Permanenter Ausnahmezustand
Die Corona-Pandemie – ein Lehrstück für Demokratie und Politik?
„Die Initiation, Organisation und Bewältigung beschleunigten sozialen Wandels setzen Gesellschaften unter Stress. Anders als in relativ statischen Gesellschaften mit eingeführten Routinen, etablierten Arrangements und weithin akzeptierten Befriedungsformeln brechen in Wandlungsgesellschaften viele Konflikte auf. Zugleich steht die Politik unter Zugzwang, muss schnell Entscheidungen treffen und Weichenstellungen vornehmen, will sie nicht vom Lauf der Dinge überrollt werden. Die Politik ist zugleich Getriebene wie auch Treiberin des gesellschaftlichen Wandels.“ (Steffen Mau, Keine Zeit – Zum Verhältnis von politischen Entscheidungen und sozialem Wandel, in: Merkur Dezember 2024)
Steffen Mau hat sich in mehreren Büchern immer wieder mit der Frage auseinandergesetzt, wie Menschen Politik wahrnehmen und welche Konsequenzen sie daraus für sich, für ihre Wahlentscheidungen oder auch für gegebenenfalls eigenes Engagement ableiten. Der Titel seiner gemeinsam mit Thomas Lux und Linus Westheuser verfassten Studie „Triggerpunkte“ (Berlin, edition suhrkamp, 2023) ist geradezu programmatisch, auch der Untertitel zeigt, welche Fragen wir in unserer aktuellen Gesellschaft lösen müssen: „Konsens und Konflikt in der Gegenwartsgesellschaft“. Nun betrifft diese Fragestellung nicht nur unsere heutige Zeit. Sie gilt eigentlich fast immer, vor allem aber dann, wenn sich in Gesellschaften der Glaube verbreitet, man könne eigentlich nicht viel an den gegebenen Zuständen ändern. Dann werden sich manche radikalisieren und „Kettensägen“ oder „Abrissbirnen“ in ihre Rhetorik aufnehmen. Auch Ankündigungen, Bürokratie zu reduzieren, gehören in diese Kategorie, denn was hilft es, wenn zwar Personal entlassen wird, sich an den zu erfüllenden Vorschriften nichts ändert? Andere werden eher zur Besonnenheit aufrufen und versuchen, den Eindruck einer „Politik der ruhigen Hand“ zu verbreiten, wie Gerhard Schröder es formulierte, bevor er mit der „Agenda 2010“ mehr oder weniger panisch von Wahlniederlagen in den Ländern getrieben dann doch zu einer Variante der „Kettensäge“ griff, und Angela Merkel sowie Olaf Scholz es mehr oder weniger wirksam praktizierten.
Ein Fest für Wissenschaft und Journalismus
Die Corona-Pandemie lässt sich als ein Lehrstück verstehen. Ob diese Lehre überhaupt wirken mag, ist zurzeit allerdings eher unwahrscheinlich. Die Bundesregierung und die größte demokratische Oppositionspartei haben sich bisher nicht auf eine Aufarbeitung verständigen können. Der damalige Bundesgesundheitsminister Jens Spahn sagte zu Beginn der Pandemie nicht ganz zu Unrecht, man werde sich zu einem späteren Zeitpunkt viel „verzeihen“ müssen. Er sagte dies zu einem Zeitpunkt, als Angela Merkel alle Ansinnen, die Maßnahmen gegen die Pandemie doch behutsamer zu planen, als „Öffnungsdiskussionsorgie“ delegitimierte. Spahn ist aber zurzeit doch eher damit beschäftigt, sich selbst und all denen zu verzeihen, die von der Pandemie durch überhöhte Masken-Preise und ähnliche Dinge profitierten.
Eine Enquête-Kommission wäre sicherlich hilfreich, um verlorenes Vertrauen in der Bevölkerung wieder zu gewinnen, aber dies wurde bisher von beiden Parteien durchweg abgelehnt. Es gibt jetzt im Zuge der Regierungsbildung in Sachsen und in Brandenburg neue Initiativen, allerdings in Sachsen durch einen von BSW und AfD gemeinsam durchgesetzten Parlamentsbeschluss einen Untersuchungsausschuss, in dem es aber weniger um eine fachlich valide Aufarbeitung, sondern eher um die Anprangerung bestimmter in der Zeit der Pandemie verantwortlicher Personen zu gehen scheint. Eine Umfrage der ZEIT belegt, dass es klare Mehrheiten in der Bevölkerung für eine stärkere Aufarbeitung der Pandemie gibt.
Ich bin mir bei den verschiedenen Kommentaren zur Aufarbeitung beziehungsweise Nicht-Aufarbeitung der Pandemie nicht sicher, ob es sich um ein Lehrstück für Politik oder auch um ein Lehrstück für Demokratie handelt. Wenn Menschen sich darüber äußern, ob sie die Demokratie befürworten (in der Regel mit hohen Zustimmungswerten) und wie sie die aktuelle Praxis der Demokratie bewerten (mit deutlich niedrigeren Zustimmungswerten), treffen sie in der Regel keine Aussage über die Staats- und Regierungsform Demokratie, sondern über ihre Wahrnehmung von Politik, vorwiegend offizieller Politik, wie sie die jeweilige Regierung praktiziert. Sie äußern sich damit auch dazu, ob und wenn ja wie sie Demokratie als Lebensform verstehen, ganz im Sinne von Till van Rahden, der diesen Zusammenhang in mehreren Büchern und Aufsätzen entfaltet hat, zum Beispiel in „Demokratie – Eine gefährdete Lebensform“ (Frankfurt am Main, Campus, 2019) und – gemeinsam mit Johannes Völz – in „Horizonte der Demokratie – Offene Lebensformen nach Walt Withman“ (Bielefeld, transcript, 2024) sowie in einem Gespräch im Demokratischen Salon. Letztlich äußern sich Menschen, wenn sie gefragt werden, nicht darüber, was sie von Demokratie halten, sondern, dazu, wie sie Demokratie und Politik erleben. Sie unterscheiden da nicht unbedingt zwischen den beiden Begriffen.
Wir leben in einer Poly-Krise, so lesen wir immer wieder. Aber wir sollten nicht alle diese Krisen vermischen, sondern besser nach den Strukturen fragen, die sich in jeder einzelnen Krise manifestieren und anschließend vergleichen, ob sich etwas Gemeinsames in den jeweiligen Strukturen zeigt, das uns helfen könnte, Demokratie und Politik besser und differenzierter zu verstehen. André Brodocz und Hagen Schölzel haben dies in ihrem Buch „Demokratische Auszeit – Corona-Politik jenseits von Ausnahmezustand und demokratischer Routine“ (Bielefeld, transcript, 2024, im open access verfügbar) gewagt. Ihre Ergebnisse sind auf andere politische Prozesse übertragbar. Steffen Mau nannte in dem Essay „Keine Zeit“ vier Beispiele, „Europäische Integration“, „Ostdeutsche Transformation“ und „Ökologische Transformation“, und kam zu ähnlichen Ergebnissen.
Auf jeden Fall war die Pandemie bereits im Jahr 2020 ein Fest für Wissenschaft und Journalismus. Die Talkshows im deutschen Fernsehen sorgten dafür, dass das Thema nicht aus dem Blick geriet. Brodocz und Schölzel verweisen darauf, dass im Jahr 2020 92 von 133 Talkshows Corona als Thema hatten, ein Zeichen für die „erfolgreiche Transformation individuellen Leids in eine öffentliche Angelegenheit“. Welchen Leids auch immer, denn es entstanden sehr schnell auch Opferkonkurrenzen. Einige Beispiele:
- Juli Zeh im Gespräch mit Jan Heidtmann, „Die Bestrafungstaktik ist bedenklich“, in: Süddeutsche Zeitung 5. April 2020.
- Jutta Allmendinger, Die Frauen verlieren ihre Würde, in: Die ZEIT 12. Mai 2020.
- Claudia Gatzka und Andreas Audretsch im Gespräch mit Christian Bangel, „Die neurechten Thesen streuen sehr weit“, in: Die ZEIT 16. Mai 2020.
- Heribert Prantl, Demonstrationen in bizarren Zeiten, in: Süddeutsche Zeitung 17. Mai 2020.
- Louis Lewitan im Gespräch mit Barbara Nolte, Psychologe über strenge Kontaktbeschränkung: „Ich würde das gegenüber meinem Kind nicht durchsetzen“, Tagesspiegel 17. November 2020.
Ebenso erschienen bereits zu Beginn der Pandemie zahlreiche, zum Teil recht umfangreiche Bücher, in denen immer wieder auch die Frage gestellt wurde, ob und wenn ja wem die jeweiligen zur Eindämmung beziehungsweise Bewältigung der Pandemie von den Regierungen in Bund und Ländern beschlossenen Maßnahmen helfen und wem nicht. Nur einige wenige Titel in Auswahl:
- Michael Volkmer / Karin Werner, Hg., Die Corona-Gesellschaft – Analysen zur Lage und Perspektiven für die Zukunft, Bielefeld, transcript, 2020.
- Bernd Kortmann / Günther G. Schulze, Hg., Jenseits von Corona – Unsere Welt nach der Pandemie – Perspektiven aus der Wissenschaft, Bielefeld, transcript, 2020.
- Dieter Dohmen / Klaus Hurrelmann, Hg., Generation Corona? Wie Jugendliche durch die Pandemie benachteiligt werden, Weinheim / Basel, Beltz / Juventa, 2021.
- Martin Florack, Karl-Rudolf Korte, Julia Schwanholz, Hg., Coronakratie – Demokratisches Regieren in Ausnahmezeiten, Frankfurt am Main, Campus, 2021.
- Olaf Zimmermann / Theo Geißler, Die Corona-Chroniken Teil 1 – Corona vs. Kultur in Deutschland, Berlin, Deutscher Kulturrat, 2021.
All diese Bücher, Essays, Kommentare und Studien, die bereits in der Frühzeit der Pandemie veröffentlicht wurden, waren auch Gegenstand verschiedener Texte im Demokratischen Salon. Wer möchte, kann unter dem Tag „Pandemie“ (das war lange Zeit sogar eine eigene Rubrik) noch einmal nachlesen, welche Aspekte von wem wie vorgetragen, kritisiert und diskutiert wurden.
Meta-Kritik der Debatten um den Ausnahmezustand
André Brodocz und Hagen Schölzel forschen und lehren in Erfurt beziehungsweise in München. Sie bieten mit „Demokratische Auszeit“ eine Meta-Kritik der Debatten um Demokratie, Politik, Regierungshandeln und Stimmungslagen in der Bevölkerung. Sie befassen sich mit dem Thema mit dem Ziel, „demokratietheoretische relevante neue Erkenntnisse“ zu gewinnen. Ihr Thema ist der Ausnahmezustandsdiskurs, den wir nicht nur bei der Corona-Pandemie, sondern auch bei Klimakrise und „Erdsystemwissenschaft“ sowie den aktuellen Kriegen immer wieder feststellen. Es geht ihnen allerdings nicht um die „Ideen einer suspendierten Demokratie“, sondern um die „Vorstellung einer beständigen Legitimierung von Ausnahmemaßnahmen in öffentlichen Kontroversen“.
Sie knüpfen unter anderem an Bruno Latour und Zygmunt Baumann an, beide auch im Kontrast zu Carl Schmitt und Giorgio Agamben. Die entscheidende Frage stellt aus ihrer Sicht – die ich teile – die kanadische Kulturwissenschaftlerin Bonnie H. Honig: „Ist ein demokratisches Verständnis von politischen Ausnahmen denkbar, in dem die demokratische Politik nicht vorübergehend suspendiert, sondern unmittelbar neu begründet wird?“ Ziel wäre eine „emanzipatorische Rechtspolitik“, letztlich „Risikopolitik“, als Modus von Notfallpolitik („emergency politics“). Damit verbunden ist auch die Frage, wann und wie die Politik beziehungsweise die Konsequenzen, die manche aus ihrer Wahrnehmung von Politik ziehen, ins Anti- oder A-Demokratische umschlagen, bis hin zur Leugnung des Problems.
Bruno Latour hat den Umfang der Politik mit Krisen in vier Phasen aufgeteilt. Nach einer irritierenden Phase der „Perplexität“ erfolgen „Konsultationen“ mit dem Ziel einer Klärung der Problemlage, die anschließend zu einer „Hierarchisierung“ führen sollten, die sich auch als Priorisierung bezeichnen ließe. Die vierte Phase wäre die „Institutionalisierung“ einer neuen dauerhaften Hierarchie (als Verstetigung der Priorisierung). So weit kam es nicht. Brodocz und Schölzel stellen fest: „Was auf Dauer nicht gelang, war eine akzeptierte Hierarchisierung der umstrittenen Entitäten oder gar die Einführung einer endgültigen Lösung der Probleme, im Sinne einer Institutionalisierung.“ Der „epistemisch-autoritativen Phase“ folgte eine „antagonistische Phase“ und dabei blieb es im Wesentlichen.
Für das Misslingen der „Institutionalisierung“ mag es verschiedene Gründe geben. Zygmunt Baumann wird mit der These zitiert, dass der Raum, in dem unterschiedliche Sichtweisen und „Kontroversen“ debattiert werden könnten, nicht mehr bestehe. Der private und der öffentliche Raum seien rasch miteinander verschmolzen. Dies zeige sich in mehreren Elementen: allgemeiner Unwille gegen die eigene Freiheit einschränkenden Maßnahmen, fehlende Klarheit über die Dauer der Maßnahmen auf der einen Seite, über die tatsächliche Tod bringende Kraft des Virus auf der anderen sowie letztlich die „Folgenlosigkeit politischer Entscheidungen“. Vor allem die Ungewissheit, wie lange die Maßnahmen terminiert werden müssten, spielte eine zentrale Rolle beim Verlauf der Debatten und Kontroversen.
Misslungenes Zeitspiel
Zunächst wurde auf Zeit gespielt, insbesondere im Hinblick auf den zu Beginn sehr ungewissen Zeitpunkt, ob und wann Impfungen möglich wären. Bereits in diesem frühen Stadium der Pandemie zeigte sich die „ungleiche Behandlung unterschiedlicher gesellschaftlicher Teilbereiche“, mit den nicht nur gefühlten Benachteiligungen von Frauen, Kindern in KiTa und Schule, Kultur, Sport, Gastronomie. Brodocz und Schölzel konfrontieren „Praktiken des Diskriminierens“ und „Praktiken des Privilegierens“. Besonders betroffen von Diskriminierungserfahrungen waren alte und kranke Menschen, Kinder, später auch Menschen, die zunächst keinen Zugang zu Impfstoffen hatten. Es entwickelte sich in der Bevölkerung eine Art Asymmetrie und je länger die Pandemie andauerte, umso mehr wurde die Gruppe der „Ungeimpften“ zum Sündenbock schlechthin. Sie wurden von bestimmten Teilnahmen ausgeschlossen (zum Beispiel durch die 2-G-Regel), allerdings hielt der Staat diese Ausschlussmechanismen nicht sehr lange durch, sodass diejenigen, die sich inzwischen unter dem misslichen Siegel der „Querdenker“ organisiert hatten, einen weiteren Grund fanden, ihre Kritik an Politik und Demokratie als grundlegende Systemkritik zu inszenieren.
Schwer nachvollziehbar waren in diesen Kontexten die Regelungen für Baumärkte und Küchenstudios, die – mit Einschränkungen über die Zahl der Besucher:innen – nach wie vor geöffnet blieben. Armin Laschet sagte in einer Pressekonferenz: „Wir sind ein Volk von Küchenbauern.“ Die ungleiche Bereitstellung von Staatshilfen für von den Schließungen betroffene Branchen kam hinzu. Während die Lufthansa massive staatliche Unterstützung erhielt, mussten kleine Betriebe, insbesondere in der Gastronomie, oder auch viele Selbstständige, mühsame bürokratische Verfahren in Kauf nehmen, um eine staatliche Unterstützung zu erhalten, die sie dann nach einiger Zeit in Teilen wieder zurückzahlen mussten. Ein Erfolg war – dank des hohen Engagements des Deutschen Kulturrats und nicht zuletzt seines Geschäftsführers Olaf Zimmermann – das Programm „Neustart Kultur“, das allerdings zurzeit mit den anstehenden Streichungen in den Kulturhaushalten des Bundes und der Länder möglicherweise in Teilen wieder rückabgewickelt werden könnte. Wie schwer es war, dieses Programm durchzusetzen, belegt die Auflistung von verschiedenen angeblichen Freizeitvergnügungen durch die Bundesregierung, in der Kultureinrichtungen mit Bordellen in einer Reihe genannt wurden.
Armin Laschet war ohnehin in der Pandemie eine eher unglückliche Figur. Er hatte den Bonner Virologen Hendrick Streeck eine Studie über das Pandemiegeschehen im Kreis Heinsberg anfertigen lassen, wo sich das Virus erstmals in größerem Maße nach einer Karnevalsveranstaltung verbreitete. Doch „erzeugte diese Form öffentlicher Expertise damit eher das Gegenteil dessen, was Laschet sich erhofft haben dürfte.“ Hendrik Streeck und Christian Drosten wurden zu Galionsfiguren unterschiedlicher Sichtweisen, die sie beide weder hatten noch beanspruchten. So entstanden – so Brodocz und Schölzel – „Team Drosten“ und „Team Streeck“, denen sich jeweils auch andere Virolog:innen anschlossen. Politisch hieß das dann „Team Vorsicht“ beziehungsweise „Team Freiheit“. Wissenschaft wurde politisiert. Brodocz und Schölzel fassen dieses Scheitern wie folgt zusammen: „In scheinbar paradoxer Weise zogen wachsende und sich ausdifferenzierende Wissensbestände sowie individuelles und kollektives Lernen in der Pandemie eine Intensivierung und Kontinuierung der öffentlichen Kontroversen nach sich, die in antagonistische Konfliktkonstellationen mündeten.“ Ergebnis war eine „permanente öffentliche Diskussion“ mit fatalen Langzeitwirkungen. Die Annahme dürfte nicht allzu weit hergeholt sein, dass die Wahlerfolge von AfD und BSW mehr noch durch das politische Handling der Pandemie als die Migration getriggert wurden. Die folgenden Migrationsdebatten bauten dann auf der Pandemiedebatte auf und verstärkten das allgemein verbreitete politische Unwohlsein.
Zur Ehrenrettung von Armin Laschet möchte ich allerdings auch darauf verweisen, wie sein bayerischer Kollege Markus Söder agierte. Markus Söder riet sehr früh zu einschneidenden klaren Maßnahmen und setzte diese in Bayern auch zum Teil im Vorgriff auf bundesweite Entscheidungen durch. Mit der Zeit verlor er jedoch – wie er so ist – das Interesse und wurde zum Apologeten einer möglichst frühzeitigen Befreiung seiner Bürger:innen von einschränkenden Maßnahmen (auch unter dem Druck von AfD, FDP und Freien Wählern). Brodocz und Schölzel analysieren im Detail die unterschiedlichen Entwicklungen in Thüringen und in Bayern. Sie hätten selbstverständlich auch andere Bundesländer nehmen können und wären zu ähnlichen Ergebnissen gekommen.
All diese Ungleichzeitigkeiten, die durch den deutschen Föderalismus begünstigt wurden, verschärften das Problem. Sachsen war beispielsweise das erste Land, das die Schulen wieder öffnete. Sachsen war auch das Land mit der geringsten Impfquote, wie sich aus den wie Fußballtabellen präsentierten Infektions- und Impfstatistiken entnehmen ließ. Armin Laschet versuchte immerhin einen Ausgleich zwischen konkurrierenden Positionen. Die Situation war jedoch bereits so weit eskaliert, dass ein solcher Ausgleich nicht mehr möglich war. Die Präsentation der Heinsberg-Studie führt zu einer massiven „Verunsicherung über die Validität alles erarbeiteten Wissens.“ Das sprichwörtliche Kind war schon sehr früh in den Brunnen gefallen. Brodocz und Schölzel formulieren folgendes Fazit: „Zusammenfassend betrachtet dehnten sich nach den Ministerpräsidenten die Zeitfenster bis zur Umsetzung der dort getroffenen Beschlüsse auf Landesebene, mit denen dieser Bedrohung begegnet werden sollte, so weit und so unterschiedlich aus, dass es einen nahezu permanenten Anlass für öffentliche Konsultationen über die Geltungsansprüche auf Wahrheit in Bezug auf das Ausmaß der Bedrohung und über die Geltungsansprüche auf die Richtigkeit der Maßnahmen gab.“
Regression oder Revolution?
Interessant ist in diesem Kontext ein Rekurs von Brodocz und Schölzel auf physikalische Modelle. Sie beziehen sich auf eine Darstellung von Stephen Hawking, der den linearen Zeitbegriff von Isaac Newton dekonstruierte. Nach dem zweiten Grundsatz der Thermodynamik gibt es nicht die eine Zukunft, sondern immer nur mehrere Zukünfte. Der „thermodynamische Zeitpfeil“ nach Hawking schafft mit der Zeit „wachsende Unordnung“ („Entropie“). Die Gegenwart werde dann auf eine erinnerte Vergangenheit bezogen, die nicht unbedingt gewesen sein muss, aber in ihrer Verklärung die ohnehin schon in der Gegenwart bestehende Unsicherheit verschärfe. Die physikalische Entropie hat ihr psychologisches beziehungsweise politisches Gegenstück, die psychologische beziehungsweise politische Entropie. Brodocz und Schölzel beziehen sich in ihrer Analyse der psychologischen und politischen Wirkungen auf Chantal Mouffe: „Demokratien zeichnen sich nach Chantal Mouffe dadurch aus, dass sich die Konfliktparteien gegenseitig als legitime Gegner anerkennen. (…) Tiefgreifende soziale Spaltungen können aus Konflikten dann hervorgehen, wenn sich verschiedene Gruppen in ihnen als klar abgegrenzte Konfliktparteien subjektivieren, die nichts mehr mit der Gegenseite zu verbinden scheint.“ Dies entspricht in etwa der Analyse von Zygmunt Baumann, der beispielsweise in „Retrotopia“ (Berlin, edition suhrkamp, 2017) beschrieb, wie sich Menschen in der Krise wieder an „Stammesfeuer“ oder gar in den „Mutterleib“ zurücksehnten.
Regression in der Krise scheint eine inzwischen beliebte Form gesellschaftlichen Protests zu sein. Die andere Alternative wäre eine Revolution, aber für diese bestehen nur teilweise die Voraussetzungen, die Lenin in seiner Schrift „Der ‚Linke Radikalismus‘ – Die Kinderkrankheit des Kommunismus“ im April 2020 formuliert hatte. Zygmunt Baumann zwei der drei Bedingungen in vereinfachter Form in „Retrotopia“: „Wenn die oben nicht mehr können und die unten nicht mehr wollen.“ Lenin entfaltet in seiner Schrift (zitiert nach einer im Berliner Dietz-Verlag 1964 erschienenen Ausgabe) das „Grundgesetz der Revolution“: „Die Revolution ist unmöglich ohne eine gesamtnationale (Ausgebeutete und Ausbeuter erfassende) Krise. Folglich ist zur Revolution notwendig: erstens, dass die Mehrheit der Arbeiter (oder jedenfalls die Mehrheit der klassenbewussten, denkenden, politisch aktiven Arbeiter) die Notwendigkeit des Umsturzes völlig begreift und bereit ist, seinetwegen in den Tod zu gehen; zweitens, dass die herrschenden Klassen eine Regierungskrise durchmachen, die sogar die rückständigsten Massen in die Politik hineinzieht (das Merkmal einer jeden wirklichen Revolution ist die schnelle Verzehnfachung, ja Verhundertfachung der Zahl der zum politischen Kampf fähigen Vertreter der werktätigen und ausgebeuteten Masse, die bis dahin apathisch war), die Regierung kraftlos macht und es den Revolutionären ermöglicht, diese Regierung schnell zu stürzen.“
Ich zitiere diese Stelle so ausführlich, weil sich meines Erachtens revolutionäre Fantasien wie sie manche Gegner (vorwiegend männlich konnotiert) der liberalen Demokratie damit erübrigen sollten. Lenin glaubte, die beiden ersten Bedingungen in England zu sehen. Er täuschte sich. Revolutionen nach französischem oder russischem Muster gibt es heute allenfalls noch als Putsch. Sie vollziehen sich eher schleichend durch die Okkupation der wesentlichen staatlichen Institutionen sowie der Medien und profitieren von der Passivität großer Teile der Bevölkerung. In der heutigen Poly-Krise gibt es keine Vision, wie die Welt sein sollte – eine solche hatten Lenins Bolschewisten ebenso wie die Nazis. Vielleicht ist es unser Glück, dass niemand solche Visionen hat. Es gibt natürlich Terrorgruppen nach dem Muster der SA. Diese nennen sich „Sächsische Separatisten“, „Reichsbürger“, „Proud Boys“, „Threepercenters“ oder „Hamas“, aber sie alle haben in den jeweiligen Bevölkerungen weder die Unterstützung, die sie behaupten, noch haben sie bei allem Schaden, den sie anrichten, die Mittel, ihre Sicht der Welt durchzusetzen.
Visionen, Adhocismus und Geleitzugprinzip
In unserer Welt gibt es heute nur Visionen, wie die Welt nicht sein sollte. In der soziologischen Debatte gibt es dementsprechend immer wieder den Topos der Ermüdung, der Überforderung angesichts der vielen Krisen. Damit sind wir wieder bei der politischen Botschaft der Pandemie. Diese hat – hier greife ich den Begriff der „Triggerpunkte“ wieder auf – eine grundlegende Misstrauens- und Unwillenskultur hervorgebracht, die sich jetzt in Zeiten der Klimakrise und des Ukrainekriegs in vergleichbarer Form, wenn auch mit veränderten Inhalten, verbreitet. Steffen Mau spricht in „Keine Zeit“ von „Phantasmen der Homogenität. Hier werden Verteidigungsbereitschaften des Gewesenen mobilisiert, es geht um die Abwehr von Veränderung, Abweichung und Diversität.“ In einem solchen Klima verschwinden Visionen, Krisen werden ad hoc, aktualistisch bewältigt (Adhocismus), Prävention wird zur Zumutung. Die langsamsten in der Gesellschaft bestimmten das Tempo (Geleitzugprinzip).
Doch wie kommt man aus der Falle in einer „Gesellschaft unterschiedlicher Geschwindigkeiten“ wieder heraus? Zuerst brauchen wir die Analyse. Steffen Mau formuliert dies in „Keine Zeit“: „Zeitverhältnisse strukturieren das Verhältnis von Politik und Bevölkerung wesentlich. Der häufige Vorwurf an die Politik, sie müsse Reformen beherzt und zukunftsorientierter angehen, übersieht die Frage der gesellschaftlichen Trägheit und möglicher Folgewirkungen von nach vorn drängender Politik.“ Oder: „Politisch induzierter Wandel ist in seinen Zustimmungsbedingungen immer prekär.“ Dies scheint vielen Politiker:innen bewusst zu sein und so fürchten sie den Wandel wie der sprichwörtliche Teufel das Weihwasser. Entweder behaupten sie, dass es gar keinen Wandel gäbe und wir auch keinen Wandel bräuchten oder sie ergehen sich in markigen Worten wie beispielsweise der Bundeskanzler mit „Doppelwumms“ und „Zeitenwende“ oder seiner Ankündigung vom „Abschieben im großen Stil“. Und schon sind wir wieder bei der Erfahrung der „Folgenlosigkeit“. Nur am Rande: Diesen Stil der politischen Kommunikation beherrscht Trump besser. Es war gar nicht erforderlich, dass er 2016 anfing, die Mauer zwischen den USA und Mexiko zu bauen – die ohnehin schon in weiten Teilen existierte –, es reichte, dass er den Eindruck erweckte, er könne dies: „Yes, he can!“
In den meisten europäischen Ländern erwarten die Bürger:innen weniger markige Sprüche als Taten. Und vor allem wollen sie gefragt werden, zumindest die meisten. Ganz falsch ist der Satz nicht, den Politiker:innen nach einer verlorenen Wahl gerne aufsagen, dass sie ihre Politik besser erklären und besser auf die Bürger:innen hören müssten. Die Bürger:innen wissen allerdings, dass sie mit einem solchen Satz in eine Möbius-Schleife geführt werden. Mit Kommunikation oder gar Beteiligung haben solche Aussagen nichts zu tun. In „Ungleich vereint – Warum der Osten anders bleibt“ (Berlin, edition suhrkamp, 2024) hat Steffen Mau als Gegenmittel Beteiligungsverfahren nach dem Muster der Runden Tische in der frühen Transformationszeit zu Beginn der 1990er Jahre vorgeschlagen.
Eben dies ist auch die Botschaft von André Brodocz und Hagen Schölzel: In der Pandemie sind unsere Zeitvorstellungen durcheinandergeraten und die Politik, das heißt die Regierungen waren nicht in der Lage, die Zeitperspektiven zu sortieren und dabei auch Unsicherheiten, Risiken zu benennen und offene Debatten zuzulassen, sodass im Ergebnis sogar Gutwillige sich radikalisierten. Eine wissenschaftlich-technologische Frage wie die nach der Wirksamkeit eines Impfstoffs wurde politisiert, sie wurde zur „Grundüberzeugung“, die sie eigentlich nie sein kann: „Das Schweigen über die Grundüberzeugungen hat (…) ermöglicht, dass sich in einer pluralen Gesellschaft Bürgerinnen und Bürger mehrheitlich über eine kollektiv bindende Entscheidung einigen können, ohne sich auch über die genauen Grundlagen ihrer Herstellung einigen zu müssen.“ Anders gesagt: Es kommt nicht darauf an, warum man niemanden umbringen darf, sondern darauf, dass Konsens unter Menschen mit völlig unterschiedlichen „Grundüberzeugungen“ besteht, dass man das nicht tut. Dies ist aber auch der Kern von Demokratie als Lebensform. Die Klimakrise und das sich zurzeit vollziehende sechste Artensterben, Frieden für die Ukraine und im Nahen Osten, Menschenrechte im Iran und in Afghanistan haben eine ganz andere Dimension als die Corona-Pandemie.
Norbert Reichel, Bonn
(Anmerkungen: Erstveröffentlichung im Dezember 2024, Internetzugriffe zuletzt am 21. Dezember 2024.)