Irakischer Alltag – und Europa
Ein Gespräch mit Thomas von der Osten, Geschäftsführer von WADI
„Die Vorstellung, Deutschland könne sich als besondere Friedensmacht international profilieren, ist ebenso gescheitert wie die Idee, man müsse eine streng ‚menschenrechtsorientierte Außenpolitik‘ verfolgen. Aber sicher hatte dieser deutsche Sonderweg negative Folgen, wenn es etwa darum ging, Härte gegen das Assad-Regime zu zeigen. Despoten und Diktatoren weltweit können sich eigentlich ziemlich gut darauf verlassen, dass, wenn ein wirklicher Konflikt droht, Deutschland zu Mäßigung und Dialog aufruft. Und zahlt: Inzwischen ist die Bundesrepublik in all diesen Ländern der größte europäische Geber für humanitäre Hilfe. Das ist nicht schlecht, nur verbindet sie nie wirkliche Forderungen mit dieser Hilfe, zahlt sie inzwischen, so mein Eindruck, eher als eine Art Ablass, wie etwa in Syrien seit Jahren und nun wohl auch für Afghanistan. Solange zum Beispiel die total desolate Lage in Syrien nicht die Schlagzeilen dominiert und es dort irgendwie weitergeht, ohne dass Tausende von neuen Flüchtlingen Schwerpunkt Syrien, Irak, Afghanistan Schwerpunkt Syrien, Irak, Afghanistan kommen, ist man eigentlich zufrieden.“ (Thomas von der Osten-Sacken in einem Interview mit der WerteInitiative im Jahr 2022)
Ein vernichtendes Urteil für die deutsche Außenpolitik? Eigentlich wollen sie, die Deutschen, wollen wir uns offenbar lieber aus allem heraushalten und – so wie Candide in Voltaires Geschichte unseren Garten bestellen? Nachhaltig gedacht ist das nicht, denn die nächste Krise kommt bestimmt und manche Krisen sind Dauerkrisen. So sehen wir – eine moderne Variante des von Edward Saïd beschriebenen „Orientalismus“ – den Nahen und Mittleren Osten, denn gerade diese Region erinnert uns immer wieder daran, dass das Leben auf diesem Planeten alles andere ist als ein beschauliches Leben in der Gartenlaube. Die Untersuchung der WerteInitiative – Jüdisch-deutsche Postitionen e.V., aus der das zitierte Interview stammt, belegt, dass die befragten Deutschen die zurückhaltende, eher übervorsichtig und allzu verständnisvoll wirkende Politik der deutschen Regierung nicht teilen. Etwa zwei Drittel bis drei Viertel halten beispielsweise die Reaktionen der Regierung gegenüber einer Terrororganisation wie der Hamas für viel zu schwach.
Suleymaniah ist eine Stadt mit etwas über einer Millionen Einwohner*innen im kurdischen Gebiet Südosten der irakisch-kurdischen Autonomieregion. Die Nicht-Regierungsorganisation WADI engagiert sich dort seit über 30 Jahren. WADI wurde nach dem Zweiten Golfkrieg gegründet und setzt seitdem vor allem auf Hilfe zur Selbsthilfe und auf Empowerment. Der deutsche Journalist Thomas von der Osten-Sacken, Jahrgang 1968, ist Mitbegründer und Geschäftsführer von WADI. Er lebt in Frankfurt am Main und in Suleymaniah. Er veröffentlicht regelmäßig zur Entwicklung in der Region, beispielsweise auf WADI-online, dem eigenen Blog „Von Tunis nach Teheran“ der Jungle World, der österreichischen Plattform Mena-Watch, der Welt, für Perlentaucher und andere interessierte Medien sowie in diversen Sammelbänden zur Region. Im Jahr 2020 unterstützte er mehrere Organisationen in dem Lager Moria auf Lesbos. Er beriet polnische NGOs bei der Aufnahme und Integration von Flüchtenden aus der Ukraine.
WADI – eine politische Nicht-Regierungsorganisation im Irak
Norbert Reichel: Ist es eine große Umstellung für Sie, wenn Sie aus Deutschland in den Irak reisen?
Thomas von der Osten: Eigentlich nicht. Das ist ja seit Jahren sozusagen meine zweite Heimat. Nur im Sommer macht die Hitze zu schaffen. Wir haben heute schon wieder 35 Grad, und das Anfang Juni. Ich lese, im Südirak sind es inzwischen sogar 48 Grad.
Norbert Reichel: Diese Temperaturen werden uns gleich noch etwas ausführlicher beschäftigen, aber wie kamen Sie in den Irak?
Thomas von der Osten: Meine akademische Ausbildung hat nicht viel damit zu tun, was ich jetzt mache. Ich habe einen Magister in Germanistik und bin Mitbegründer der deutsch-irakischen Hilfsorganisation WADI, die entstanden ist, als wir 1991 nach dem zweiten Golfkrieg als junge Studenten und Freiwillige, angefangen haben, im Irak zu arbeiten, sechs Monate im Süden unter sehr schwierigen Bedingungen. Daraus entstand die Idee, einen Verein zu gründen, was wir dann auch getan haben. Im Schwerpunkt sind wir seit 1993 im irakischen Kurdistan tätig, wo wir inzwischen auch viele lokale Mitarbeiterinnen, Mitarbeiter und Partner haben. In dieser ganzen Zeit war ich mit dem Nahen Osten immer eng verbunden. Ich bin schon als Schüler und Student oft im Nahen Osten gereist. Das ist auch ein interessanter Blick aus den letzten 30 Jahren, wenn man aus dem Irak schaut und nicht nur von außen auf den Irak.
Parallel dazu habe ich mich viel mit der Geschichte Israels und dem Zionismus beschäftigt, war an der Hebrew University in Jerusalem. Wir haben auch andere Organisationen unterstützt, in Syrien, in Jordanien. Während der Corona-Pandemie war ich in Griechenland und habe den Peak der Pandemie auf Lesbos verbracht. Wir haben viel zum Irak, zum Nahen Osten, auch zum Antisemitismus in Deutschland publiziert. Das vielleicht ganz kurz zu meiner Biographie.
Im Augenblick feiern wir, dass es uns seit 30 Jahren hier in Kurdistan gibt.
Norbert Reichel: Was macht WADI?
Thomas von der Osten: Man muss natürlich den Hintergrund sehen: 1991, 1992. Wir sind Kinder des Kalten Krieges, der globalen Lage Ende der 1980er Jahre. Unsere Ideen sind im Kontext damaliger Gedanken zur internationalen Solidarität entstanden, die heute vielleicht etwas staubig und antik klingen. Wir hatten immer die Idee, dass wir nicht eine der bürokratisierten Organisationen werden sollten. Das ist gelungen, wir sind immer noch relativ klein und flexibel. Als wir 1991 teilweise etwas blauäugig in den Irak gekommen sind, war es durchaus ein nachhaltiger Schock, um was für ein Land es sich handelte, wo man zum Anfassen hatte, was Hannah Arendt unter Totalitarismus beschrieben hatte oder Kanan Makiya als „Republik der Angst“ (Originaltitel „Republic of Fear“).
Es war relativ schnell klar, dass das Land nicht unbedingt mit anderen Ländern in der Region zu vergleichen ist, sondern eine ganz herausragend ekelhafte Diktatur, wo die einzig sinnvolle Tätigkeit sein konnte, dass dieser Saddam gestürzt würde. Wir waren damals im Süd-Irak. Heute erinnern sich wenige Leute daran, dass es damals im Süden und im Norden des Irak Massenaufstände gegen die Diktatur gegeben hat, die in Basra begonnen haben. Das führte in Deutschland zu großem Erstaunen: die Amerikaner führen Krieg gegen ein Land und die Bevölkerung nutzt die erste Möglichkeit, um zu versuchen, ihre Diktatur zu stürzen. Die Aufstände sind im Südirak wahnsinnig blutig niedergeschlagen worden. In Kurdistan begann etwas zu entstehen, was heute Realität ist: die Autonome Region Kurdistan im Irak. Die Menschen im Südirak sagten uns, nachdem sie etwas Vertrauen zu uns aufgebaut hatten: wenn ihr uns wirklich helfen wollt, helft den Kurden, denn das ist der Anfang vom Ende des Saddam-Regimes. Dieser sehr politische Hintergrund war bei unserer Arbeit immer dabei und ist es auch immer geblieben.
Wir haben viel über die Menschenrechtsverletzungen berichtet und haben auch die irakische Opposition gegen Saddam Hussein unterstützt. Viele unserer Projekte haben einen sehr gesellschaftspolitischen Anspruch, egal, ob man Genitalverstümmelung bekämpft, freie Medien unterstützt oder Kampagnen gegen Gewalt, für stärkere Selbstorganisation. Wir verstehen uns nicht als traditionelle Hilfsorganisation, die Decken verteilt, sondern wir haben immer auch den Anspruch, Veränderung, Demokratisierung in der Gesellschaft zu unterstützen und voranzutreiben. Wir verstehen unsere Arbeit als Service, nicht als traditionelle Hilfe, denn Hilfe impliziert immer ein hierarchisches Verhältnis. Kein Mensch lässt sich gerne helfen, außer von Freunden und Familie. Ich mag dieses Hilfsbusiness – wir sind die Guten – nicht besonders.
Auch unsere neueren Projekte zum Umweltschutz sind insofern politisch: der Irak ist eines der fünf am meisten vom Klimawandel betroffenen Länder in der Welt. Diese fünf Länder sind eigentlich keine großen Verursacher von Emissionen, aber sie gehören zu den Hauptleidtragenden. Das Problem liegt daran, dass die Verursacher dieser Veränderungen nicht die Länder sind, in denen die Wirkungen extrem heftig sind und werden.
Der Irak trocknet aus
Norbert Reichel: Euphrat und Tigris, das ist – wie es hier sogar Kinder in der Schule lernen – das Zweistromland, Mesopotamien, das Land, wo manche den mythischen Garten Eden vermuten, diese beiden Flüsse verlieren Wasser.
Thomas von der Osten: Sie verlieren nicht nur Wasser, sie trocknen aus. Letztes Jahr hat der irakische Wasserminister gesagt, der Irak habe heute im Vergleich zu vor 20 Jahren nur noch 30 Prozent des Wassers. Alles hier im Irak geht im Vergleich zu Deutschland in einem rasanten Tempo voran. Ich erinnere mich noch daran, dass wir vor 30 Jahren in Suleymaniah im Juli und im August keine Air Condition brauchten. Es hatte gereicht, nachts mit Ventilator zu schlafen. 37 Grad in Suleymaniah Anfang August war schon unerträglich heiß. Jetzt überschreitet das Thermometer schon Ende Mai, Anfang Juni 35 Grad. Noch krasser ist es im Süden des Irak, in Basra wurden gestern 48 Grad gemessen. 1991 gab es im August 45 Grad und das war unerträglich. Jetzt haben wir Juni! Regelmäßig gehen die Temperaturen im Irak, auch in angrenzenden Gebieten im Iran, im August über 50 Grad. Das ist eigentlich die Marke, bei der Menschen auf Dauer nicht mehr leben können.
Es geht aber nicht nur um Hitze und Trockenheit. Die Wetterzyklen verändern sich. Es gibt diese Starkregen, die zur Erosion des Bodens beitragen. Früher war hier in Suleymaniah, das ein wenig in den Bergen liegt, nicht in der heißen mesopotamischen Ebene, Ende Oktober das Ende des Sommers. Die Cafés stellten die Stühle rein und die warme Zeit war zu Ende. Im letzten Dezember bin ich jetzt bei etwa 23 Grad losgeflogen. Suleymaniah hatte im Winter so minus 2 bis plus 8 Grad. Diese nachhaltigen Regen, die die Landwirtschaft braucht, hören auf. Wie in Pakistan gibt es diese kurzen enorm heftigen Regenfälle, mit der Wirkung, dass große Teile des Landes für Landwirtschaft nicht mehr nutzbar sind. Einerseits versalzen die Böden des Südens, weil über den Schatt al Arab Salzwasser eindringt und der Grundwasserspiegel ständig sinkt. Hier im Norden gibt es inzwischen Regionen, wo nichts mehr angebaut werden kann. Das verstärkt den Zirkel: die Menschen ziehen in die Städte, diese wachsen mit rasender Geschwindigkeit, die Städte sind in keiner Weise an öffentlichen Nahverkehr, an vernünftiges Bauen angepasst, es ist im Durchschnitt fünf bis zehn Grad heißer als in der Umgebung. Der Boden erodiert, wird nicht mehr genutzt. Letztlich handelt es sich um Auswirkungen, die in Europa noch überhaupt nicht verstanden werden. Jüngste Einschätzungen des UNHCR gehen dahin, dass solche Entwicklungen einen Großteil der zukünftigen Migrationen bestimmen werden.
Norbert Reichel: Die ZEIT hat am 20. Juni 2023 für ihre Online-Abonnent*innen einen längeren Essay sowie einen Rechner veröffentlicht, der zeigt, welche Regionen der Erde bei Temperaturerhöhungen von bis zu 1,5, 1,8, 2,0, 2,4, 2,7 oder 3,6 Grad unbewohnbar wären. Der Mittlere Osten, West- und Ostafrika, Brasilien, Südasien, Nordaustralien, die großen pazifischen Inselstaaten gehören zu den am härtesten getroffenen Staaten. Die Erwärmung der Ozeane mit allen Auswirkungen auch auf die Ernährungsgrundlage vieler Menschen ist darin noch gar nicht berücksichtigt. Wie groß der Migrationsdruck auf nördlich gelegene Regionen, also auch auf Deutschland, werden wird, zeigt folgendes alles andere als unwahrscheinliche Szenario: „Erreicht die Erde im Laufe dieses Jahrhunderts eine Erwärmung von 2,7 Grad, würden über 1.000 Städte mit mehr als 100.000 Einwohnerinnen weltweit in lebensgefährlichen Regionen liegen. Besonders dort, wo dicht gesiedelt wird, eng gebaut und Flächen versiegelt werden, setzt der Hitzeinseleffekt ein. Dies bedeutet, dass sich Städte während einer Hitzewelle stärker aufheizen als das Umland.“
Thomas von der Osten: Im Mittleren Osten gilt das nicht nur für den Irak, sondern auch für das Rote Meer, für Ostafrika, Sudan, Somalia, Pakistan, Iran, wo Monsunströme massiv gestört sind. Wir haben in den letzten zwei Jahren diese Mischung von extremer Trockenheit und Hitze mit diesen völlig verrückten Regenfällen. Indien hatte in Großstädten Wasserversorgungsprobleme, weil die Temperaturen über 40 Grad lagen.
In den Ländern der Hauptverursacher, in den Industrienationen, in Europa und in den USA, findet dieser Prozess nur schleichend statt. Wir nehmen es nicht so wahr, dass es nicht um etwas geht, bei dem wir noch Jahrzehnte Zeit hätten. Im Irak stellt sich die Frage, ob der Kipppunkt dort nicht schon überschritten ist.
Norbert Reichel: Die deutsche Debatte um Heizungen wirkt gegenüber dem, was im Irak und in vergleichbaren Ländern geschieht, fast schon zynisch.
Thomas von der Osten: Naja, sie schafft schon ein Bewusstsein, dass etwas geschehen muss. Aber das reicht alles vorne und hinten nicht. Die Anrainerstaaten des Pazifiks, Südostasien, der Nahe Osten sind ungleich stärker betroffen. Das führt natürlich auch wieder dazu, dass manche sagen, so wichtig wäre das nun auch nicht, wenn der Irak austrocknet. Aber all diese Probleme sind eng miteinander verzahnt. Dieser verrückte EU-Beschluss zur Flüchtlingspolitik vom 8. Juni 2023 ist das Ergebnis davon, dass die Fluchtabwehrpolitik der EU in Afrika nicht mehr funktioniert, nur noch halbwegs in Asien, wo man die Türkei sozusagen als Stöpsel hat und gehofft, das Erdoğan an der Macht bleibt und die Ost-Route weiter geschlossen hält.
Norbert Reichel: Ich habe einigen Leuten gesagt, dass sie sich noch sehr wundern würden, wenn Erdoğans Gegenkandidat Kılıçdaroğlu gewänne. Er hatte angekündigt, die syrischen Flüchtlinge aus der Türkei auszuweisen. Aber wohin? Nach Syrien? Das werden viele nicht mitmachen und versuchen, nach Europa zu kommen. Damit habe ich nicht für eine Wiederwahl Erdoğans plädiert. Es zeigt einfach das Dilemma, in das sich die EU selbst hineinmanöviert hat. Parag Khanna geht in seinem Buch „Move“ (Berlin, Rowohlt, 2021) von einer durchschnittlichen Erwärmung der Erde um etwa vier Grad aus und beschreibt den daraus resultierenden Migrationsdruck.
Thomas von der Osten: Die Politik der EU gegenüber Afrika beruht auf dem sudanesischen Militär, der eritreischen Regierung, Sisi in Ägypten, den islamistischen Halsabschneiderbanden in Libyen, die man jetzt Küstenwache nennt. Der sudanesische Bürgerkrieg zeigt es, auch die Entwicklungen in Tunesien, dass das System zusammenbricht. Tunesien ist das letzte Land in dieser Kette. Die Bundeswehr zieht aus Mali ab, der Hauptgrund der Anwesenheit war, die Sahara für Migration nach Norden zu schließen. Die eine ist die Nilroute, die anderen laufen durch Mali und Niger.
Ein großer Teil der Menschen, die aus Afrika fliehen, sind im weitesten Sinne bereits heute Klimaflüchtlinge, weil die Menschen in Ländern wie Kenya, Tansania, Somalia schlicht und ergreifend ihre Subsistenz verlieren. Wenn in Kenya ein Bauer eine Missernte hat, ist er am Ende, hat keine Perspektive mehr. Das heißt, es bleiben zwei Möglichkeiten, er kann nach Mombasa oder nach Nairobi ziehen, Moloche von Städten, oder er kann schauen, dass es ein oder zwei Mitglieder der Familie nach Europa schaffen. Der Klimawandel wird in dieser Doppelfunktion – klimatische Veränderung und Migration – sehr bald in Europa noch viel spürbarer werden als er es jetzt schon ist.
Junge Gesellschaften ohne Perspektive
Norbert Reichel: Als Sie 1991 in den Irak kamen, gab es im „Westen“ immer die Idee, dort würde jetzt die Demokratie aufgebaut.
Thomas von der Osten: Wir dürfen nicht vergessen, dass die europäische Moderne, die ich zwischen 1789 und 1918 mit all ihren positiven wie negativen Elementen datiere, im Irak erst wesentlich später angekommen ist, und dies in hässlicheren Formen. Aber auch hier gab es all diese Diskussionen um Republikanismus, wie wollen wir leben, was ist unser Vorbild, nach den vielen Phasen der Kolonialisierung – ein etwas problematischer Begriff, denn es handelte sich um Mandatsgebiete nach dem Zusammenbruch des Osmanischen Reichs, die haben schon eine etwas andere Geschichte als die Kolonien. In den 1970er und 1980er Jahren haben sich zwei verschiedene Formen von Diktatur durchgesetzt, einerseits die panarabischen Diktaturen im Irak und wie sie heute noch in Syrien und in Ägypten herrschen, andererseits Islamismus, vor allem nach der Revolution 1979 im Iran, die im Grunde ein tektonisches Beben ausgelöst hat. Wer gegen die eine Form der Diktatur war, hatte im Angebot mehr oder weniger nur die andere. Wer gegen den panarabischen säkularen Diktator war, suchte sich Abhilfe von der islamistischen Seite. Wer etwas dazwischen oder etwas anderes wollte, hatte es extrem schwer.
Das funktionierte 1991 bei den Kurden besser. Diese Massenaufstände waren erst einmal nicht Aufstände für Demokratie, sondern für ein Ende der Diktatur. Man wollte das Ende der furchtbaren irakischen Diktatur. Was danach kommen sollte, darüber haben sich die Aufständischen noch nicht so viele Gedanken gemacht. Im Süden ist es gescheitert, im kurdischen Norden ist etwas Neues entstanden, das man nicht unbedingt Demokratie nennen kann, wo aber über 30 Jahre trotz Krieg, Parteienkrieg, Elend, aber ohne die barbarische Angst vor Polizei und Folter eine neue Generation heranwuchs, die nicht mehr weiß, wie es hier vor 30 Jahren aussah.
Norbert Reichel: Wie ist das heutige Durchschnittsalter im Irak?
Thomas von der Osten: Der Südirak ist jünger als der Norden. Das Durchschnittsalter liegt bei etwa 21 Jahren, vor einigen Jahren lag es noch bei 19. Europäer verstehen allerdings nicht, wie schnell sich hier alles entwickelt. Eine der enormen Umwälzungen ist die Demographie. Die meisten unserer Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, die so um die 30 – 35 Jahre alt sind, haben sieben oder acht Geschwister. Jetzt sind es zwei Kinder pro Familie. Das Heiratsalter von Frauen liegt in Suleymaniah weit jenseits der 25, früher hat man mit 18-19 Jahren geheiratet.
Das ist auch eines der Missverständnisse des Arabischen Frühlings in Europa: in den letzten Jahren peakt hier überall in der Region die demographische Kurve. Die West-Türkei, der Iran sind heute Schrumpfungsländer. Der Iran hatte vor 25 Jahren eine der höchsten Geburtenziffern mit 6,4 Kinder pro Frau. Heute liegt diese Zahl bei 1,8. Diese junge Generation ist noch nicht an der Macht, aber sie dominiert in der Gesellschaft. Alte Leute sehen Sie kaum auf der Straße.
Norbert Reichel: Überall in der Welt haben wir es mit sehr jungen Gesellschaften zu tun, nur nicht in Europa, nicht in den USA, nicht in Japan. Die klassischen Industriegesellschaften diskutieren über Renten, die anderen über die Chancen junger Menschen, die durch den Klimawandel und die alten Strukturen behindert werden.
Thomas von der Osten: Irgendjemand hat es mal so schön über Ägypten gesagt. In Ägypten hat man als junger Mensch drei Möglichkeiten: man kann Islamist werden, man kann auf die Straße gehen oder man kann nach Europa auswandern. Andere Möglichkeiten gibt es nicht. 2003 mit dem Sturz Saddams hat der Irak den Arabischen Frühling ein wenig vorweggenommen, gemerkt hat es hier kaum jemand. Das war 2003 natürlich eine enorme Veränderung, die mit dem Sturz von Saddam mit ihren vielen positiven wie negativen Seiten eingesetzt hat, die ich bis heute als alternativlos ansehe. Aber erst 2011 geschah im Nahen Osten und Nordafrika, was einige wenige Leute – ich gehöre dazu – vorausgesagt haben, irgendwann explodiert das hier. Mit null ökonomischer Perspektive, schrumpfender Wirtschaft, völlig verkrusteten diktatorischen Strukturen, einer unfassbar restriktiven Sexualmoral ergibt das einen Cocktail, der früher oder später zu dem ganz großen Knall führen muss.
Historisch gesehen hat man verpasst zu sehen, was hier geschieht. Das Paradigma der westlichen Außenpolitik lautete, das muss stabil sein. Stabilität – das garantierte dann in der Regel ein Diktator. Sudan als letztes Beispiel – nach 40 Jahren schauderhafter Diktatur gehen die Sudanesen auf die Straße, stabilisiert haben das dann Milizen. Was nicht funktioniert: jetzt beschießen sich Militär und Milizen. Menschen, die wirklich eine Veränderung wollen, sehen, es gibt keine Perspektive, und viele wollen so schnell wie möglich das Land verlassen. Das gab es in Syrien, in Ägypten, in Tunesien hat es etwas länger gedauert, dass dysfunktionale alte Eliten versuchen sich wieder zu etablieren und das nächste Jahr zu überstehen. Das ist im Grunde das Modell Assad.
2011 war auch deshalb so wichtig, dass man sehen konnte, was jüngere Menschen in der Region wollen. Das heißt noch nicht, dass sie es können. Es gibt keinerlei Strukturen, an denen man anknüpfen könnte. So entsteht das Vakuum, das Menschen eigentlich Veränderung wollen, aber die Verwaltung von Veränderung braucht Wissen, Erfahrung, Einfluss. Es gab jedoch nur die relativ amorphe führerlose Masse und die alten Eliten, die sich mit allen Mitteln versucht haben, an der Macht festzuhalten und im Notfall zum Bürgerkrieg bereit sind. Europa hätte hier eine aktive Rolle spielen können, hat es aber nicht getan.
Nationales Interesse vs. wertegeleitete Außenpolitik? Ein Trugschluss
Norbert Reichel: Wie bewerten Sie in dieser Lage den Ansatz der deutschen Außenministerin für eine wertegeleitete Außenpolitik?
Thomas von der Osten: Mir ist die US-amerikanische Außenpolitik im Grundsatz lieber. Viele amerikanische Politiker haben aus ihrer kapitalistischen Logik heraus noch das Selbstverständnis, dass freie Marktwirtschaft einhergeht mit Freihandel, Menschenrechten, Demokratie, Rechtsstaat. Das ist das, was im Kern in den bürgerlichen Revolutionen des 19. Jahrhundert angelegt war. Aus amerikanischer Sicht passt die Demokratie am besten zu Kapitalismus und Freihandel. Das ist das Modell, für das man weltweit wirbt, für das amerikanische Außenpolitik aber auch zu kritisieren ist.
In Europa herrscht in einer Carl-Schmittschen Tradition eher die Auffassung, dass eine solche Außenpolitik in erster Linie Interessenvertretung ist. Das gerät in Widerspruch zu dem, was wir Werte nennen. Notfalls machen wir dann eine wertegeleitete Außenpolitik, die unseren Interessen widerspricht, was aber nicht funktioniert. Das Spannungsverhältnis in der Frage, was ist Außenpolitik, ist in Europa, etwas weniger in Frankreich, schwach ausgeprägt. Bei der ersten Frage, die dann aber den Interessen widerspricht, heißt es dann, ach, wir müssen in den sauren Apfel beißen und einige Werte erst einmal hintenanstellen. Daraus entsteht keine kohärente Außenpolitik. Das zeigt sich bei der Fluchtabwehr. Bei der Fluchtabwehr sind Diktatoren kurzfristig sehr hilfreich. Dann zahle ich denen – wie damals Ghaddafi – etwas, auch ein paar Knäste, dann halten die uns die Flüchtlinge fern. Das kostet nicht viel und ein Journalist kommt da eh nicht vorbei, weil der kein Journalistenvisum für Libyen bekommt.
Norbert Reichel: Wir pflegen Türsteher. Christian Jakob und Simone Schlindwein haben das in ihrem Buch „Diktatoren als Türsteher Europas – Wie die EU ihre Grenzen nach Afrika verlagert“ (Berlin, Ch. Links Verlag, 2017) sehr anschaulich analysiert. Aber wie Sie sagten: eine scheiternde Politik. Jetzt fangen deutsche Innen- und Außenpolitiker*innen zum ich weiß nicht wie vielten Male an, mit Regierungen in Nordafrika über Migration und Nicht-Migration zu verhandeln. Irgendwie habe ich hier ein Murmeltier-Gefühl. Parag Khanna, den ich eben zitierte, nannte ausgesprochen interessante Wege einer erfolgreichen Anpassung an die von ihm prognostizierte Erderwärmung um vier Grad. Voraussetzung wäre eine konstruktive Akzeptanz für Migration und die sehe ich zurzeit in den Industriestaaten nicht.
Thomas von der Osten: Stellen wir uns einmal vor, was geschieht, wenn all diese Länder in Nordafrika kollabieren und de facto zu Failed States werden, dann setzen sich die Leute in Schlauchboote und kommen nach Europa. Amerikaner würden sofort verstehen: die Demokratisierung Nordafrikas liegt in unserem Interesse.
Norbert Reichel: Ich habe bei der europäischen Politik – gerade bei dem aktuellen Migrationsbeschluss der EU – den Eindruck, dass sie nicht wissen, was sie wollen, sondern nur wissen, was sie nicht wollen. Nämlich Migration, die wollen sie nicht und kapitulieren vor der Neuen Rechten, die schon weit in konservative und auch sozialdemokratische Milieus eingedrungen ist.
Thomas von der Osten: Ich erinnere mich an Treffen im Auswärtigen Amt mit einem grünen Staatssekretär, der erklärte, in Deutschland habe man kein nationales Interesse mehr. Aber Staaten verfolgen nun einmal, egal ob man das will oder nicht, nationale Interessen! Bei den Amerikanern heißt es dann, die wollten keine Demokratisierung, sondern nur ans Öl. Dass im amerikanischen Denken Öl und Demokratie nicht unbedingt Widersprüche sind, haben die Europäer nie verstanden. Wenn ich als Souverän nicht in der Lage bin, ein nationales Interesse zu formulieren, dann bin ich kein Souverän. Da brauche ich nicht über Werte zu reden, das ist so. Ich muss nur Thomas Hobbes lesen, um das zu wissen. Das Problem der EU- und der deutschen Außenpolitik ist die Angst, die sie haben, nationale Interessen, beziehungsweise ein europäisches Interesse zu formulieren. Dabei wäre es ganz einfach: das Interesse Europas liegt so formuliert darin, dass in Afrika und im Nahen Osten mittelfristig demokratische Systeme herrschen, junge Menschen eine Perspektive haben und sich nicht in Boote über das Mittelmeer setzen.
Norbert Reichel: Eine der Lebenslügen ist die, einerseits von Fachkräftebedarfen zu reden, andererseits aber Zuwanderung regulieren zu wollen. Erleichterungen für zuwandernde Fachkräfte in allen Ehren. Die kann man nur unterstützen, aber ich habe mich immer gefragt, warum man nicht nach Moria und in andere Orte fährt und dort systematisch nach Fachkräften sucht. Das würde eine Menge Druck wegnehmen.
Thomas von der Osten: Auch das kann ich mit nationalem Interesse begründen. Es ist am Ende viel humaner als dieses ganze Wertegerede. Die Zukunft Belgiens, der Niederlande, Deutschlands und so weiter hängt in hohem Maße von Zuwanderung ab. Es ist ein nationales Interesse zu definieren, wer zu uns einreisen kann und wer nicht. Das ist in den USA, in Kanada, in Australien und in Neuseeland nicht anders. Das kann man mit sehr sinnvollen Entwicklungsprojekten verbinden. Ich habe immer den Vorschlag gemacht, warum vergibt man nicht Stipendien in Bagdad, in Kairo, in all diesen Ländern? Warum finanzieren wir nicht eine herausragende akademische Ausbildung? Und die Besten bekommen die Möglichkeit, ihre Doktorarbeit in Deutschland zu schreiben und wenn sie eine berufliche Perspektive finden eine unbefristete Aufenthaltsgenehmigung. Auch für alle anderen entsteht die Motivation, an solchen Ausbildungsgängen teilzunehmen, denn hier – im Irak, in Ägypten – ist die Perspektive, eine solche Ausbildung und einen gut bezahlten Job zu finden, gleich Null.
Norbert Reichel: Das würde nicht nur in akademischen Berufen funktionieren, auch in der Berufsausbildung. Wir sollten in Schulen, Hochschulausbildung, Berufsausbildung investieren, in diesen Ländern.
Thomas von der Osten: Und dies mit der Möglichkeit verbinden, ein Visum für Deutschland zu bekommen. Das Asylnadelöhr wäre weg, auch all die Bürokratie um Aufenthaltsgenehmigungen. Der Unterschied ist der: als Migrant, der ein neuer Bürger, eine neue Bürgerin wird, werde ich anders behandelt als jemand, der seinen Anspruch erst einmal gegen den Staat durchsetzen muss. Wir müssen unterscheiden: Migration und Flucht sind zwei verschiedene Tatbestände. Jemanden, der Asyl haben möchte, muss ich nicht haben wollen. Der hat aber einen Rechtsanspruch. Ein Migrant ist jemand, der über Steuerungsprozesse zu uns kommt und willkommen geheißen werden sollte. Was zurzeit in Europa passiert: man ist nicht in der Lage, zwischen Flucht und Migration zu unterscheiden.
Eine solche Unterscheidung würde Steuerungsprozesse ermöglichen. Zum Beispiel in Lesbos. Warum reden wir da immer über die armen Afghanen, die es – so nebenbei – auch nicht gibt, warum agieren da 50 Nicht-Regierungsorganisationen, verteilen Decken, etwas zu essen und räumen Müll auf? Warum fragt man nicht nach dem Hintergrund? Man hätte auf einmal Elektriker, Universitätsabsolventen, Fahrradmechaniker und so weiter und so fort, Krankenschwestern, Ärzte, die sich auch selbst organisieren könnten, aber sie dürfen nicht. Daher bin ich so allergisch dagegen, wenn jemand sagt, wir müssen das jetzt wertebasiert machen. Wir müssten in der Lage sein, das nationale Interesse einmal vernünftig zu definieren. In der Vor-Trump-Zeit waren in den USA dazu viele in der Lage. In Europa fehlt das völlig, vielleicht gibt es das ein bisschen in Frankreich.
Projektionsfläche Nahost
Norbert Reichel: Wie sieht es mit den Medien aus? Ein Attentat in Bagdad, eine humanitäre Katastrophe – davon hören wir immer wieder einmal, aber Erfolgsgeschichten hören wir nicht, vielleicht die ein oder andere im „Weltspiegel“, den die ARD-Oberen zuletzt in späte Nachtstunden verlegen wollten. Das ist ihnen zum Glück nicht gelungen.
Thomas von der Osten: Das Wissen und Interesse in Deutschland zu Ereignissen, die anderswo in der Welt stattfinden, ist sehr gering. Gerade der Nahe Osten ist eine Projektionsfläche. Das heißt dann Konflikt, der Krieg, der Islamismus – was auch immer sie bieten, sie beschäftigen sich mit sich selbst. Dann hat jeder eine Meinung, für eine Meinung muss man nicht viel wissen, aber man wendet viel Energie auf, die zu verbreiten. Dann hat es mit Bagdad zu tun, mit Stalingrad, und die Israelis sind die neuen Nazis von heute und die bösen amerikanischen Imperialisten … ich überspitze das jetzt, aber man redet nur noch über sich selbst. Das Interesse an dem, was da geschieht, ist relativ gering.
Es gibt auch viel zu wenige gute Auslandskorrespondenten. Die NZZ, die ich persönlich ganz gut kenne, hat eine viel bessere Auslandsberichtserstattung als deutsche Zeitungen. Sehen wir mal von der Deutschlandlinie der Zeitung ab, aber wenn man sich über den Nahen Osten informieren will, findet man etwas in Schweizer Zeitungen, in amerikanischen Zeitungen, in Zeitungen aus der Region. Die meisten deutschen Zeitungen hinken drei bis vier Tage hinterher. Das zeugt auch, dass es viel zu wenig Nachfrage gibt.
Norbert Reichel: Diese ließe sich ja bei einem entsprechenden Personaleinsatz durchaus schaffen. Aber es sieht in der Regel so aus, dass jemand in Beirut sitzt, aber zuständig ist für die gesamte Region von Teheran bis Casablanca. Ich könnte das konkrete Beispiel nennen, möchte aber niemandem zu nahetreten, denn die Kollegin ist hoch engagiert.
Thomas von der Osten: Oder der Irak-Korrespondent sitzt in Kairo. Das ist so, als wenn der Ukraine-Korrespondent in Oslo sitzt. Was dann geschieht: die Stiftung Wissenschaft und Politik hat zum Thema Syrien über mehrere Jahre eine Fehlanalyse nach der anderen in die Welt gesetzt. Das ist der Haupt-Think-Tank, der damals die Bundesregierung beraten hat. Ein anderes Beispiel: Volker Perthes, der in der Vergangenheit häufiger daneben lag als richtig, ist jetzt UN-Beauftragter für den Sudan. Zum Sudan, wo viele wussten, es war keine Frage, ob ein Bürgerkrieg ausbricht, sondern nur wann, erzählt er, wir waren doch alle so überrascht. So ähnlich war das auch 2011. Da hieß es schon im Vorfeld, wenn die Araber alle auf die Straße gehen, das wird schlimm für Amerika und für Israel. Als sie dann auf der Straße waren, hat sich niemand für Israel interessiert und es hieß, liebe Amerikaner helft uns.
Ich war in Bengasi, als der Krieg gegen Gaddafi losging. Bengasi und Tripoli waren zugehängt mit britischen und amerikanischen Fahnen. Dann kommen aber so Leute wie Jürgen Todenhöfer, die im Ausland keine 50 Bücher verkaufen würden, aber ein ungeheures Gespür für das haben, was Leute in Deutschland lesen wollen. Ressentiments gegen die Amerikaner, gegen Israel – die legt man dann Menschen in der Region in den Mund, damit die das sagen, was wir hier eigentlich denken. Ein großer Teil der Palästina-Diskussion läuft nach diesem Muster. Wenn der arme Palästinenser etwas zu seiner Unterdrückung sagt, dann muss das ja stimmen. Oder Kurdistan: dieses Bild von den Kurden als Volk in den Bergen! Wenn man hinsieht, findet man große moderne Städte, eine differenzierte Gesellschaft. Aber die Kurden sind eben auch so ein unterdrücktes Volk, wie die Deutschen meinen, dass sie es auch einmal gewesen wären. Solche Projektionsmechanismen funktionieren, Aufklärung und Information funktionieren dann nicht. Die Leute sind einfach nicht erreichbar, weil sie an ihren Projektionen festhalten möchten.
Vom Untertan zum Bürger
Norbert Reichel: Wir trauen den Menschen in der Region einfach nicht zu, dass sie Demokratie wollen.
Thomas von der Osten: So ist das. Hier heißt es, die wollen ja gar keine Demokratie, die wollen doch etwas anderes. So wie das im Iran ist, das ist dann deren Kultur. Das führt wieder zu einem riesigen Missverständnis. Wir haben Programme bei WADI, in denen immer wieder das Wort Bürger vorkommt. Der Name eines Projektes in Kurdistan, auch in Syrien, hieß: „Vom Untertan zum Bürger“.
Was bedeutet das? Das hat sogar auch viel mit deutscher Geschichte zu tun. Der Bundespräsident hat das Thema anlässlich der 175. Jahrestags der 1848er-Revolution in der Jubiläumsveranstaltung in der Frankfurter Paulskirche formuliert: „Vom Untertan zum Bürger.“ Was hieße das für Kurdistan, für die arabischen Länder? Die Antwort lautet: Citizenship. Genau darum geht es den jungen Menschen auf den Straßen: sie wollen nicht als Frau, als Muslim, Jeside oder irgendetwas behandelt werden, sie wollen Gesetze, die Gleichheit schaffen. Das bedenkt hier in Europa niemand. Das hängt auch mit der folgenden Frage zusammen: wer ist der Souverän, das Volk oder Gott? Im Iran ist Gott der Souverän. Aber wenn das Volk, das Parlament die Gesetze gibt, dann ist nicht mehr Gott der Souverän. Das sind heftige Auseinandersetzungen.
Ein weiteres Wort, dass immer sehr unreflektiert verwendet wird, ist Säkularismus. Aus der amerikanischen Geschichte könnten wir lernen, dass es zwei Varianten des Säkularismus gibt: den französischen Säkularismus, in dem der Staat vor der Religion geschützt wird, und den amerikanischen Säkularismus, in dem die Religion vor dem Staat geschützt wird. Das sind zwei völlig unterschiedliche Denkkonzepte.
Die Aussage, Assad wäre säkular, weil er gegen Islamisten kämpfe, ist einfach falsch. In Syrien basiert das Recht auf der Scharia, mit einer einzigen Ausnahme: dem Strafrecht. Für die Menschen im Dorf sind aber das Zivilrecht, das Familienrecht, das Recht, das Scheidung, Erbschaft und so weiter regelt, viel wichtiger als das Strafrecht.
Wenn ich hier in der Region mit Menschen über die Auseinandersetzungen im Europa des Jahres 1848, über Wahlrecht, bürgerliche Selbstbestimmung, Parlamentarismus, die Verfassung spreche, ist das Interesse groß. Nicht, dass das dasselbe ist, aber die zentralen politischen Auseinandersetzungen weisen viele Ähnlichkeiten aus. Warum sehen wir diese Ähnlichkeiten nicht, warum heißt es immer, das wäre eine andere Kultur, die wir so wie sie ist respektieren müssten. Nehmen wir das Kopftuch,…
Norbert Reichel: … gutes Beispiel: wenn ich in manchen Kreisen Kritisches zum Kopftuch sage, werde ich als Rassist beschimpft. Das müssen sogar Menschen erleben, die aus dem Iran nach Deutschland geflüchtet sind, die als Kinder von Geflüchteten aus dem Iran hier leben und sich unter dem Motto „Frauen_Leben_Freiheit“ für den Sturz des Regimes der Mullahs engagieren. Zuletzt las ich auf einer dieser linken menschenfreundlichen Internetseiten einen Beitrag, der Kritik an der Burka und den Taliban als weißen Suprematismus kritisierte.
Thomas von der Osten: Exakt. Wenn ich in Deutschland sage, der Sturz Saddam Husseins war richtig, werde ich angeguckt, als wäre ich nicht mehr zurechnungsfähig. Natürlich darf und muss man darüber diskutieren, was nach dem Sturz Saddam Husseins kam. Aber der Irak ist hier in der Region – im Vergleich zum Iran, zu Syrien – ein Land mit einer halbwegs vorhandenen Zukunftsperspektive. 2002 hatten wir eine solche Diskussion in der Iraqi Working Group, wie der Irak aussehen könnte. Zum Glück haben sich die irakischen Vertreter durchgesetzt. Sie wollten eine parlamentarische Verfassung und keine Präsidialverfassung. Eine Präsidialverfassung führe dazu, dass ein Präsident als Chef der Armee und der Polizei dann gegen die „Schwatzbude“ Parlament vorgehe. Das ist genau das, was wir gerade in Tunesien erlebten.
Eine parlamentarische Verfassung hat bei ihrer Einführung immer die Tendenz, dass erst einmal Chaos herrscht. Das Äquivalent einer parlamentarischen Verfassung ist in der Regel eine Koalitionsregierung, die Premierminister sind nicht die starken Männer, Parlamentarier haben eine enorm wichtige Rolle. Das führt nach einer Zeit dazu, dass sich nicht-demokratische Akteure auf die Demokratie berufen mussten, um überhaupt weiter zu bestehen.
Es ist eben ein Unterschied, ob ich das System stürze und die Scharia einführe oder ob ich Neuwahlen ausschreibe. In einem Land, in dem es immer wieder Putsche gab, kann eine parlamentarisch kontrollierte Armee nicht mehr putschen. Sie ist eine Armee, die – ich mag das Wort „Volk“ nicht – aber doch so etwas ist wie eine „Volksarmee“. Sie ist ein Exekutivorgan des Staates und nicht ein exklusiver Staat im Staate, in dem 70 Prozent und mehr einer einzigen ethnischen Gruppe angehören. Stattdessen ist die Bevölkerung stärker in ihr repräsentiert. Im Grunde gehört dazu auch eine Art irakischer Föderalismus, in dem niemand mehr die Existenz einer autonomen kurdischen Region in Frage stellt. Wäre es nach den Verfechtern des Präsidialsystems gegangen, wäre ein starker Mann an der Spitze gewesen und man hätte die Armee Saddam Husseins nicht aufgelöst. Dann hätten wir diesen klassischen Autokraten gehabt, der vorerst einmal eine scheinbare Stabilität gesichert hätte. Aber wir hätten keine langfristige Perspektive. Diese aber ist im Irak für 20- oder 25jährige im Irak wichtig, für sie spielen die Präsidenten keine Rolle. Natürlich gibt es immer furchtbare Korruption, aber vom Staat ginge keine große Gefahr mehr aus. Das wäre ein erster wichtiger Schritt.
Als wir damals über Verfassungsfragen diskutierten, über Einkammer- oder Zweikammersysteme, meinten manche, wir wären Träumer, denn das wäre doch eine andere Kultur und es gab immer eine Sure, die sich zitieren ließ. Wenn wir im Irak über universalistische staatstheoretische Modelle diskutieren, über föderale Systeme in Kanada, in Deutschland, in Belgien, und fragen, was davon im Irak passen würde, trifft man auf eine enorme Resonanz.
Norbert Reichel: Das sind die Punkte, die deutlich machen sollten, dass – wie Sie sagten – wertegeleitete und interessegeleitete Außenpolitik kein Widerspruch sind. Wir müssen ein Interesse daran haben, dass sich Demokratie durchsetzt, denn das wollen die meisten Menschen im Irak und nicht nur da. Auch wenn es mühsam ist und lange dauert.
Thomas von der Osten: Es ist das Thema von Realismus oder Idealismus. Ich plädiere für Realismus. Wenn jemand ständig auf den Lippen trägt, dass er nach seinen Werten lebe, werde ich eher misstrauisch. Dir mit Deinen Werten – sage ich dann – vertraue ich in einer Krisensituation eher nicht so sehr. Hannah Arendt schrieb das in ihrem Essay über die persönliche Verantwortung in der Diktatur. Dem Arbeiter, dem Bauern, der in der Krisensituation sagt, so etwas macht man nicht, darum verstecke ich dich, dem bringe ich einhundertmal mehr Vertrauen entgegen als Politikern oder Intellektuellen, die mir etwas von einer wertegeleiteten Politik erzählen.
(Anmerkungen: Erstveröffentlichung im Juli 2023, Internetzugriffe zuletzt am 3. Juli 2023, das Titelbild zeigt einen Blick auf die Stadt Suleymaniah, fotografiert von Thomas von der Osten.)