Neues Syrien, neue Levante?

Thomas von der Osten-Sacken über Chancen einer syrischen Demokratie

„‚Pragmatisch‘ lautet oft das erste Wort, wenn nun über die neuen Machthaber in Damaskus geschrieben wird. In der Tat reden die konservativen Männer mit den langen Bärten, die jetzt am Ruder sind, nicht erst seit der Übernahme des Landes von der ‚Mentalität des Staates‘, von ‚Zusammenleben‘ und von ‚Stabilität‘.“ (Tom Khaled Würdemann, Der nette Salafist? In: Jüdische Allgemeine 6. Februar 2025.

Niemand weiß mit Sicherheit, wie sich Syrien in den nächsten Monaten oder Jahren entwickeln wird. Es gibt ermutigende Hinweise wie beispielsweise während des Weltwirtschaftsforums, als der neue syrische Außenminister Assad Hassan Al-Schibani in einem Gespräch mit Tony Blair die Weltoffenheit der neuen Regierung hervorhob. Tom Khaled Würdemann verweist darauf, dass es erst einmal „offenbar keine Massaker gab. In dieser Phase geschahen bei Angriffen auf kurdische Gebiete in Nordsyrien die größten Menschenrechtsverletzungen, und diese gingen von türkisch gesteuerten Milizen aus, nicht von der HTS.“ Markus Richter porträtierte auf mena-watch Ahmed Al-Sharaa, den neuen Staatschef: „Vom Dschihadisten zum Staatsmann?“

Thomas von der Osten-Sacken, Gründer und Geschäftsführer der Hilfsorganisation WADI, die schwerpunktmäßig in der Region Kurdistan im Irak arbeitet, hat im Demokratischen Salon zuletzt die Arbeit von WADI vorgestellt: „Irakischer Alltag und Europa“. Auf Jungle Blog und mena-watch berichtet er regelmäßig über Entwicklungen in der MENA-Region, Anfang Februar 2025 über Belege, dass das Assad-Regime Kinder von inhaftierten Frauen in einem SOS-Kinderdorf unterbrachte, sowie darüber, dass die Frage der „Gleichheit aller Bürger vor dem Gesetz“ das entscheidende Kriterium einer demokratischen Entwicklung ist (Titel: „Tolerant wie die Sultane“), Ende Januar 2025 über seine Reise nach Syrien. Hoffnungszeichen oder Ruhe vor dem Sturm? Was bedeutet dies für die Nachbarn Syriens, für die verschiedenen Volksgruppen in Syrien, für Israel, für Europa, was für das Gleichgewicht verschiedener Akteure in der Region? Helfen unsere „westlichen“ Vorstellungen von Demokratie Syrien bei der weiteren Entwicklung?

Eine fast schon erschreckende Normalität

Norbert Reichel: Sie waren jetzt über eine Woche lang in Damaskus. Mit wem haben Sie sprechen können?

Zelle im Saidnaya-Gefängnis.

Thomas von der Osten: Wir hatten eine Fülle von Gesprächen, nicht nur in Damaskus. Wir waren im Anti-Libanon, wir waren auch in Saidnaya, dem inzwischen überall bekannten Gefängnis, in as-Suweida, der Hauptstadt der Drusen. Wir sprachen mit Leuten aus ganz unterschiedlichen Kreisen, die die diverse syrische Gesellschaft ausmachen.

Norbert Reichel: Was war Ihr Auftrag?

Thomas von der Osten: Es ist immer eine Art Doppelauftrag, in dem ich reise. Einmal im Rahmen unserer Hilfsorganisation WADI, um neue Partner zu finden, zu sehen, was gebraucht wird, was nötig ist. Dann versuche ich mir als freier Journalist auch einen Überblick über die Situation zu verschaffen. Ich hatte um 2011 viel Kontakt zu syrischen Oppositionsgruppen, die wir auch unterstützt hatten. Die Freude über den plötzlichen Sturz von Assad war so groß, dass wir uns sagten, die Gelegenheit nutzen wir jetzt und fahren hin.

Norbert Reichel: Ich nehme an, Ihre Partner waren vor allem zivilgesellschaftliche Organisationen, die unter Assad im Untergrund tätig waren.

Thomas von der Osten: Zum Teil. Man darf nicht vergessen, dass große Teile von Syrien nicht von Assad kontrolliert waren. Wir haben solange das möglich war an vielen Orten local committees unterstützt und auch mit Partnern in Syrisch Kurdistan, Rojava, zusammen gearbeitet.

Ich weiß, wie es in anderen arabischen Staaten nach dem Sturz der Regierung aussah, ich war nach dem Sturz der dortigen Regierungen in Bagdad, Kairo, Bengasi und Tunis. In Damaskus war ich zuletzt im Jahr 2009. Der große Unterschied gegenüber meinem damaligen Besuch bestand jetzt vor allem darin, dass es keine Assad-Bilder mehr gab und keine uniformierten Polizisten im Straßenbild. Es war eine sozusagen schon fast eine erschreckende Normalität

Norbert Reichel: Was meinen Sie mit Normalität?

Milizionäre des HTS geben ein Interview.

Thomas von der Osten: Es war die Normalität des Alltags. Mir sagten Leute, es sei sicherer als unter Assad. Restaurants und Cafés waren geöffnet, man konnte nachts, um Mitternacht, unbehelligt durch die Altstadt gehen. Das hatte ich so nicht erwartet. Überraschend in Damaskus war die äußerst geringe Präsenz von Sicherheitskräften. Früher sah man extrem viel Polizei, Geheimdienst, Militär. Es gab kaum Checkpoints, keine Ausgangssperren. Nichts. Wir haben im christlichen Viertel Bāb Tūmā übernachtet, die Bars waren geöffnet, es gab Alkohol. Das Leben auf der Straße war so wie es vor Beginn der Kriegshandlungen war.

Im Straßenbild habe ich vielleicht ein paar Niqabs mehr gesehen als vor 15 Jahren. Niqabs gab es in Damaskus damals nur bei Touristinnen aus den Golfstaaten oder Saudi-Arabien. Aber nachts um 11 Uhr sitzen auch heute Frauen in Cafés und rauchen Wasserpfeife.

Es kommt natürlich auch darauf an, in welchem Viertel man in Damaskus ist. Das erste Mal besuchte ich Syrien 1989, vor über 35 Jahren. Damals war ich im Norden des Landes erschreckt, wie viel verschleierte Frauen ich sah. Der syrische Norden, Hama, Aleppo, Idlib, war aber schon immer konservativer als der Süden, Damaskus, Homs, Darʿā. Und viele HTS-Leute kommen aus diesem Norden. Schon damals stellte sich Damaskus ganz anders dar als Aleppo. Jetzt sah man zwar die Milizionäre von HTS, die man an ihren Bärten erkannte, aber sie verhielten sich extrem zurückhaltend. Man merkt, sie haben eine entsprechende Order. Sie stehen an irgendwelchen Straßenecken, aber selbst von alten Freunden, die ich von früher her kannte, hörte ich, früher hätten sie Angst vor der Polizei und dem Geheimdienst gehabt, doch jetzt fühlten sie sich doch eher beschützt.

Ich sage das nicht aus leichtem Herzen, denn ich weiß, woher die HTS-Leute kommen. Ich habe mit drei jungen HTS-Milizionären zusammengesessen, die Tee gekocht haben und mit mir Selfies machen wollten. Die hätten mir vor 15 oder 20 Jahren im Irak den Hals abgeschnitten, wenn sie mich in die Finger gekriegt hätten. Der Vorläufer des HTS war damals die schlimmste Branche von al-Kaida. Ich werde nie vergessen, was die angerichtet haben, wie viele irakische Menschen sie abgeschlachtet, hingerichtet und weggebombt hatten. Syrer, mit denen ich jetzt habe sprechen können, haben mir gesagt, wir wissen, wo die herkommen, aber wir messen sie an ihren Taten, nicht an ihren Worten.

Zugleich hilft es wenig, die Lage in Syrien heute mit der im Iran 1979 zu vergleichen. Khomeini spielte den weisen Revolutionär im Exil. Er hatte, anders als HTS (noch) kein Blut an den Händen. Sobald in Syrien jetzt irgendetwas passiert, reagieren Menschen deshalb mit Angst und Empörung. In as-Suweida hat eine lokale Gruppe des HTS die Arrak-Fabrik geschlossen. Es gab große Proteste von den Bauern, den Menschen, die gerne Arrak trinken, dann kam die Order aus Damaskus, die Fabrik wieder zu öffnen. Die sind sehr vorsichtig.

Außerdem brauchen sie Geld. Die Zerstörung in Syrien kann man sich in Deutschland kaum vorstellen. 40 Prozent aller Gebäude liegen in Ruinen. Selbst in Damaskus. Die nordöstlichen Vororte wurden völlig zerstört. Es bedarf hoher Milliardensummen, um Syrien wieder aufzubauen. Die kommen nicht aus syrischen Ölquellen, denn so viel Öl hat Syrien nicht. Die Mittel müssten aus Europa und aus den Golfstaaten kommen. Nun wollen weder Europa noch die Golfstaaten, dass in Syrien ein Halsabschneider-System regiert. All diese gegen das Land verhängten Sanktionen wurden noch nicht aufgehoben. Es ist aber auch völlig klar, diese Sanktionen werden nur aufgehoben, wenn diese neue Regierung sich halbwegs benimmt.

Revolutionsdevotionalien im Bazar von Damaskus.

Es gibt auch zurzeit noch eine Doppelregierung. Die Minister wurden ausgetauscht, da sitzt jetzt ein HTS-Mann, aber die stellvertretenden Minister sind alle geblieben. Das ist die alte syrische Verwaltung. Die Übergangsregierungen in den Regionen außerhalb von Damaskus sind mit der Ausnahme von Idlib meist auch keine HTS-Leute. Man wollte offenbar auch Entwicklungen wie in Bagdad nach dem Sturz Saddam Husseins 2003 vermeiden, wo kein Ministerium mehr funktionierte. Die Leute sind damals einfach nach Hause gegangen. Wer dagegen in Syrien in der zivilen Verwaltung arbeitete, nicht die aus Geheimdienst oder Gefängnissen, bekommt eine Chance. Das ist aus Sicht einer Transitional Justice nicht erfreulich, denn sehr viele aus dem Mittelbau werden so vermutlich ungeschoren davonkommen. Hauptsache, so die Maxime, der Laden läuft weiter. Das hat bisher auch recht reibungslos funktioniert. Und im Mittelbau sitzen weiter die alten Assad-Leute, die keine Islamisten sind.

Die Frage ist deshalb auch gar nicht so sehr, ob der HTS eine Islamisierung von Syrien will, sondern inwiefern er sie praktisch durchsetzen könnte. Ohne Geld, in einer Gesellschaft, in der viele Menschen höchst alarmiert sind, wenn die kleinste Angelegenheit passiert? Ich sehe hier keine tragfähigen Parallelen zu 1979 im Iran, wo Khomenei durchaus anfangs eine Massenbasis hatte. HTS ist auch nicht so stark. Und besteht – zusammen mit Verbündeten – aus vielleicht 30.000 bis 40.000 Milizionären.

Eine Zukunft für Syrisch Kurdistan?

Norbert Reichel: In Syrisch Kurdistan spielt die Türkei eine schwierige Rolle, weil sie die dortigen Kurden mit der PKK identifiziert und daher möglichst vertreiben will. Die Syrer, die sich in die Türkei geflüchtet hatten, sollen möglichst schnell wieder zurück nach Syrien. Da stören die Kurden.

Thomas von der Osten: Wenn wir über die Kurden reden, sollten wir uns zuerst klarmachen, dass dieses Bild von den Kurden als einheitliches Volk extrem problematisch ist. Die Kurden sind keine homogene Einheit. Wir sollten daher nicht immer über die Kurden reden. Ich habe mit einer solchen Sicht ohnehin Schwierigkeiten, weil diese aus verschiedenen Menschen mit unterschiedlichen Einstellungen eine homogene Gruppe macht und sie damit auch irgendwie erniedrigt.

Das gilt auch für die Türkei. Es heißt immer, die Türkei ist gegen die Kurden. Die Türkei unterhält allerdings zum Beispiel hervorragende Beziehungen zu der Kurdisch-Demokratischen Partei (KDP) im Irak. Das würde Ihnen auch jeder türkische Regierungssprecher sagen. Sogar der ultranationalistische Sprecher der MHP hat das letztens erklärt: Wir haben kein Problem mit den Kurden, das ist unser Brudervolk, wir haben ein Problem mit der PKK als Terrororganisation. Das ist die offizielle türkische Position, die so natürlich auch nicht stimmt, aber man sollten sie schon wahrnehmen.

Bild von Abdullah Öcalan in Qamshly, Rojava.

Daraus ergibt sich das momentane Spannungsfeld. Im Irak wurde nach dem Sturz von Saddam Hussein eine föderale Verfassung verabschiedet. Die autonome Region Kurdistan im Irak ist ein selbstverwaltetes Gebiet. Mit extrem weitgehenden Autonomierechten. Das funktioniert trotz Spannungen gut. Einer der größten Handelspartner der Region ist die Türkei.  

In Syrien stellt sich die Situation ganz anders dar. Das hat seine Geschichte. Die Schwester-Partei der PKK, die PYD, spielt dort eine dominante Rolle. Ihr bewaffneter Arm, die YPG, hat ab 2012 de facto in Rojava die Macht übernommen. Zudem sind viele Kämpfer und alte Kader der PKK nach Syrien gegangen. Überall in den Ortschaften in Rojava hängen Bilder des in der Türkei inhaftierten PKK-Chefs Abdullah Öcalan. Die Nähe dieser beiden Parteien wird auch nicht in Frage gestellt. Die Türkei erklärt deshalb: „Wir wollen nicht, dass 300 Kilometer unserer Grenze von einer Terrororganisation kontrolliert werden, die auch in Europa und den USA auf der Terrorliste steht. Entweder das endet oder wir beenden es militärisch.“

Was folgt daraus? Welche Möglichkeiten gibt es, die weitgehende Autonomie in Syrisch Kurdistan zu erhalten? Gegen den Willen der Türkei ist das vermutlich nicht möglich, denn die Türkei ist dazu zu stark, sie ist zudem wichtiger NATO-Partner und wir alle wissen, dass im Fall, die USA oder die EU als momentane Schutzmächte Rojavas, würden vor die Wahl gestellt werden, sich für die Türkei oder Syrisch Kurdistan zu entscheiden, die Entscheidung für die Türkei ausfallen würde. Die Frage stellt sich deshalb: Gibt es Wege, wie eine starke Selbstverwaltung oder Autonomie, wie von allen syrisch-kurdischen Parteien gefordert, erhalten oder umgesetzt werden können, auch damit Massaker, Vertreibungen, ethnische Säuberungen, wie sie in der Vergangenheit stattgefunden haben, in Zukunft vermieden werden können, ohne dass die Türkei sagt, da machen wir nicht mit?

Norbert Reichel: Wäre eine föderale Verfassung eine Lösung?

Thomas von der Osten: Das müssen die Syrer erst einmal diskutieren. Es gibt in Syrien unter den Drusen, den Alawiten, auch unter anderen Gruppen, heftige und spannende Diskussionen, wie ein zukünftiges Syrien aussehen soll. Selbst die Drusen sind gespalten. In as-Suweida im Süden existiert eine Situation, die man mit Rojava ein Stück weit vergleichen kann. Dort wurden vor zwei Jahren die Assad-Truppen rausgeworfen. Das heißt, dort gibt es seitdem weitgehende Freiheit und eine Situation, die man in Syrien überall hätte haben können, wenn Assad nicht 2013 den Iran und die Russen geholt hätte, um die Protestbewegungen niederzuschlagen.

In as-Suweida können sich Menschen auf dem Revolutionsplatz, in den Cafés treffen und diskutieren, einfach frei sprechen. Das ging sonst in Syrien nicht. Es war in Syrien nicht möglich, auch nur ein politisches Gespräch zu führen ohne zu fürchten, dass der Geheimdienst das mitbekommt und einen verhaftet. Viele müssen jetzt beim Punkt Null anfangen. Das ist in as-Suweida und in Kurdistan anders. Es gibt in as-Suweida einerseits Stimmen, die für eine starke Dezentralisierung und Föderalisierung des Landes eintreten, eine andere Gruppe dagegen, die eine einheitliche Verfassung und einen Zentralstaat befürwortet will, die auf der Grundlage von Citizenship, auf gleichen Bürgerrechten beruhen.

Diese Diskussion müssen die Syrer erst einmal führen. Dies können wir nicht für sie tun. Wir können verschiedene Modelle nennen, das Modell in Deutschland, das Modell in Südtirol, das sehr interessant ist, das Modell in den USA. Föderalismus heißt ja nicht, wie oft von seinen Gegnern im Nahen Osten behauptet, Separatismus, sondern bedeutet ein anderes Verwaltungssystem, das man auf Sprache auf eigenen Territorien aufbauen kann. Das wurde so auch im Irak nach dem Sturz von Saddam Hussein so diskutiert.

Straßenkunst in Qamshly, Rojava.

Es gibt in Syrien allerdings einen wesentlichen Unterschied zum Irak, wo ein kompaktes kurdisches Siedlungsgebiet mit großen Städten existiert, in denen die kurdische Bevölkerung auch die Mehrheit stellt. Das ist in Syrien anders gelagert. Die Kurden in Syrien sind auf drei verschiedene Gebiete verteilt, die untereinander nicht verbunden sind. Es gibt ein Gebiet im Nordosten, um al-Hasaka und Quamishli, die Region um Kobane und Afrin. Ein Grund der fehlenden Verbindung liegt auch an einer gezielten Arabisierungspolitik des syrischen Regimes, das schon in den 1960er Jahren begonnen hat, das Grenzgebiet zur Türkei mit Arabern zu besiedeln, Kurden zu vertreiben und auszubürgern. Diese Arabisierungspolitik passte und passt der Türkei durchaus in ihr Konzept. Nur lassen sich diese demographischen Veränderungen nach so langer Zeit auch nicht einfach rückgängig machen. Dazu kommt, dass es keine wichtigen urbanen Zentren in Syrisch-Kurdistan gibt und deshalb viele syrische Kurden in die großen Städte migriert sind, nach Aleppo und Damaskus, in denen es bedeutende kurdische Stadtviertel gibt. Es liegen keine verlässlichen Zahlen vor, aber Kurden machen um die zehn Prozent der syrischen Bevölkerung aus, von denen wiederum ein bedeutender Teil nicht in Kurdistan lebt.  

Aber auch in diesen kurdischen Gebieten sind die Verhältnisse wiederum recht kompliziert, denn auch da macht die kurdische Bevölkerung mit etwa 60 Prozent die Mehrheit aus. Die anderen sind Araber, Assyrer, armenische Christen und Turkmenen. Da stellt sich dann die Frage, wie könnte eine Autonomie aussehen, die allen gerecht wird? Vor über zehn Jahren war ich ein wenig als Berater eines der Dachverbände syrischer kurdischer Parteien tätig. Damals fanden viele das Südtiroler Autonomie-Modell interessant, das auf sprachlicher und nicht ethnischer Basis funktioniert.

Insgesamt besteht überall in Syrien ein unglaubliches Bedürfnis, sich mit solchen Fragen auseinanderzusetzen. Welche Verfassung soll man sich geben? Welche Möglichkeiten und auch internationale Vorbilder gibt es, der Diversität Syriens gerecht zu werden? Was ist das Für und Wider einer föderalen Verfassung, das Für und Wider einer Dezentralisierung? Es wäre aus radikaldemokratischer europäischer Sicht deshalb auch eine unglaublich wichtige Initiative anzubieten, mit Menschen diese Modelle zu diskutieren, die Ideen, die hinter der Idee des Föderalismus stehen, die eben nicht auf Separierung fußen, sondern auch darauf, viele Checks and Balances einzurichten, um Rückfall in einen neuen zentralistischen Autoritarismus zu verhindern.

Gerade die deutsche Erfahrung mit dem Föderalismus und einem starken Parlament wäre etwas, woraus sich lernen ließe. Das passiert jedoch nicht. Das ist in Libyen nicht passiert, leider auch nicht in Tunesien, wo genau das passiert ist: Dort hat quasi der Präsident, dem in der Verfassung viel zu viel Rechte eingeräumt werden, das Land wieder in eine quasi Diktatur verwandelt. Vielen in Syrien fiel auf, dass Außenministerin Annalena Baerbock in Damakus zwar forderte, der Schutz der Minderheiten müsse garantiert werden, aber nicht von Demokratie und Bürgerrechten sprach. Nur ist dieser gesamte Minderheitendiskurs äußerst problematisch. Angefangen damit, dass Kurden in Kurdistan und Drusen dort wo sie leben keine Minderheit sind. Niemand würde ja auch ernstlich die italienischsprachigen Bewohner des Tessin als Minderheit in der Schweiz bezeichnen.

Es geht aber noch weiter, ganz besonders mit Blick auf nichtmuslimische Gruppen. Islamische Herrschaft war ja meist – keineswegs immer – eher tolerant gegenüber Christen und Juden, so lange sie als schutzbefohlene Untertanen (Dhimmis) ohne Bürgerrechte galten. Also muss man, so die Kritik vieler Aktivistinnen und Aktivisten in Syrien – und nicht nur dort – Bürgerrechte für alle fordern, über Gleichheit vor dem Gesetz, über eine auf Citizenship beruhende Verfassung reden. Bei dem Beharren auf Minderheiten kann nämlich jeder Islamist, der sich nur ein wenig moderat gibt, sagen: Bei uns haben Christen, Juden und andere „Minderheiten“ immer besser gelebt als bei euch in Europa, was wollt ihr eigentlich?

Bürgerrechte oder Identitätspolitik?

Junge in as-Suwaida.

Norbert Reichel: Die Besucher aus dem Westen wissen offensichtlich wenig über die Region.

Thomas von der Osten: Das ist die Tragödie des arabischen Frühlings von 2011, der jetzt seinen Fortgang findet. Junge Menschen gehen auf die Straße. Mit ihren Nationalfahnen. Sie sagen: Wir wollen Citizenship, wir wollen feste Grenzen, wir wollen Tunesier, Libyer, Syrer sein. Letztlich ist das das arabische 1848. Ein Friedrich Stolze, ein Heinrich Heine oder ein Victor Hugo würden sofort verstehen, was die Leute dort fordern. Wir aber reden über Kultur und Religion. Die spielen natürlich auch eine Rolle, aber letztlich geht es im gesamten Nahen Osten um Würde, Verfassung, Citizenship. Wir haben keine deutsche Übersetzung für dieses Wort, denn Staatsbürgerschaft ist etwas anderes. Auch Citoyennité ist etwas anderes als Citizenship.

All diese grundsätzlichen politischen Fragen, die man auch aus der europäischen Geschichte kennt, stehen in diesen Ländern auf der Tagesordnung. Fahren Sie nach as-Suweida und stellen Sie sich auf den Revolutionsplatz. Sie können dort sofort über solche Themen diskutieren. Da leuchten die Augen. Aber das begreift man in Europa irgendwie zurzeit nicht. Wenn Menschen dort „ein Gesetz für alle fordern“ meinen sie auch, dass aus bestehenden Verfassungen jene Bezüge auf islamisches Recht gestrichen werden sollen, in denen Frauen anders als Männer behandelt werden und anderes Recht für Muslime gilt als für Christen.

Norbert Reichel: Durchweg?

Thomas von der Osten: Mehr oder weniger. Ich war vier Tage in Tunesien, nachdem Ben Ali gestürzt war, und „Citoyennité“ tauchte überall als Forderung auf. Später haben wir mit Partnern in Syrien und im Irak Projekte auf den Weg gebracht, deren Motto war „Vom Untertan zum Bürger“. Das begeistert Leute: Formen lokaler Demokratie und Partizipation. Bloß keine Untertanen mehr sein, Bürger werden. Mit dem Slogan können alle dort etwas anfangen.

Vor diesem Hintergrund müsste man auch über die Zukunft Kurdistans sprechen, nicht vor so einem völkischen, der Kurden als irgendwie in ihren Bergen verwurzelte Ethnie betrachtet. Das ist nicht etwas Ethnisch-Kulturelles. Das föderale Modell im Irak fußt schließlich auch auf Territorialität, nicht auf Ethnizität. Man kann letztlich nicht einmal objektiv definieren, wer eigentlich nun ein Kurde ist – bei religiöser Zugehörigkeit ist das einfacher: Christ ist, wer eine Geburtsurkunde besitzt, auf der das steht, gleichviel ob römisch-katholisch, griechisch-orthodox, syrisch-orthodox, armenisch.

Norbert Reichel: In Deutschland scheint es mir doch schon so etwas zu geben wie eine kurdische Identität. Oder täusche ich mich? Und es sind vor allem türkische Kurden?

Thomas von der Osten: Natürlich gibt es kurdische Identitäten. Aber was hierzulande als die kurdische Identität erscheint hat viel mit Kulturpolitik der PKK zu tun, deren Diskurs in Deutschland recht hegemonial ist. Die Stimmen irakischer Kurden oder solcher aus dem Iran kommen in Deutschland kaum zu Gehör. Die PKK hat es über ihre Medienmacht, ihre Frauenorganisationen, ihre deutschen Unterstützer geschafft, dass wir uns in Deutschland in der Regel auf diesen PKK-Diskurs beziehen, wenn wir über die Kurden reden. Dieser Diskurs repräsentiert aber weder die anderen kurdischen Stimmen aus der Türkei oder Syrien und schon gar nicht irakischer oder iranischer Kurden.

Höchstens kommt wenn überhaupt nur eine andere Stimme zu Wort, die neben der PKK noch über einigen internationalen Einfluss verfügt und dass ist die der Demokratischen Partei Kurdistans (KDP) und ihrer Führung unter den Barzanis. Beide sind nur untereinander verfeindet und haben sich sogar jahrelang auch bewaffnet bekämpft.

Nach dem Sturz Assads scheint sich da allerdings auch einiges zu bewegen. Erst jüngst besuchten hochrangige syrisch-kurdische Vertreter, die der PKK nahestehen, die Barzanis im Irak und hielten eine gemeinsame Pressekonferenz ab.

Derweil entwickeln die Barzani und die KDP eine rege regionale Diplomatie. Sie unterhalten sehr gute Kontakte sowohl in die Türkei zu Erdoǧan als auch nach Saudi-Arabien und an den Golf. Sie suchen jetzt offenbar ihren Einfluss geltend zu machen, um eine „Lösung“ für Syrisch-Kurdistan in ihrem Interesse zu finden, die die PKK zwar schwächen aber nicht völlig ausschalten würde und zugleich in Kooperation mit Damaskus stattfinden würde. Auch der neue syrische Außenminister hat sich gerade in Davos mit Barzani getroffen und ihn nach Damaskus eingeladen. Während auf der einen Seite in Syrien kurdische Kräfte gegen von der Türkei unterstützte Einheiten kämpfen – was äußerst besorgniserregend ist – finden auf der anderen Seite diese diplomatischen Initiativen statt und man kann nur hoffen, dass es zu keinem großen bewaffneten Konflikt kommt.

Vor diesem Hintergrund ist auch extrem interessant, was seit einiger Zeit in der Türkei passiert. Zum ersten Mal nach zehn Jahren hat die DEM-Partei, die kurdische Partei in der Türkei, viele sehen in ihr eine Art legalen Arm der PKK, Öcalan im Gefängnis besucht. Das fand eine sehr positive Resonanz, auch bei den Ultranationalisten in der Türkei wie bei der AKP. Es sieht so aus, als gebe es gerade in der Türkei einen Versuch gibt, den vor über zehn Jahren unterbrochenen Friedensprozess zwischen der PKK und der Türkei wieder aufzunehmen. Dies hätte dann ganz grundlegende Auswirkungen nicht nur auf die Entwicklungen in Türkisch-Kurdistan, sondern auch Syrien.

Ein tektonisches Erdbeben

Norbert Reichel: Damit hätte der Sturz von Assad eine Reihe von Auswirkungen, die die Region in einem Maße befrieden könnten, wie wir uns das vor wenigen Wochen noch nicht vorstellen konnten.

Thomas von der Osten: Ja, der Sturz von Assad ist ein tektonisches Erdbeben in der Region. Wobei wichtig ist festzuhalten, dass Damaskus ja nicht militärisch erobert worden ist. Das Assad-Regime war so fertig, dass es nichts mehr entgegenzusetzen hatte. Nachdem die erste Verteidigungslinie der Hisbollah vor Aleppo zusammenbrach, war es vorbei. Damaskus ist ohne einen Schuss gefallen.

In Deutschland kann man sich kaum vorstellen, was da passiert ist. Syrien ist das zentrale Land in der Region. Damaskus ist seit etwa 1.000 Jahren die Hauptstadt des omajjadischen Kalifats, kontrolliert von sunnitischen Arabern. Aus deren Sicht bedeutet das: Wir sind wieder da. Es ist eine Art Renaissance des alten sunnitisch-omajjadischen Empires, das als Goldene Zeit gilt. Bagdad ist eher persisch-schiitisch, es gab auch immer die Konkurrenz zwischen Damaskus und Bagdad. Wir sind wieder die Herrscher in Damaskus. Die alte omajjadische Moschee gehörte lange Jahrhunderte nicht uns, jetzt ist sie wieder unser.

Norbert Reichel: Das müsste dem Westen doch auch gefallen. Der Iran wird zurückgedrängt.

In der Altstadt von Damaskus.

Thomas von der Osten: Ja sicher. Die Hisbollah ist extrem geschwächt. Das freut viele Menschen in Syrien. Iraner haben heute Einreiseverbot in Syrien! Das sagt doch viel. Das gesamte Projekt der Islamischen Republik Iran, eine Ausdehnung bis an das Mittelmeer mit dem Ziel der Vernichtung Israels, ist wie ein Kartenhaus zusammengebrochen. Hassan Nasrallah ist tot, die Hisbollah ist geschwächt, im Libanon gibt es plötzlich eine neue Regierung und in Syrien ist der Iran erst einmal raus.

Die Kehrseite: In Syrien regiert eine Nachfolgeorganisation von al-Kaida. Was heißt das? Letztlich ist damit plötzlich der salafistische Islam, der auch von Saudi-Arabien und den Emiraten ausgeht, der große Sieger. Lange dachte man, das sind die großen Verlierer. Man darf aber auch nicht vergessen, dass nicht nur der Iran Verlierer ist, auch die Muslimbrüder sind Verlierer. Man darf die Spannungen zwischen den Muslimbrüdern und den arabischen Regierungen am Golf nicht übersehen. Nun waren die Muslimbrüder für uns in Europa interessant, denn sie haben in den 1980er Jahren Demokratie bejaht. In der Türkei, in Ägypten. Sie traten zu Wahlen an, aber dahinter stand nicht die Idee, dass man sich nach der Wahl an Demokratie halten würde. Die Emirate und die Saudis haben eine wahnsinnige Angst vor freien Wahlen und vor den Muslimbrüdern. Das sind innerislamische Spannungen. Das hat auch dazu geführt, dass die Saudis gegen die Wahlsiege der Muslimbrüder in Ägypten, im Sudan, in Libyen militärische Unterstützung geleistet haben.

Auf der anderen Seite treiben die Saudis und die Emirate die Annäherung an Israel voran, haben intern auch verschiedene Reformen durchgeführt. Aber sie wollen keine Wahlen, sie sagen, das islamische System des Konsenses, der Konsultation, ist im 21. Jahrhundert eigentlich viel erfolgreicher als das Modell der Demokratie. Wir sehen ja, wie im Westen Demokratie zusammenbricht. Wir sind also viel besser auf das 21. Jahrhundert vorbereitet als der Westen.

Abstraktes vs. konkretes Recht

Das zerstörte Jobair, ein Vorort von Damaskus.

Norbert Reichel: Es wäre also denkbar, dass in Syrien keine Demokratisierung im westlichen Sinne herauskommt, sondern eher eine Entwicklung im saudischen Sinne?

Thomas von der Osten: Das ist die Spannung. Die HTS redet über Toleranz, sie redet nicht über Demokratie. Sie redet nicht über eine demokratische Verfassung. Sie wollen eher so etwas nach dem Vorbild der Vereinigten Arabischen Emirate. Dort hat jeder Bürger das Recht, sich an den Emir zu wenden. Der Emir lässt sich beraten, aber es gibt keine Verfassung, in der Volkssouveränität festgeschrieben ist. Es gibt keine Gleichheit vor dem Gesetz, sondern die Scharia. Wer ist der Souverän? Gott oder das Volk?

Norbert Reichel. Wie eindeutig ist die Scharia?

Thomas von der Osten: Das ist die Diskussion im Islam seit über 150 Jahren. Das sind die zentralen Fragen, um die es im Nahen Osten seit langem geht. Wenn Gott die Gesetze gegeben hat, haben wir Menschen kein Recht, diese zu ändern. Wir können sie nur interpretieren. Also muss – wie im Iran – dies so in der Verfassung stehen. Wenn Gott die Gesetze macht, kann kein Parlament Gesetze beschließen, denn es würde dann die Allmächtigkeit Gottes in Frage stellen. Also ist die erste Frage an Islamisten immer die Frage, ob sie Volkssouveränität akzeptieren oder nicht. Kann ein Parlament ein Gesetz verabschieden oder kann es das nur, wenn ein Rat vorher festgestellt hat, dass das Gesetz nicht der Scharia widerspricht? Im Irak steht in der Verfassung, Gesetze dürfen weder den Menschenrechten noch der Scharia widersprechen. Das ist in sich schon völlig widersprüchlich.

Innenhof der Omajjaden-Moschee.

Das verstehen viele in Europa nicht. Sie verstehen auch nicht, dass Scharia-Recht konkretes Recht ist. Frauen, Männer, Sunniten, Schiiten, Juden, Christen sind unterschiedlich, also muss auf sie auch unterschiedliches Recht angewandt werden. Bürgerliches Recht geht vom abstrakten Staatsbürger und der abstrakten Gleichheit vor dem Gesetz aus. Also werden Verfassungen so entwickelt, dass es den abstrakten Staatsbürger gibt, oder geht man vom konkreten Bürger aus?

Die maghrebinische Frauenbewegung hat vor 20 Jahren gefordert: „One Law for All!“ Ein Gesetz, das für alle gilt. Das ist im Kontext von islamischem Recht revolutionär, weil es den abstrakten Staatsbürger fordert. Wenn ich also von Minderheitenschutz spreche, reproduziere ich das Denken islamischen Rechts. Die Minderheit hat einen Sonderstatus, sie kann sich auch selbst verwalten, aber sie hat ein anderes Recht.

Norbert Reichel: Damit sind wir wieder beim Dhimmi-Status.

Thomas von der Osten: Genau, der Dhimmi-Status. Die ganze Debatte in Europa, in der wir permanent über Minderheiten und Identität reden, passt viel besser zum islamischen Denken als zum bürgerlichen Rechtsdenken. Das gesamte Gerede über Diversität, Hautfarbe, sexuelle Orientierung etc. passt viel besser zum islamischen Denken als zu einem bürgerlich liberalen Denken.

Norbert Reichel: Wir reden über Quotierungen und landen dann dort, wo die USA gerade landen, wenn Trump die Affirmative Action abschafft oder Südafrika mit Sanktionen belegt, weil dort die weiße Minderheit benachteiligt würde. Identitätspolitik statt Bürgerrechte. Das ist eigentlich absurd.

Thomas von der Osten: Jetzt noch einmal zurück zu den Kurden. Man kann die Kurden als Minderheit definieren, Menschen, die in den Bergen leben, irgendwelche besonderen Tänze haben, dann sind wir im Minderheitendiskurs.

Norbert Reichel: Folklore. Deshalb finden die Deutschen Stadtteilfeste mit fremdem Essen auch so schön.

Thomas von der Osten: Das ist völkisches Denken, das mit deutschen Traditionen hervorragend korrespondiert. Wenn Kurden so ganz „authentisch“ sind, werden sie bei uns auch bewundert und geliebt. Da sind wir schnell bei Langbehn oder Gobineau.

Das Interessante im Irak ist, dass das Problem dort in der Verfassung gelöst wurde. In der Verfassung sind die Kurden ein „Staatsvolk“, und das ist etwas anderes als eine folkloristische Gruppe. Der Irak besteht aus zwei Staatsvölkern, den Arabern und den Kurden. Deshalb ist alles zweisprachig, auch die Pässe sind zweisprachig. Als Kurde habe ich überall im Irak das Recht, meine Angelegenheiten in kurdischer Sprache zu regeln.

Norbert Reichel: Wie in der Schweiz? Oder in Belgien?

Thomas von der Osten: Kanada! Bürgerliche Individualrechte sind immer stärker als Minderheitenrechte. Meinungsfreiheit, Schutz vor dem Staat – all das gilt für mich als Individuum, das sind Individualrechte und nicht Kollektivrechte. Es gibt dabei natürlich auch die Rechte, die ich als Volk habe, mit meiner eigenen Sprache, meiner Kultur, die nicht unterdrückt werden dürfen.

Im Nahen Osten ist das Problem jedoch etwas anderes: die Angst vor Majorisierung. Wenn wir sagen, da wo die Mehrheit arabisch ist, haben wir Arabistan, und da, wo sie kurdisch ist, haben wir Kurdistan. Dann entwickelt sich daraus sofort der Wunsch, dass die einen die anderen vertreiben wollen, um sich da selbst anzusiedeln. Das ist die Geschichte des Nahen Ostens seit etwa 75 Jahren.

Norbert Reichel: Vielleicht schon länger? Ich denke an den Vertrag von Lausanne 2023 und die folgenden Vertreibungen von Griechen aus der Türkei und Türken aus Griechenland.

Thomas von der Osten: Bleiben wir mal bei der Zeit nach 1945, in der sämtliche Widersprüche, die einem Nationalstaat inhärent sind, im Nahen Osten explodieren. Der Libanon ist ein gutes Beispiel. Wenn wir darüber nachdenken, wer die Mehrheit hat, geschieht etwas wie in Syrien, wo in den 1960er Jahren 300.000 Kurden die Staatsbürgerschaft entzogen wurde, damit sie keine syrischen Staatsbürger mehr sind. Man hat Araber angesiedelt, um sagen zu können, jetzt haben wir hier arabisches Gebiet.

Dem steht die kanadische Verfassung entgegen. In Kanada ist ein Gebiet immer noch französisches Gebiet, auch wenn da nur noch wenige Franzosen wohnen. In Kanada lassen sich Gebiete so gut wie nicht majorisieren. Es ist so gut wie unmöglich, in Kanada den Status komplett zu ändern. Ähnlich verhält es sich in Irakisch Kurdistan. Die Gouvernements Dahouk, Erbil, Suleymaniia sind Kurdistan. Dort leben heute mehr Araber als noch zu Saddams Zeiten. Trotzdem ist das nach wie vor Kurdistan. Es besteht nicht die Gefahr, dass Araber irgendwann sagen, wir sind jetzt die Mehrheit. Damit ist akzeptiert, das ist Kurdistan.

Yarmouk, ein von Assads Armee zerstörtes Palästinenserlager bei Damaskus.

Diese Fragen spielen in Syrien eine zentrale Rolle. Wie lässt sich verhindern, dass Kurden, die unter der Arabisierungspolitik Assads sehr gelitten haben, dass es wieder zu einer arabischen Majorisierung kommt? Dann spielen die Fragen eine Rolle, wie ist das in Belgien gelöst, in Indien, in Ländern, in denen es keine einheitliche Nationalsprache gibt? Oder in Nigeria, das eine tolle Verfassung hat, die aber leider nicht umgesetzt wird? Wie ist es möglich, die Ängste derjenigen, die lange Zeit als Minderheit behandelt wurden, so ernst zu nehmen, dass sie in Zukunft vor solchen Schritten geschützt sind? Wie kann man beispielsweise bewaffnete Sicherheitskräfte in einer Region lassen, die auch in der Lage sind einzugreifen. In Irakisch Kurdistan gibt es eigene kurdische Sicherheitskräfte.

So kommen wir in einen unglaublich spannenden Prozess. Wir können mit jungen Menschen im Nahen Osten, die gerade ihr 1848 erleben, über hochpolitische Fragen sprechen, die wir hier längst vergessen haben, weil sie so selbstverständlich sind, dass niemand mehr weiß, welche Prozesse es gab, um das, was wir heute haben, zu erreichen, oder weil manche die Demokratie über Bord werfen wollen, weil sie Demokratie als die Tyrannei der Mehrheit verstehen.   

Fragen über Fragen

Norbert Reichel: Ihr Fazit? Eher eine positive Prognose?

Das Saidnaya-Gefängnis.

Thomas von der Osten: Nein, keine positive Prognose. Das ist angesichts des desolaten Zustands des Landes zurzeit nicht möglich. Das Ausmaß, in dem Syrien zerstört wurde, ist kaum fassbar. Schon ein wenig außerhalb von Damaskus fährt man kilometerweit durch Ruinenfelder. Die Hälfte der Bevölkerung sind Binnenflüchtlinge. Was geschieht, wenn sie zurückkehren? Es gibt eine riesige Wohnungsnot. Überall leben Menschen, die da vorher nicht gelebt haben. Das Ganze wird konfessionalisiert werden. Aus christlichen oder alawitischen Gebieten wurden Sunniten vertrieben und umgekehrt. Das wird bei der Wohnungsfrage und vielen anderen dann sofort eine Rolle spielen.

Viele Konflikte werden jetzt erst aufbrechen, wo die totale Kontrolle, die das Assad-Regime ausübte, zusammengebrochen ist. Es sind auch unzählige Rechnungen noch offen angesichts all der Toten, Verletzten, Verschwundenen und Vertrieben. Man muss einmal durch das Saidnaya-Gefängnis oder eine der anderen Haftanstalten gehen. Das ist ein Höllenloch. Das war sozusagen Herzstück des Terrors des Regimes. Jeder wusste, dass es diese Gefängnisse gibt. Sie thronen oben auf den Hügeln und es konnten gleichzeitig 40.000 Menschen inhaftiert werden. In Dunkelzellen zu 30 Personen auf 18 Quadratmetern. Jeder wusste, das kann mir jederzeit wegen irgendetwas auch passieren. Jeder kannte jemanden, der da drin war und heimlich erzählte. Jetzt tauchen in irgendwelchen Massengräbern die auf, die das nicht überlebt haben. Bislang wurden schon etwa 100.000 Menschen in Massengräbern gefunden – und das ist erst der Anfang.

Norbert Reichel: Was müssten die Deutschen tun? Die Sanktionen aufheben?

Thomas von der Osten: Nein. Jenseits von diesem merkwürdigen Auftritt von Frau Baerbock agierte das Auswärtige Amt im Vergleich in Europa verhältnismäßig gut. Bei all den Versuchen, das Assad-Regime wieder zu normalisieren, hat das Auswärtige Amt relativ in der Vergangenheit Initiativen anderen EU-Staaten meist sogar blockiert.     

Ein von Fassbomben zerstörtes Gebäude in einem Vorort von Damaskus.

Als erstes müsste aber dieses Geschwätz über Flüchtlinge aufhören. Jetzt darüber zu reden, wann man wen abschieben könnte, ist inhuman und kontraproduktiv. Viele Syrer fahren zurück, um zum ersten Mal ihre Familie wiederzusehen. Viele wollen zurückkehren, aber sie sagen auch, in ein oder in zwei Jahren. Wenn es wieder Wohnungen gibt und Arbeitsplätze.

Man muss die Diskussionen über Demokratisierung sehr ernst nehmen. Das ist nicht etwas das wir wollen, sondern etwas das die Bevölkerung in Syrien will. Wir müssen ernst nehmen, dass die Menschen, die sich haben schikanieren, verfolgen, verhaften lassen müssen, von denen viele auch getötet wurden, kein Kalifat wollen. Also sollten wir alles unterstützen, das diese Transformation voranbringt, und alles bekämpfen, das dem im Weg steht. Falsch wäre es, nur auf Stabilität zu setzen und sich dann mit einem Regime einzurichten, das das Gegenteil betreibt. Das kennen wir aus Tunesien, wer redet noch über Demokratie in Tunesien, Hauptsache wir haben einen Flüchtlingsdeal.

Noch am Mitte November 2024 war eine Delegation der EU in Damaskus, um mit Assad zu reden, er habe doch jetzt den Krieg gewonnen, man wolle Stabilität. 13 Tage später ging die Offensive in Aleppo los, durch die Assad schließlich stürzte.

Man müsste die Lektion lernen: Starke Männer mit starken Geheimdiensten, die sich aus der Staatskasse bereichern und dann auch noch zu den größten Drogendealern der Welt gehören, sind keine Garanten für Stabilität. Also muss man fragen, welche Mittel gibt es, dass sich Staaten in Demokratien, in Rechtsstaaten transformieren. Das ist die eigentliche Stabilität.

Natürlich muss man jetzt massiv in den Wideraufbau Syriens investieren, auch mit einem Blick darauf, dass die kurdische Selbstverwaltung bestehen bleibt, dass man Druck auf die Türkei ausübt, aber auch türkische Sicherheitsinteressen nicht einfach nur abtut. Sonst kommen pampige und keine konstruktiven Reaktionen aus Ankara. Dann heißt es: Was würdet ihr sagen, wenn ihr 400 Kilometer Grenze mit der Roten Armee Fraktion gehabt hätte? Ihr seid gegen Terroristen vorgegangen, auch wir gehen gegen Terroristen vor. Was erzählt ihr uns jetzt, dass wir Völkermörder sind?

Extrem wichtig wäre Folgendes: Es kommt im Nahen Osten extrem gut an, dass Deutschland es geschafft hat, sich nach zwei Diktaturen in ein parlamentarisch demokratisch-föderales, System zu verwandeln, in dem es relativ viele Checks and Balances gibt. Diese Erfahrung können wir zur Verfügung stellen und vor der jeweiligen historischen Realität zu diskutieren, was man übertragen könnte. Zum Beispiel eben ein starkes parlamentarisches System.

Irak ist heute eines der stabilsten Länder in der Region, gerade weil es ein starkes Parlament hat. Das war eine der Lehren der Weimarer Republik: keine Präsidialverfassung. Jede Präsidialverfassung ist das Rezept zur nächsten Diktatur. Das sieht man jetzt aktuell in Tunesien. Ein starker Mann an der Spitze ist immer ganz schlecht. Vor allem wenn der dann auch noch Chef des Militärs ist und sagen kann: Mit dem Volk gegen die „Quasselbude“ Parlament!

Auch ein Zweikammersystem wäre gut. Das wurde im Irak leider nicht geschaffen. Ein starkes Verfassungsgericht, das nicht in der Scharia, sondern in der Verfassung festgeschrieben ist.

Und die Frage des Verhältnisses von Religion und Staat. Wie sieht das französische Modell aus, wie das amerikanische, wie das deutsche? Wie kann man die Trennung von Gesellschaft und Religion, von Staat und Kirche gestalten? Wie könnte das in einer islamisch dominierten Gesellschaft funktionieren? Warum ist vielleicht das Wort „säkular“ wenig hilfreich? Weil es ein sehr westeuropäisches, katholisches Phänomen ist.  

Mit all diesen Fragen könnte man viel erreichen. Aber das geschieht leider nicht, weil alles immer durch die Kultur- beziehungsweise die Religionsbrille gesehen wird. Ich würde sagen: Weg mit der Kultur-Religionsbrille. Lassen Sie uns von Bürgern zu Bürgern reden.

(Anmerkungen: Erstveröffentlichung im Februar 2023, Internetzugriffe zuletzt am 15. Februar 2025. Alle Fotografien einschließlich Titelbild: Thomas von der Osten-Sacken.)