Politische Metaphern
Von Scheinalternativen und Kulturkämpfen
Zurzeit diskutieren wir über verschiedene Gesetzentwürfe, die sich konkret auf das Leben jedes einzelnen Menschen auswirken, kurzfristig, indem sie manche mit zusätzlichen Kosten belasten oder Bewegungsspielräume einengen, langfristig, indem sie – je nach Intensität ihrer Umsetzung – die Klimakrise und damit auch die damit zusammenhängende Migrationskrise weiter ent- oder verschärfen. Thomas von der Osten-Sacken hat den Zusammenhang zwischen Klima- und Migrationskrise in dem in der Ausgabe von Juli 2023 des Demokratischen Salons dokumentierten Gespräch u.a. am Beispiel des Iraks drastisch beschrieben. Solch global orientierte Debatten finden wir im politischen deutschen Alltag leider nur selten, sie werden geradezu entkontextualisiert. Es wird teuer – so tönt es allerorten – und eine Partei profitiert in den Umfragen, nicht weil sie die Probleme benennt, sondern weil sie es schafft, alle gerade akuten Probleme zu instrumentalisieren, um sich als „Alternative“ zu profilieren. Die demokratischen Parteien der Regierung und der Opposition machen ihr es dabei aber auch viel zu leicht und so erscheint manchen diese Partei auch noch als die einzige „Alternative“.
Die Debatten um einen wirksamen Klimaschutz sind zu Kulturkämpfen mutiert. Das gilt für das Gebäudeenergiegesetz (GEG), vulgo Heizungsgesetz, das gilt für die Verkehrswende, das gilt für weniger Fleisch in der Ernährung und anderes mehr. All diese Debatten unterscheiden sich im Grunde nicht von früheren Debatten. Erinnert sich noch jemand an die Einführung von Tempo 50 in geschlossenen Ortschaften in den 1950er Jahren, die Einführung von Fußgängerzonen und Busspuren in den 1980er Jahren, an das Verbot von Glühbirnen vor etwa 10 Jahren und den Streit um Rauchverbote in Kneipen und Restaurants? Mahnend wird immer wieder der Vorschlag zur freiwilligen Einführung eines Veggie-Days in Kantinen zitiert, der die damaligen Wahlaussichten der Grünen beeinträchtigte und zu absurden Gegenvorschlägen führte wie zu einer Schweinefleischpflicht in Kantinen. Heute noch genießen sich als „Konservative“ verstehende Politiker (immer Männer!), dass sie sich bei einem Volksfest mit Bratwurst am Grill präsentieren können.
Ein Politikbereich, der neben dem – das muss man leider sagen – schlecht vorbereiteten GEG zu einer Art Religionskrieg ausgewachsen ist, ist der Verkehrssektor. Die Bundesregierung hat beschlossen, dass der Verkehrssektor seine Klimaziele nicht erreichen muss, wenn andere Sektoren dies für ihn übernehmen. Das ist die eine Seite, die andere Seite sind verkorkste kommunale Projekte. Wie eine solche verkorkste Verkehrswende ausschauen kann, lässt sich in Berlin besichtigen. Mal wurde die Friedrichstraße für Autos gesperrt, mal geöffnet, wieder gesperrt, jetzt wieder geöffnet. Es geht um etwa 600 bis 700 Meter, die die ehemalige grüne Verkehrssenatorin zu einer italienischen Piazza umgestalten wollte. Sie scheiterte. Auf der Straße flanierte kaum jemand, zu schnell waren die Fahrräder, zu wenig verlockend das Ambiente. Ohnehin war die Friedrichstraße nie eine Straße, in der Berliner*innen flanierten, dort halten sich vorwiegend Tourist*innen auf, die bei Lafayette einen Hauch Paris oder am Checkpoint Charlie den Grusel des 13. August 1961 erleben wollen. Das war auch schon vor 100 Jahren so. Da gab es zwar kein Lafayette und keinen Checkpoint Charlie, aber Tingeltangel und Kabarett, eine bunte Vielfalt von Einkehrmöglichkeiten zu jeder Tages- und Nachtzeit, während wir heute nur noch normierte Kaffeehausketten vorfinden, die sich kaum voneinander unterscheiden. Unterhalten muss man sich dort heute schon selbst, während man vor 100 Jahren bestens unterhalten wurde. Vielleicht haben die Verfechter*innen der autofreien Friedrichstraße von den ach so Goldenen 1920er Jahren geträumt?
Eher wohl von ihrem Bild italienischer Plätze, auf denen sie in ihrem Toskana-Urlaub Rotwein tranken? In der Süddeutschen Zeitung schrieb Peter Richter treffend: „Eine Straße ist kein Platz“. Das gilt gerade für Plätze, an denen sich mehrere Straßen treffen, die vielleicht besser als Straßenzusammenstöße bezeichnet werden sollten (ich wohne an einem solchen). Die Berliner Friedrichstraße war zwar kein Straßenzusammenstoß, aber so etwas wie eine Nord-Süd-Verkehrsachse für Durchgangsverkehr. Und wer diesen Durchgang blockiert, lernt: Autos finden ihren Weg. Als die Friedrichstraße für Autos gesperrt war, sorgten sie zum Leid der Geschäftsinhaber*innen der Parallelstraßen dort für schlechte Luft und Staus.
Während der rot-grün-rote Senat versuchte, mehr Sicherheit für Fahrräder zu schaffen, hat der schwarz-rote Senat erst einmal alle Fahrradweg-Projekte gestoppt, Autospuren oder Parkplätze dürften nicht gefährdet werden. Entweder Fahrräder oder Autos, es kann nur eines geben. Wer zu Fuß geht, ist ohnehin außen vor. Der Tagesspiegel sprach in der ihm eigenen Ironie von „Straßenkampf“. Wie man es in den Wald hineinruft so schallt es heraus: die aktuelle Verkehrspolitik des schwarz-roten Senats ist nicht mehr und nicht weniger als ein Spiegelbild der gescheiterten Verkehrswende des rot-grün-roten Vorgängers. Eine Reportage von Claudia Seyring gibt ein eindrucksvolles Stimmungsbild.
Aber geht es wirklich um den Verkehr, die Heizung, oder ging es damals wirklich um Glühbirnen, Rauchverbote und Busspuren? Wer dies glaubt, geht der Argumentation der Fundamentalopposition, die sich „Alternative“ nennt, auf den Leim. Der angebliche Kampf gegen Heizungsgesetz und Verkehrswende oder für die Bratwurst – all dies ist lediglich Metapher. Aber die Zeiten haben sich verändert: als Glühbirnen und das Rauchen in Gastronomiebetrieben verboten wurden, gab es noch keine AfD.
Der AfD geht es um einen fundamentalen Systemwechsel. Wer dem Partei- und Fraktionsvorsitzenden der AfD in Thüringen zuhört, erfährt, dass man „Volksteile verlieren“ werde, die die irgendwann einmal Regierungslinie werdende Parteilinie nicht teilen, und dass es bei der geforderten „Remigration“ „unschöne Szenen“ geben werde. Deutlicher kann man Deportationen, die Verhaftung von Oppositionellen, möglicherweise sogar Mord nicht ankündigen. Weitere Zitate dieser Art finden sich in einer Zusammenstellung im „Volksverpetzer“. Wilhelm Heitmeyer spricht von „autoritärem Nationalradikalismus“, Ruth Ben-Ghiat spricht es deutlich aus, sie schreibt in ihrer Begriffsdefinition des „Faschismus“ in David Ranans Sammelband „Sprachgewalt“ (Bonn, Dietz Verlag, 2022): „Je mehr der Autoritarismus in allen möglichen Ländern Fuß fasst und viele sich fragen, ob der Faschismus in anderer Form zurückkehrt, sollte man sich daran erinnern, was Faschismus bedeutet: Massenmord.“
Opferdiskurse eignen sich bestens zur Tarnung einer extremistischen Agenda. Das war in den Anfangszeiten der AfD die Figur der „besorgten Bürger“, deren „Sorgen“ man ernst nehmen müsse. Heute lesen wir – beispielsweise bei Dirk Oschmann, den Cornelius Pollmann für die Süddeutsche Zeitung interviewte: „Es ist ja wohl nicht anzunehmen, dass alle, die AfD wählen, stramm rechts sind und auch NPD wählen würden. Da gibt es Anteile von Frustration und Protest, und da wäre es Aufgabe der politischen Arbeit, die zurückzuholen.“ Das klingt recht sozialpädagogisch. Wer aber eine solche Wahlentscheidung nicht ernst nimmt und selbst über 20- bis 30-Prozentergebnisse in den Umfragen ausschließlich damit zu kontern versucht, dass man „Frustration und Protest“ sehe, nimmt letztlich die Bürger*innen, die sich für die AfD entscheiden, nicht ernst. Ist die eine Frustursache beseitigt, entsteht mit Sicherheit die nächste. Wilhelm Heitmeyer warnt vor einer Verharmlosung dieser Wahlentscheidungen als „Protestwahl“: Es helfe auch nicht, AfD-Politiker*innen oder ihre Wähler*innen als „rechtsextrem“ zu bezeichnen, weil dies den Rechtsextremismus geradezu normalisiere. Na und? So lautet dann die Antwort. Es geht – so Wilhelm Heitmeyer – letztlich um eine scharfe „Abgrenzungs- und Ausgrenzungspolitik. Mit der aggressiven Behauptung einer Gruppenidentität werden Gruppengrenzen verhärtet.“
Es ist im Grunde dasselbe Phänomen, das Susan Sontag angesichts von Krankheiten beschrieb. Eine Krankheit ist keine Metapher für irgendetwas, sie ist eine Krankheit. Die Entscheidung für eine rechtsextremistische Partei ist keine Metapher für irgendeine noch so berechtigt erscheinende Unzufriedenheit, sie ist eine Entscheidung gegen die Demokratie und eine Entscheidung für Diskriminierung, Vertreibung, Deportationen und Mord. Da können noch so viele beteuern, sie hielten die Demokratie für eine gute Sache. Wer Anti-Demokrat*innen zu Mehrheiten und in Ämter verhilft, spielt mit dem Feuer, in dem sich der Teufel bekanntlich recht wohl fühlt (man verzeihe mir diese Metapher).
Hilft eine inhaltliche Debatte? Vielleicht hätte es geholfen, wenn die Parteien, die aufriefen, die AfD-Kandidaten in Sonneberg und Raguhn-Jeßnitz nicht zu wählen, gesagt hätten, was sie inhaltlich wollen. Dazu hätte man beide Kandidaten befragen können. Malte Lehming hat schon recht, wenn er im Tagesspiegel fordert, eine „inhaltliche Debatte“ zu führen. Die AfD ist keine Friedenspartei, weder im Hinblick auf den von Russland angezettelten Krieg um die Ukraine noch im Hinblick auf den inneren und sozialen Frieden, aber dass sie sich als eine solche inszenieren kann und viele das auch noch glauben, ist letztlich Politikversagen der demokratischen Parteien. Die bisherigen Versuche, durch einen Verweis auf vorgebliche wie auf reale „Sorgen“ der Bürger*innen Vorbehalte abzumoderieren, sind gescheitert. Zu einer inhaltlichen Debatte gehören eben auch die mittel- und langfristigen Zusammenhänge, eben auch der Zusammenhang zwischen Migrations- und Klimakrise und die offene Debatte darüber, dass Demokratie ein mühsames Geschäft ist und Politiker*innen keine Schamanen sind, die mit einem Wort die Welt retten. Es gibt keine Patentlösungen, aber war da nicht einmal der Wunsch, „Fluchtursachen“ zu bekämpfen? Die Fluchtursache Klimakrise ist keine Metapher.
Norbert Reichel, Bonn
(Anmerkung: Erstveröffentlichung im Juli 2023, Internetzugriffe zuletzt am 14. Juli 2023.)