wir den Gemeinden tatkräftig helfen, den Alltag zu überwinden, Hürden abzubauen, sich zu öffnen, Neues auszuprobieren, sich weiterzuentwickeln? Das heißt auch, sich mehr den jungen Erwachsenen und ihren Ideen zu öffnen.
Norbert Reichel: Erste Wirkungen Ihres Engagements?
Anastassia Pletoukhina: Erste Wirkungen. Junge Erwachsene wollen sich engagieren. Zum Abschluss vielleicht: ich habe erwartet, dass in meiner Untersuchung ausländische Organisationen eine größere Rolle spielen, also weg von den Gemeinden, etwas Neues aufbauen. Das war aber nicht so. Eher war da der Wunsch nach Reform, nach Aufgeschlossenheit, dass man neue Konzepte einbringen kann, eine sehr zärtliche Liebe gegenüber dem Konzept, dass wir eine Gemeinde wollen, die inklusiv, pluralistisch und demokratisch ist, eben nicht parzelliert, auch im Sinne des Aushaltens von Differenzen. Das macht heute auch unsere Gesellschaft auf. Es gab den Wunsch, diese institutionellen Topdown-Strukturen zu reformieren, vielleicht auch die Finanzierungsflüsse der Regierung anders zu gestalten. Das geht an die gesamtgesellschaftlichen Strukturen. Es ist nicht Abwendung, sondern der Wunsch nach Reform, weil es viele Menschen gibt, die gute Ideen haben. Wie gesagt: inklusiv, pluralistisch, demokratisch.
Zum Weiterlesen:
Ausgewählte Texte und Podcasts von Anastassia Pletoukhina:
- Schlusswort im Halle-Prozess vom 18. Dezember 2020.
- „Wir sind als Überlebende sehr laut gewesen“: es handelt sich um mehrere Gespräche, die das Sara-Nussbaum-Zentrum für Jüdisches Leben als Podcasts veröffentlicht hat.
- „Unser Vertrauen ist gebrochen“ – Protokoll eines Gesprächs, das in ZEIT Campus veröffentlicht wurde.
- „Für mich ist der Prozess nicht abgeschlossen“ – ein Gespräch von Eugen El, veröffentlicht in Jüdische Allgemeine.
- Gespräch mit Valentin Lustet zur Fotoausstellung von Frédéric Brenner „Zerheilt“ im Jüdischen Museum Berlin.
- Doing Judaism – Neue Formationsprozesse der Jüdischen Gemeinschaft in Deutschland, Leipzig, Hentrich & Hentrich, 2023.
Weitere Bücher zum Thema:
- Dmitrij Belkin, Lara Hensch, Eva Lezzi (Hg.), Neues Judentum – altes Erinnern? Zeiträume des Gedenkens, Leipzig, Hentrich & Hentrich, 2017.
- Walter Homolka, Jonas Fegert, Jo Frank, Hg., „Weil ich hier leben will…“ – Jüdische Stimmen zur Zukunft Deutschlands und Europas, Freiburg im Breisgau, Herder, 2018.
- Max Czollek, Desintegriert euch! München, Carl Hanser 2018.
- Laura Cazès, Hg., Sicher sind wir nicht geblieben – Jüdischsein in Deutschland, Frankfurt am Main, S. Fischer, 2022.
- Monty Ott, Ruben Gerczikow, „Wir lassen uns nicht unterkriegen“ – Junge jüdische Politik in Deutschland, Leipzig, Hentrich & Hentrich, 2023.
- Andrea von Treuenfeld, Jüdisch jetzt! Gütersloher Verlagshaus, 2023.
- Lesenswert schließlich aus dem Neofelis-Verlag JALTA, das bis 2020 als Zeitschrift erschien und inzwischen als Buchreihe fortgesetzt wird. Herausgeber*innen sind Micha Brumlik, Marina Chenivsky, Max Czollek, Hannah Peaceman, Anna Shapiro, Lea Wohl von Haselberg.
- Im Jahr 2023 erschien in der Buchreihe JALTA der Band „Nachhalle“. Autor*innen sind Rebecca Blady, Marina Chernivsky / Friederike Lorenz-Sinai, Naomi Henkel-Gümbel / Rachel Spicker, Heike Kleffner, Darja Klingenberg, Frederek Musall, Hannah Peaceman, Massimo Perinelli, Linus Pook / Grischa Stanjek / Tuija Wigard, Ezra Waxman, Romina Wiegemann und das Bündnis „Solidarität mit den Betroffenen – Keine Bühne dem Täter“. Miriam Burzlaff und Anna Schapiro sorgten für künstlerische Beiträge.
(Anmerkungen: Erstveröffentlichung im Juli 2023, Internetzugriffe zuletzt am 20. Juni 2023. Auf dem Titelbild sehen wir die Synagoge von Görlitz, Foto: Hans Peter Schaefer.)