Marshmallows in der Politik
Klimaschutz ist gut, aber wir sind NIMBY
Ende der 1960er Jahre führte der US-amerikanische Psychologe Walter Mischel einen Test mit vierjährigen Kindern durch, der als „Marshmallow-Test“ bekannt wurde. Ziel war es herauszufinden, ob Kinder bereit wären, das Bedürfnis nach einem Marshmallow aufzuschieben, wenn ihnen für diese Bereitschaft versprochen würde, dass sie zu einem späteren Zeitpunkt zwei Marshmallows erhielten. Das Ergebnis dieser und weiterer Tests dürfte ermutigen: Kinder lernten mit der Zeit, ein unmittelbares Bedürfnis aufzuschieben. Das Experiment gelang auch bei Tieren, beispielsweise bei Schimpansen, Haushunden, Krähen und einer bestimmten Spezies der Tintenfische. Tintenfische konnten durch das mit den Tests verbundene Training sogar ihre kognitiven Leistungen verbessern.
Ist der Marshmallow-Text auf andere Gegenstände und Versprechungen übertragbar? Sind wir bereit, eine Woche, einen Monat auf Fleisch zu verzichten, wenn wir zu einem späteren Zeitpunkt ein besseres Stück Fleisch erhalten? Sind wir bereit, für eine weite Reise mit dem Auto auf kleine Fahrten zu verzichten, weil wir dann dort, wo wir wohnen, bessere Luft atmen können? Sind wir vielleicht sogar bereit, jetzt etwas mehr für Kaffee, für Benzin, für Fleischprodukte zu bezahlen, weil wir dann auch noch zu einem späteren Zeitpunkt diese Produkte erwerben können?
Ob diese Beispiele, denen sich noch einige mehr hinzufügen ließen, den exakten Testbedingungen des Marshmallow-Tests entsprechen, möchte ich nicht bewerten, aber festhalten lässt sich, dass Bedürfnisaufschub, Selbstkontrolle, Verzicht durchaus etwas mit den aktuellen Debatten um Klima- und Artenschutz, um die Zukunft unserer Erde zu tun haben. Die allgemeine medial vermittelte Debatte jedoch scheint zu vermitteln, dass niemand bereit ist, auf irgendetwas zu verzichten, was seit Jahren oder Jahrzehnten liebgewonnene Gewohnheit ist, nicht heute, nicht morgen, nicht übermorgen.
Andererseits sind viele Deutsche offenbar bereit, für die Aufrechterhaltung des aktuellen Konsumverhaltens Geld zur Verfügung zu stellen, zumindest solange das eigene Bankkonto nicht direkt betroffen zu sein scheint. Anders ließe sich der Ablasshandel nicht erklären, den Politiker*innen gerne propagieren, beispielsweise über den sogenannten Emissionshandel, der sogar angeblich weltweit funktionieren soll. Wenn Menschen in Pakistan wenig Schadstoffe ausstoßen, könnten wir doch bei unserem Niveau des Schadstoffausstosses bleiben, wenn wir dafür Geld an Pakistan zahlen. Im Grunde eine Art Nullsummenspiel. Nicht in der Rechnung enthalten ist, dass wir eigentlich auch für die durch unseren Schadstoffausstoss verursachten Überschwemmungen zahlen müssten. Naja, nicht ganz, denn für das, was Deutsche für Naturkatstrophen halten, spenden sie gerne an Hilfsorganisationen. Allerdings gibt es da auch ein gewisses Unverhältnis: Pakistan und Mosambik werden weniger bedacht als die Türkei, Erdbeben und Tsunami erscheinen spendenwürdig, Überschwemmungen offenbar nicht. Aber auch Spenden können den Charakter eines Ablasshandels erfüllen, ungeachtet der darin durchaus anerkennenswerten humanitären Geste. Nur an unserem eigenen Verhalten ändert sich nichts.
Änderungen des eigenen Verhaltens werden politisch nicht gefördert und wenn jemand solche fordert, wird unterstellt, dass die Menschen mit Verboten gegängelt werden sollten. In dieser Hinsicht tun manche Politiker*innen durchaus das, was Gerhard Schröder weiland ankündigte: Politik mit BILD, BamS und Glotze. Die Grünen hingegen werden erfolgreich als Verbotspartei markiert, die Fleischkonsum, Autofahren, Fernreisen, Eigenheime und was auch immer zum Wirtschaftswunderfeeling der 1950er Jahre gehörte, den Deutschen vermiesen und wegnehmen wollten. Und die Grünen lassen sich – brav wie sie sind – ins Bockshorn jagen. War ja alles nicht so gemeint, es soll ja auch Entschädigungen für all diejenigen geben, die dadurch finanziell belastet werden und vor allem gibt es vor jeder Maßnahme – beispielsweise der kleinsten Veränderung in der Verkehrsführung – erst einmal endlose Beteiligungsprozesse. Die einen wollen keine Windräder, die anderen wollen keine Überlandleitungen vor der Haustür, andere wehren sich wiederum gegen eine zusätzliche Bahnstrecke und die Haftbedingungen von Nutztieren werden verteidigt, als gelte es, die eigene Freiheit zu verteidigen. Klimaschutz ist gut, aber wir sind NIMBY (Not In My Backyard).
Alles Mögliche wird als „Freiheit“ deklariert, was eigentlich gar nichts damit zu tun hat. Andererseits gibt es auch durchaus nachvollziehbare Gründe für den Widerstand gegen manche Maßnahmen. Nachdem über Jahrzehnte Eisenbahnstrecken stillgelegt und Busfahrpläne so weit ausgedünnt wurden, dass allenfalls noch der Schulbus fährt, kleine Geschäfte in Wohnungsnähe durch große Einkaufszentren in der Peripherie – natürlich ohne Nahverkehrsanschluss – ersetzt wurden, bleibt vielen Menschen in der Tat nichts anderes übrig als mit dem Auto zur Arbeit und zum Einkaufen zu fahren. In ländlichen Regionen kann man aus der Zahl der Autos eines Haushalts schließen, wie viele Menschen über 18 Jahre in dem jeweiligen Haus wohnen. Kein Wunder, dass hier keine sonderliche Sympathie für eine Verkehrswende zu erzielen ist. Andererseits schieben immer wieder diejenigen die Pendler als Betroffene vor, die selbst entweder gar nicht pendeln oder eben dank Dienstwagen ohnehin hin- und herchauffiert werden. Die Zahl der Privatflüge ist in letzter Zeit sogar gestiegen.
Es gibt auch andere nicht allzu durchdachte Versuche. Wer Lastenräder, E-Bikes, Carsharing und Lieferdienste als Lösung des Problems anpreist, argumentiert auch an manchen Lebenswirklichkeiten vorbei. Wo soll jemand, der in einer Etagenwohnung lebt, ein Lastenrad parken? Was ist bei Regen und Schnee? Und wo ist die Carsharing-Station im Dorf? Mitunter drängt sich mir der Eindruck auf, als würden solche Vorschläge ausschließlich von Menschen vorgebracht, die ein eigenes Haus mit großen Garagen (natürlich für die Lastenräder) und eigener E-Auto-Ladestation haben.
Aber keine Sorge: alle sollen vom Staat entlastet werden. Aber nicht nur diejenigen, die es wirklich brauchen, sondern alle. Das verstehen der Parteivorsitzende der FDP und manch andere unter Gerechtigkeit. So funktionieren Benzinrabatt, Heizkosten- und Pendlerpauschalen. Selbst Menschen mit fünfstelligem Netto-Einkommen erhielten kürzlich die Nachricht, dass für sie der Strom billiger würde und fanden eine Heizkostenpauschale auf ihrem Konto vor. Und vom bezuschussten Benzin – sozusagen eine negative Öko-Steuer – profitierten alle, am meisten die, die Autos mit besonders hohem Benzinverbrauch fahren.
Kurz: die Grünen verfolgen ein richtiges Ziel, dem auch im Grundsatz alle anderen zustimmen, aber sie haben sich in eine Situation hineinmanövriert, in der sie die Rolle der Kassandra spielen, aber wer mag schon Kassandra? Da ist es für alle anderen Parteien leicht, sich zu Prophet*innen des technologischen Fortschritts aufzuschwingen und mit dem Verweis auf die sozialen Notlagen von Menschen, die man sonst am liebsten selbst für ihre Notlage verantwortlich macht, den eigenen Sehrwohlstand zu rechtfertigen. Auf einmal wird gemutmaßt, der Durchbruch der Kernfusion stünde kurz bevor. Und die Kernkraft! Die Grünen haben es geschafft, dass bei jedem vermuteten Engpass der Energieversorgung zukünftig alle anderen Parteien rufen werden: Kernkraft! Niemand hat die Verfechter*innen der Kernkraft jedoch gefragt, woher die Brennstäbe kommen sollen, wie der Betrieb in Zeiten fehlenden Kühlwassers sichergestellt werden könnte (siehe Frankreich), wohin mit dem Müll und wo sie vielleicht neue Kernkraftwerke bauen möchten. Gilt auch hier NIMBY?
Vielleicht geht es aber doch anders? Man müsse Chancen, nicht Verbote in den Mittelpunkt der Veränderung stellen, das ist die Botschaft des Hannoveraner Oberbürgermeisters Belit Onay: „In Hannover sperren wir keine Straßen, wir öffnen sie.“ Nach und nach machen auf Hannovers Straßen Autos Platz für Theateraufführungen, Sport und Spiel. Die anfängliche Skepsis ist längst gewichen. Felix Hackenbruch berichtete am 1. April 2023 im Tagesspiegel (nein, kein Aprilscherz). Mehrere Städte, als erste Hannover, haben inzwischen auch mit Vertreter*innen der „Letzten Generation“ ausgehandelt, dass sie ihre Ziele (Tempo 100, 9-EURO-Ticket, mehr ist es wirklich nicht, eigentlich eher ein Armutszeugnis dieser Bewegung) unterstützen, wenn sie in Zukunft Blockade-Aktionen unterlassen. Es funktioniert. Ein weiteres – bei Grünen leider nicht gerne zitiertes Beispiel – bietet Tübingen mit seinem Oberbürgermeister Boris Palmer.
Warum klappte das in Berlin nicht? Warum scheiterte die Initiative „Berlin 2030 klimaneutral“? Das Beispiel „Friedrichstraße“ wäre eine Erklärung. Wer eine Straße für Autos sperrt, sie dann aber zur Fahrrad-Rennstrecke werden lässt und die ganze Straße weiterhin so hässlich und provisorisch ausschaut wie zuvor, sollte sich nicht wundern. Wer wirklich eine Verkehrswende will, muss Straßen attraktiv umgestalten (nein, keine Parklets), mit Grünflächen, attraktiven kleinen Geschäften, das Umfeld einbeziehen, wie gesagt: die Chancen, von denen Belit Onay spricht, auch umsetzbar machen. Und vor allem sollten gut erreichbare Park-and-Ride-Parkplätze hinzukommen, vielleicht sogar Parkhäuser in S- oder U-Bahn-Nähe, auf jeden Fall ein attraktiver Nahverkehr (den es in Berlin gibt, allerdings nicht in vielen anderen Städten, wo ab 20 Uhr kaum noch Busse und Bahnen verkehren, und schon gar nicht auf dem Land).
Vanessa Vu hat am 2. April 2023 in ZEIT-Online das Dilemma am Beispiel von Berliner Außenbezirken beschrieben, in denen diejenigen, die jede einzelne Maßnahme für den Klima- oder den Artenschutz als Zumutung betrachten, dann einfach die Partei wählen, über die sich alle anderen und vor allem die Grünen am meisten ärgern. Die Grünen sind eben die „Moralapostel“. Aber sind sie es wirklich? Diese Frage stellt Thomas Beschorner am 9. April 2023 in einem Gastbeitrag für die ZEIT. Die wahren „Moralapostel“ sind vielleicht ganz andere, vielleicht sind es diejenigen, die glauben, alle Probleme mit Technologie oder über den Markt (siehe Ablasshandel!) regeln zu können? Thomas Beschorner stellt bei diesen Menschen geradezu „religiöse Züge“ fest, wenn sie fordern: „Ökonomische Lösungen statt moralischen Gesäusels“.
Bei aller Wertschätzung ist es eben nicht wie bei Star Trek, wo Jordi La Forge und B’Elanna Torres immer eine technologische Lösung für jedes ökologische Problem finden. Ohne Verzicht, ohne Selbstkontrolle wird es nicht gehen. Es ist schon relativ lange her, da präsentierten Ernst-Ulrich von Weizsäcker, Amory B. und Hunter L. Lovins ihr Konzept „Faktor 4“. Seine Botschaft: technologische Lösungen sind die eine Seite („Effizienz“), Verzicht („Suffizienz“) ist die andere. Wenn es gelänge, dies zu vermitteln, würden wir den Marshmallow-Test bestehen, auch wenn die Belohnung nicht schon nach wenigen Minuten, Stunden oder Tagen erfolgt, sondern erst viel später, vielleicht sogar erst in der nächsten Generation, die dann eben nicht die „letzte“ sein muss.
Norbert Reichel, Bonn
(Anmerkungen: Erstveröffentlichung im April 2023, Internetzugriffe zuletzt am 14. April 2023.)