Journalismus für die Menschenrechte
Ein Gespräch mit Farhad Payar, dem Redaktionsleiter des Iran Journals
„Ist der Aufstand bereits eine Revolution? Das wird man erst im Rückblick sagen können. Mit Sicherheit sehen wir hier aber einen revolutionären Prozess.“ (Katajun Amirpur, Iran ohne Islam – Der Aufstand gegen den Gottesstaat, München, C.H. Beck 2023)
Es begann am 16. September 2022. Oder begann es nicht eigentlich schon früher? Schon am 8. März 1979 demonstrierten Frauen gegen die Bekleidungsvorschriften in der Islamischen Republik Iran. Wie bewerten wir die Entwicklungen am 16. September 2023, ein Jahr nach der Ermordung von Jina Mahsa Amini? Wird der Versuch einer Revolution, die Revolte, der Aufstand sich zur Revolution auswachsen? Oder gelingt es dem Regime wieder, den Aufstand mit den ihm zur Verfügung stehenden Mitteln niederzuschlagen? Was unterscheidet den Aufstand nach dem 16. September 2022 von früheren Aufständen gegen das Regime der Mullahs?
Wer Antworten auf diese Fragen sucht, findet Informationen und Hintergrundberichte auf der Seite des Iran Journals. Die Texte und Bilder ermöglichen auch einen Blick in die Entwicklungen der vergangenen Jahre und Jahrzehnte. Der verantwortliche Redakteur der Seite ist Farhad Payar. Es gab in der Vergangenheit auch Finanzierungshilfen aus öffentlichen Mitteln, seit 2022 finanziert sich die Seite jedoch über Crowd-Funding. Farhad Payar und Norbert Reichel haben am 15. September 2023, einen Tag vor dem Jahrestag über die Entstehung und Entwicklung der Seite sowie die aktuelle politische Situation gesprochen
Wer das Online-Magazin Iran Journal unterstützen will, kann Fördermitglied werden. Kleine Beträge können schon helfen, dieses wertvolle Angebot einer journalistischen Unterstützung der Menschen im Iran bei ihrem Kampf unter dem Motto „Frauen – Leben – Freiheit“ auch in Zukunft zu sichern.
Eine kurze Geschichte des Iran Journals
Norbert Reichel: Vielleicht beginnen wir mit einigen allgemeinen Informationen über Ihre Biografie und die Entstehungsgeschichte des Iran Journals.
Farhad Payar: Ich bin seit 1994 journalistisch tätig. Parallel dazu habe ich damals schon angefangen, Theaterstücke zu schreiben, bei meinen eigenen Stücken Regie geführt. Es waren neun Theaterstücke, gefördert vom Berliner Kultursenat, die in Berlin und in anderen europäischen Städten aufgeführt wurden. Im Nebenjob – als Hobby – arbeite ich als Schauspieler. Ich habe auch einige Dokumentationen gedreht. All das neben meiner journalistischen Arbeit. Bis 2007 habe ich für verschiedene deutsche Radiosender gearbeitet. Seit 2007 bin ich bei der persischen Redaktion der Deutschen Welle als Autor und Redakteur tätig.
Das Iran Journal wurde 2010 ins Leben gerufen, als eine Webseite des Vereins Transparency for Iran e. V. Gründer waren unter anderen Omid Nouripour, seit 2006 Bundestagsabgeordneter, der Regisseur Ali Samadi Ahadi, Präsident des Vereins, die Autorin Dr. Nasrin Bassiri, Viezepräsidentin, Dr. Shamit Rafat, Schatzmeister des Vereins. Das ist der Trägerverein. Die Seite wurde nach der sogenannten „Grünen Bewegung“ eingerichtet, um den Protestierenden im Iran eine Stimme zu geben. Beiträge von Menschen im Iran wurden übersetzt und im Iran Journal veröffentlicht. Ich bin 2011 eingestiegen. Ich wurde gefragt, ob ich Interesse hätte, die Seite zu übernehmen. Ich habe zugesagt, aber auch, dass ich eine professionelle Nachrichtenseite daraus machen möchte, ein Online-Magazin. Ich habe ein Konzept eingereicht, das auch akzeptiert wurde. Die Seite hieß zunächst Transparency for Iran – wie der Verein – und wurde erst vor einigen Jahren in Iran Journal umbenannt. Es sollte über die Zivilgesellschaft im Iran berichten. In der Zwischenzeit wurde die Repression jedoch so stark, dass man nur wenig aus dem Iran veröffentlichen konnte. Es wurde schwieriger.
Mehrere deutsche Institutionen übernahmen das Budget, unter anderem die Bundeszentrale für politische Bildung und dann die Heinrich Böll Stiftung. Diese hat im letzten Jahr die Förderung gestrichen. Seit Februar 2023 lebt die Seite von privaten Sponsoren, von Menschen, die zwischen 6 und 24 EUR bezahlen und damit helfen, die Seite aufrechtzuerhalten. Wir arbeiten natürlich auf Sparflamme. Von den Einnahmen gehen auch etwa 20 Prozent an die Plattform ab, die für uns die Crowdfunding-Kampagne gestartet hat. Wir können im Monat fünf bis sechs Beiträge – Artikel, Interviews, Analysen – und 16 bis 20 Nachrichten veröffentlichen.
Wir haben natürlich viel mehr auf unseren Socialmedia-Kanälen, das sind eher kurze Beiträge. Wir sind auf X und auf Instagram. Unser Angebot auf Facebook haben wir eingestellt, weil Facebook als Informationskanal an Bedeutung verloren hat. Es ist – wenn man so will – ein Nischenprodukt, aber es ist ok.
Norbert Reichel: Wie kommen Sie an Ihre Texte? Recherche im Iran ist ja angesichts der Repression im Iran kein einfaches Geschäft.
Farhad Payar: Die Redaktion besteht aus einigen wenigen Kolleg:innen, die regelmäßig schreiben, einer muttersprachlichen Lektorin, die auch für andere Medien arbeitet, einer Redaktionsassistentin, die Briefe beantwortet und auch die Socialmedia betreut. Wir haben einen Redakteur für die News, mit dem ich auch enger zusammenarbeiten. Dann gibt es Autor:innen, die sporadisch für uns schreiben, auch zwei im Iran, die immer wieder mal persischsprachige Texte schicken, die wir übersetzen. Sie verifizieren auch Informationen für uns.
Norbert Reichel: Wie gefährlich ist das für die beiden im Iran?
Farhad Payar: Sie arbeiten unter Pseudonym, auch für andere Medien im Ausland. Sie sind gut vernetzt. Auch unsere anderen Autor:innen, unsere Gastautor:innen, haben ihre eigenen Informationsnetzwerke. Ich habe von Anfang an Wert daraufgelegt, möglichst neutral zu berichten, journalistisch einbahnfrei, nicht im Sinne einer bestimmten Oppositionsgruppe. Wenn uns eine Information etwas zu propagandistisch vorkommt, ziehen wir eine zweite Quelle heran. Nicht alles, was wir bekommen, ist journalistisch so gut, dass wir es auch übernehmen können. Es gibt viele Internetseiten, auch weil die Veröffentlichung im Internet so gut wie nichts kostet. Aber ich bestehe darauf, dass wir die Autor:innen bezahlen, damit wir auch einen Anspruch auf die Texte haben und auch einmal sagen können, dass wir etwas nicht wollen. Dann zahlen wir ein Ausfallhonorar, sagen aber, was wir nicht möchten. Ich arbeite mit etwa vier Personen zusammen, deren Texte ich nicht kontrolliere, das macht die Lektorin. Aber was außerhalb dieses Kreises eingereicht wird, lese ich erst selbst und schaue, ob das für uns passt.
Proteste vor und nach dem 16. September 2022
Norbert Reichel: Sie sprachen von der Gründung im Kontext der „Grünen Bewegung“, den Wahlfälschungen, die zur zweiten Präsidentschaft von Mahmud Ahmadineschād führten. Wir sprechen heute, am 15. September 2023, einen Tag vor dem Jahrestag der Ermordung von Jina Mahsa Amini. Wie unterscheiden sich die Protestbewegungen von 2010 / 2011 von denen nach dem 16. September 2022 aus Ihrer Sicht? Die Aufmerksamkeit in Deutschland hat sich leider hat nicht halten können.
Farhad Payar: Die Bewegung ist in ihrer Form, ihrer Dauer und in den Forderungen einmalig. Sie ging von Frauen aus, weil Jina Mahsa Amini wegen ihrer Kleidung verhaftet wurde, die nicht vorschriftsmäßig war. In dem Video, in dem sie bei der Polizei zu sehen ist, trägt sie das Kopftuch vorschriftsmäßig, nach den Vorstellungen der Islamischen Republik Iran. Gezwungenermaßen. Ihre Verhaftung, ihr Tod war der Grund für viele, sich mit ihr zu solidarisieren. Viele Frauen haben ihre Kopftücher abgenommen.
Ich muss allerdings auch sagen, dass es bereits vorher Kampagnen von Frauen gab, die ihre Kopftücher abgenommen haben, zum Beispiel „Meine heimliche Freiheit“ von Masih Alinejad. Masih Alinejad lebt in den USA und ist eine Symbolfigur geworden. Sie hat von dort aus 2014 eine Facebook-Kampagne gestartet, auch im Iran, die Frauen sollten ihre Kopftücher abnehmen, ihre Haare offen zeigen. Sie bekam eine Unmenge von Bildern von Frauen mit offenem Haar, natürlich mit verdecktem Gesicht. Es gab auch die Eine-Million-Unterschriften-Kampagne, die im Jahr 2006 gegründet wurde, in der es um die diskriminierenden Gesetze gegen Frauen ging.
Die Frauen haben bereits am 8. März 1979 gegen die Kleidervorschriften, gegen den Hijab, demonstriert. Aber diese Proteste führten nach dem 16. September 2022 zu einem Protest gegen das Regime. Es hieß nicht mehr: Wir möchten das Kopftuch nicht mehr, sondern: Wir möchten das Regime nicht mehr.
Die Getöteten, die Verhafteten auf den Straßen waren hauptsächlich junge Leute. Studentinnen und Studenten, Schülerinnen und Schüler. Aber der Funke sprang zuvor nicht auf andere Schichten der Gesellschaft über, zum Beispiel auf Krankenschwestern, Ärztinnen und Ärzte, Beamtinnen und Beamte. Es blieb in einem kleineren Rahmen, im Vergleich zur Gesamtgesellschaft. Es waren schon sehr große Demonstrationen in fast allen Städten. Aber der Unterschied war der, dass es zunächst von Frauen ausging, sich aber jetzt seit dem 16. September 2022 gegen das gesamte System verbreitete. Die Forderungen waren für die ganze Welt klar und sichtbar. Frühere Proteste gegen Teuerungsraten, gegen Manipulationen bei den Wahlen – da ging es um Forderungen, die die Welt nicht so direkt betrafen. Aber jetzt mit dem Gedanken, dass eine Frau sich so anziehen möchte wie sie will, war das überall sichtbar, in Afrika, in Asien, in Europa, in Amerika, egal wo. Das konnten alle verstehen. Deshalb wurde die Bewegung auch international unterstützt. Seit der Islamischen Revolution von 1979 gab es keine vergleichbare internationale Solidarität.
Diese Solidarität gibt es erst seit etwa einem Jahr, weil die Forderungen für alle verständlich waren: ich will frei leben, ich will anziehen was ich will, ich will ein politisches System, das ich will, nicht etwas, das meine Großeltern für mich entschieden haben. Musiker haben getanzt, sie wurden verhaftet, weil sie auf der Straße tanzten. Hätte jemand gesagt, wir möchten eine Revolution nach dem Vorbild von wem auch immer, Marx, Lenin, die Französische Revolution, hätte sich das niemand vorstellen können, aber das, was im letzten Jahr geschah, das war klar und verständlich.
Es gibt wirklich eine Zeit vor der Bewegung Frauen – Leben – Freiheit und eine Zeit danach. Es gibt überall im Land Frauen, die ohne Kopftuch in Cafés sitzen. Es gibt Bilder von Polizisten, die von den Menschen gejagt werden. Das gab es vorher nicht, weil die Menschen Angst vor der Staatsgewalt hatten. Ich habe keine Umfragen zur Hand, aber nach dem, was wir aus den Medien und unseren Informationsquellen wissen, hat die Mehrheit die Iranerinnen und Iraner die Angst vor dem Regime und seinen Repressalien verloren. Natürlich wissen alle um die Brutalität des Regimes, dass man sein Leben aufs Spiel setzt, aber sie tun es trotzdem. Das ist phänomenal.
Anhaltende Solidarität
Norbert Reichel: Und es hält an. Ein anderer Gesprächspartner sagte mir, das Regime wackelt gewaltig. Aber ich würde gerne von Ihnen wissen, wie Sie die internationale Unterstützung einschätzen. Ich habe den Eindruck, dass die Aufmerksamkeit für den Iran nachgelassen hat, weil andere Themen dominieren: natürlich nach wie vor der Krieg gegen die Ukraine, die Energiekrise. Menschenrechte im Iran und in anderen Ländern gerieten in den Hintergrund. Oder lese ich die falschen Zeitungen?
Farhad Payar: Da haben Sie recht. Am Anfang gab es eine Zeit, im Herbst, September, Oktober, November 2022, mit sehr vielen Berichterstattungen, es gab von allen Parteien, von der Bundesregierung Druck auf den Iran. Bundeskanzler Olaf Scholz hat dazu Stellung genommen. Aber mit der Zeit wurde natürlich die Bewegung mit aller Gewalt unterdrückt und so gab es weniger Berichte aus dem Iran. Das beeinflusst auch die Iranerinnen und Iraner in der Diaspora. Und es hat Einfluss auf die Medien.
Ich muss aber auch sagen, dass ich erstaunt bin, dass sich deutsche Politikerinnen und Politiker für eine Sache stark gemacht haben, die nicht in Europa passiert.
Norbert Reichel: Dazu gehören auch die vielen Patenschaften von Abgeordneten des Deutschen Bundestages mit Menschen, die in iranischen Gefängnissen inhaftiert sind. Einige hatten sogar Erfolg.
Farhad Payar: Das ist einmalig. Das ist aber auch den Aktivistinnen und Aktivisten im Iran zu verdanken. In Deutschland wäre man vielleicht nicht von selbst auf die Idee gekommen. Aber es gibt auch andere, die keine Iranerinnen oder Iraner sind, die sich engagieren, so beispielsweise Düzen Tekkal von der Menschenrechtsorganisation HAWAR.help. Sie setzt sich unaufhörlich für die Belange der Zivilgesellschaft im Iran, für die Frauen im Iran ein. Ihre Stimme hat Gewicht. Für mich war die Solidarität mit den Menschen im Iran enorm.
Es ist aber auch irgendwie menschlich und verständlich, wenn man nach acht Monaten oder nach einem Jahr nicht mehr die Energie hat, die man von Anfang an gehabt hat. Weil die Proteste so brutal unterdrückt wurden, sah man auch noch kein Ergebnis. Für die Iranerinnen und Iraner im Ausland gibt es dennoch einen Unterschied: das Regime musste viel mehr noch auf Gewalt setzen. Aber das spürt man hier nicht so, weil es nicht hier geschieht. Auch in anderen Ländern werden die Menschenrechte verletzt, in Saudi-Arabien, in den Golfstaaten, in südamerikanischen, in afrikanischen Ländern. Aber ich würde sagen, im Vergleich haben sich die Politikerinnen und Politiker und die Verteidigerinnen und Verteidiger der Menschenrechte sehr für den Iran eingesetzt. Es gibt diese Unterstützung immer noch – Sie selbst sind ein Beispiel. Gestern, am 14. September 2023, wurde in Potsdam der M100 Media Award an die Bewegung Frauen – Leben – Freiheit verliehen. Zwei Frauen waren dabei, eine hatte bei den Protesten ein Auge verloren, die andere ist eine Frauenaktivistin, Shima Babai, die im Iran auch im Gefängnis war. Sie lebt jetzt im Exil in Belgien. Die EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen hat die Laudatio gehalten. Es gibt immer mal hier und da Preisverleihungen, Berichte, gestern noch von der Deutschen Welle, in englischer Sprache.
Norbert Reichel: Bei aller Repression habe ich den Eindruck, dass das Regime die Lage nicht mehr kontrolliert. Alte bis sehr alte Männer sind an der Macht, sodass vielleicht Hoffnung besteht, dass sich mit deren absehbarem Tod etwas verändert?
Farhad Payar: Die haben ihre Nachfolger schon bestimmt, es geht auch um Geld und Macht, aber die Bevölkerung will das System nicht mehr. Die Machthaber sind nicht in der Lage, die Bevölkerung zufriedenzustellen. Wenn man ihnen die einfachsten Menschenrechte abspricht, kann man nicht erwarten, dass die Bevölkerung sie noch unterstützt. Die einfachsten Dinge sind: ich ziehe an, was ich will, ich esse, ich trinke was ich will. Selbst das dürfen die Menschen nicht.
Norbert Reichel: Obwohl es das im privaten Raum alles gibt. Es gibt Wohnungen mit privaten Brauereien, Treffen von Menschen, die sich über alles unterhalten.
Farhad Payar: In der Öffentlichkeit sieht das anders aus. Wenn sich drei Arbeiter öffentlich treffen und Lohnerhöhungen fordern, werden sie verhaftet und gefoltert, weil sie angeblich von ausländischen Mächten angestiftet wurden, um Unruhe zu stiften.
Das Regime hat einfach Angst vor jungen Frauen in der Provinz, die eigentlich keine Gefahr für es wären. Diese Angst und die Repression ist ein Zeichen der Schwäche, nicht der Stärke. Wenn in Deutschland 10.000 Leute auf die Straße gehen, um gegen die Regierung zu protestieren, kümmert das die Regierung nicht. Im Iran würde aus Hubschraubern auf die Leute geschossen werden.
Die Islamische Republik wurde 1979 angeblich mit 99 Prozent der Stimmen beschlossen. Auch wenn das etwas übertrieben sein mag, haben wohl etwa 90 Prozent der Menschen damals dieses Regime gewählt, auch wenn niemand so richtig wusste, was es war.
Norbert Reichel: Die Diktatur des Schahs war vorbei und die Menschen wählten einfach etwas Neues. Alle hatten wohl sehr verschiedene Vorstellungen.
Farhad Payar: Genau. Wie eine Melone. Pandoras Büchse. Die Menschen wollten etwas Neues. Bei den letzten Wahlen haben im gesamten Land etwa 30 Prozent, in Teheran noch weniger Menschen sich an der Wahl beteiligt. Natürlich werden die Zahlen von der Regierung erhöht. Aber es ist so, dass alle Stimmen, die nicht die Forderungen der Hardliner unterstützen, aus der Welt geschaffen wurden, auch in den eigenen Reihen. Diejenigen, die wählen, das sind Beamte, die einen Stempel in ihrer Geburtsurkunde brauchen. Die Wahlen sollen jetzt digital werden, damit können sie alles automatisch so beeinflussen wie sie wollen. Etwa 30 Prozent gingen bei der letzten Präsidentschaftswahl zur Wahl, davon etwa die Hälfte, der es egal ist, wer an der Macht ist, die auch ein monarchistisches oder kommunistisches System unterstützen würden. Es bleiben etwa 15 Prozent, das sind Funktionäre, Mullahs, die Familien, die Revolutionstruppen, die bleiben unter sich.
Eine Freundin hat mir vor Kurzem etwas Interessantes erzählt. Es ist so weit, dass die Bevölkerung ihr eigenes Leben lebt und die Regierung ein anderes. Die Regierung macht was sie will. Die Menschen machen was sie wollen. So kann es ja nicht weitergehen.
Barjam 1 – Barjam 2
Norbert Reichel: In Deutschland wurde der Iran in den letzten zehn Jahren immer wieder unter dem Stichwort „Atomabkommen“ diskutiert. Das wurde von Obama initiiert, es gab die 5+1-Gespräche. Deutschland war beteiligt, spielte aber nicht die rühmlichste Rolle. Das wurde in dem von Stephan Grigat herausgegebenen Buch „Iran, Israel, Deutschland“ (Leipzig, Hentrich & Hentrich, 2017) ausführlich und gut recherchiert beschrieben. Die Legende: wenn der Iran die Atombombe nicht bekommt, ist die Gefahr gebannt. Ich selbst habe befürchtet, das sei eine Illusion, ein ungedeckter Scheck auf die Zukunft. Ich habe keine abschließende Meinung dazu. Wie bewerten Sie diese Frage?
Farhad Payar: Ich hatte ehrlich gesagt gehofft, dass durch dieses Abkommen eine Öffnung zum Rest der Welt entsteht und die Feindschaft mit dem Rest der Welt, mit der Welt außerhalb der islamischen Welt, auch die Feindschaft innerhalb der islamischen Welt verschwindet. Das Abkommen heißt im Iran Barjam. Manche sagten, es ist Barjam 1. Barjam 2 würde folgen, ein Abkommen zwischen dem Regime und der Bevölkerung, dass sie Frieden schließen, die Menschen nicht mehr unterdrückt werden, dass die im Ausland eingefrorenen iranischen Gelder, die freigegeben wurden, für die Menschen ausgegeben werden, für neue Schulen, für Straßenbau, für die Krankenversicherung. Leider ist nicht klar, was mit dem Geld passiert ist. Manche meinen, die Gelder wurden den Revolutionsgarden überlassen, damit diese Unsicherheit in anderen Ländern verbreiten, dort eine Revolution nach iranischem Vorbild anzetteln. Die Reichen sind reicher geworden, die Armen ärmer. Das ist die Bilanz der drei Jahre von 2015 bis 2018, in denen das Abkommen bestand. Deshalb bezweifele ich auch heute, ob Gelder, wenn sie freigegeben würden, der Wohlfahrt dienen oder den Interessen der Hardliner für ihre Revolutionsideen in der Welt. Es heißt, die Amerikaner bestehen darauf, dass die Gelder für bestimmte Sachen ausgegeben werden. Die Regierung verspricht das auch. Es geht um sechs Milliarden Dollar. Ein solches Abkommen hätte etwas bringen können, aber in den drei Jahren ist kein Pluspunkt spürbar.
Norbert Reichel: In der Zeit ist der Iran expandiert. Er hat erfolgreich versucht, seinen Einfluss in Nachbarstaaten zu vergrößern, zum Beispiel in Syrien, auch im Irak, bis an die israelische Grenze, bis an das Mittelmeer. Gegenüber anderen islamischen Staaten, die nicht unbedingt befreundete Staaten sind, hat man sich als Verteidiger der Palästinenser hingestellt. Für die Bevölkerung ist nichts herausgekommen. Es ging lediglich um Einflusssphären, um sich als Regionalmacht zu etablieren.
Farhad Payar: Das hat Geschichte. Khomeini hat als Revolutionsführer 1979 gesagt, alles müsse getan werden, damit die Islamische Republik Iran erhalten bleibt. Man würde sogar eine Moschee zerstören, wenn es dem Erhalt des Systems dient. Der Erhalt des Systems hat absolute Priorität, nicht die Bevölkerung. Die Machthaber im Iran, an erster Stelle Ali Khameini, sie sprechen von Ummat Islami (wird auch im Persischen so ausgesprochen). Das ist der Begriff für die islamische Welt, die muslimische Gemeinschaft in der gesamten Welt. Ein Iraner, der Christ ist, Baha’i, Jude, Atheist, ist viel weniger wert, als ein gläubiger Muslim am anderen Ende der Welt. Sie sind keine Regierung der iranischen Bevölkerung, sondern der islamischen Gemeinschaft in der gesamten Welt. Das ist ihre Doktrin. Nach dem Iran sollte auch im Irak die islamische Revolution stattfinden. Das hat Saddam Hussein dem Iran vorgeworfen. Das ist ihre Doktrin: heute der Iran, morgen die ganze Welt.
Norbert Reichel: Und Hauptgegner ist dann Israel, zumindest in der Region, der „kleine Satan“ neben dem „großen Satan“ USA.
Farhad Payar: Es geht um die Muslime. Israel wird mit Vernichtung gedroht, nicht weil es Araber unterdrücke, sondern weil es Muslime unterdrücke. Das ist auch viel Bigotterie. Sie lassen ihre Kinder im Ausland erziehen. Die leben dort ganz und gar nicht nach islamischen Vorschriften. Auch nicht im Inland. Da gibt es Pool-Parties, sie leben in Saus und Braus. Was sie bei ihren Kindern akzeptieren, verbieten sie allen anderen. Die Muslime in China werden unterdrückt, aber weil sie mit den Chinesen verbündet sind, verlieren sie kein Wort darüber. Sie verkaufen Öl nach Indien, doch Muslime stehen in Indien unter Druck.
Norbert Reichel: Manche sprechen – nicht ganz zu Unrecht – beim Hindunationalismus der Partei des Premierministers von antimuslimischem Rassismus. Auf mich wirken die iranischen Bemühungen im Rahmen der internationalen Beziehungen erratisch. Man ist jetzt bei den BRICS-Staaten dabei, man versucht Bündnisse mit Russland, mit China. Aber ich habe nicht den Eindruck, dass der Iran dort überall große Akzeptanz genießt, sondern eher, dass sich dort die letzte Hoffnung zeigt, dass man doch noch als Regime überleben kann.
Farhad Payar: Und Russland oder China nutzen den Iran für ihre Interessen gegen den Westen. Würde der Westen ihren Interessen entgegenkommen, würden sie den Iran fallen lassen. Sie sagen, sie tun alles, um die muslimische Gemeinschaft zu verbreiten und dann handeln sie mit denen, die die Muslime unterdrücken. China und Indien sind die Haupteinkäufer von iranischem Öl.
Wir haben es im Iran eigentlich mit mafiösen Strukturen zu tun. Das sind Gruppierungen von Clans, die alles in der Hand haben. Fluggesellschaften, Industrie, Unternehmen für Öl-Förderung und Öl-Export sind in den Händen der Revolutionsgarden. Natürlich sind die nicht alle gleich. Es gibt konkurrierende Machtzentren, unter den Mullahs, auch unter den Revolutionsgarden.
Fragile Hoffnung
Norbert Reichel: Ein Fazit?
Farhad Payar: Ich kann als Fazit nur sagen: Realpolitik ist etwas anderes als moralisches Handeln. Wenn man in der Opposition ist, kann man leicht moralisches Handeln verlangen. Wenn man an der Macht ist, sieht man die Brutalität der Realpolitik. Da muss man Abstriche machen, Menschen die Hände schütteln, die mit Blut verschmiert sind. Man tut es, weil man Öl braucht, Gas braucht. Ich möchte nicht in der Haut der Bundesregierung stecken. Die haben viele Vorstellungen vom Guten, die mit der realen Politik zusammenprallen.
Norbert Reichel: Aber es gibt Grenzen. Welche Grenze sollte man nicht überschreiten?
Farhad Payar: Am Beispiel Iran. Der Iran wird immer nachgeben, wenn die europäischen Partner gemeinsam handeln, egal auf welchem Gebiet. Wenn man sich Berichte die iranischen Drohnen anschaut, die jetzt von Russland verwendet werden – dazu gibt es Berichte von unabhängigen Experten –, sieht man, dass die aus Teilen aus westlichen Ländern, bestehen.
Norbert Reichel: Und das Überwachungssystem nutzt Technologie der Firma Siemens.
Farhad Payar: Es sind nicht nur die Regierungen, es ist auch die Industrie. Es ist nicht einfach, der Industrie vorzuschreiben, was sie tun darf und was nicht. Das ist Realpolitik. Deshalb dürfen wir, die wir für Menschenrechte kämpfen, nicht aufgeben und müssen egal wo in der Welt für die Menschenrechte eintreten.
Norbert Reichel: Wir wissen auch nicht, was geschieht, wenn das iranische Regime kippt. Ich will nicht ausschließen, dass – wie damals 1979 – eine Situation entsteht, in der viele Modelle, Parteien, Gruppierungen miteinander konkurrieren, von denen sich dann eine durchsetzt. Es ist natürlich genauso möglich, dass eine pluralistische Demokratie entsteht. Meines Erachtens ist auch ein ähnlich fragiles Szenario wie im Irak nicht unwahrscheinlich. Aber auch im Westen ist Vorsicht angezeigt. Gerade die Erfahrungen von 1979 zeigen, dass der Westen auch schnell auf die falschen Leute setzt. Khomeini wurde als Befreier gesehen, obwohl man es hätte besser wissen können, wenn man seine Schriften und Vorträge gelesen hätte. Aber Khomeini war auch sehr geschickt, er wusste wie man Menschen – und Regierungen – fängt. Katajun Amirpur hat das in ihrer Khomeini-Biografie (München, C.H. Beck, 2021) sehr plastisch beschrieben.
Farhad Payar: Alles ist möglich. Was wir heute besprochen haben, kann morgen nicht mehr gültig sein. Die Entwicklungen sind rasant. Wir wissen, dass die Menschen im Iran unzufrieden sind. Wenn das Regime nicht nachgibt, wird die Bevölkerung keine andere Wahl haben als eine Revolution anzuzetteln. Und in Revolutionen haben sich erfahrungsgemäß nicht unbedingt die Demokraten durchgesetzt, sondern diejenigen, die bereit waren, die Waffe in die Hand zu nehmen, andere zu erschießen und später auch Andersdenkende hinzurichten.
Ein Dichter, ein Schriftsteller wird nicht auf die Idee kommen, eine Waffe in die Hand zu nehmen. Es gibt viele Gruppierungen im Iran, auch Islamanhänger, die gegen das Regime sind, auch in den Revolutionsgarden, und die bereit sind, die Waffe in die Hand zu nehmen. Es kann alles passieren. Es kann ein zweites Syrien werden. Es kann auch im Handumdrehen ein demokratischer Iran werden, wie wir uns noch nicht vorstellen können. Diejenigen, die eine Demokratie einrichten könnten, sind im Gefängnis oder im Ausland. Es ist schwierig, eine Prognose abzugeben, was im September 2024 im Iran geschehen wird.
(Anmerkungen: Erstveröffentlichung im Oktober 2023, Internetzugriffe zuletzt am 30. September 2023. Titelbild: Corinna Heumann, „Beauty! – Botticelli Meets Calligraphy 2022” – © Corinna Heumann.)
Weitere Texte zum Iran finden Sie im Demokratischen Salon in der Rubrik „Levantinische Aussichten“.