„Politische Seelsorge“
Die Kirchen in der DDR und der 3. Oktober 1990
Am 26. November 2019 hatte ich Gelegenheit, mit Pfarrer Steffen Reiche über die Bedeutung des kirchlichen Widerstands in der DDR zu sprechen. Das Gespräch folgt unter anderem den Inhalten eines Vortrags und einer Predigt, die Steffen Reiche am 2. und am 3. Oktober 2019 zum 29. Jahrestag der Vollendung der Deutschen Einheit am 3. Oktober 1990 gehalten hat.
Steffen Reiche ist heute Pfarrer in Berlin-Nicolassee. Nach dem Abitur 1979 begann Steffen Reiche ein Studium der evangelischen Theologie am Sprachenkonvikt Berlin, das er 1982/1983 unterbrach, um eine Lehre als Tischler zu machen. 1986 schloss er sein Theologiestudium ab und war von 1988 bis 1990 Pfarrer in Christinendorf (Landkreis Teltow-Fläming, Brandenburg).
Steffen Reiche war einer der maßgeblichen Gründer der Sozialdemokratischen Partei in der DDR (SDP) und bis 2000 Landesvorsitzender der SPD in Brandenburg. Er war Mitglied der ersten demokratisch gewählten Volkskammer, von 1994 bis 1999 Minister für Wissenschaft, Forschung und Kultur und von 1999 bis 2004 Minister für Bildung, Jugend und Sport des Landes Brandenburg. Von 2005 bis 2009 war er für den Wahlkreis Cottbus Mitglied des Deutschen Bundestags.
Norbert Reichel: Was bedeutet der 3. Oktober als Feiertag für Sie?
Steffen Reiche: Der deutsche Staat hat diesen Feiertag festgelegt, um an den Tag zu erinnern, an dem im Jahr 1990 die fünf ostdeutschen Länder nach Artikel 23 Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland beitraten. Und Ostberlin mit Westberlin wieder eine Stadt wurde. Am 3. Oktober feiern wir die Deutsche Einheit, die in Frieden und Freiheit gelungen ist.
Immer wieder wird gefragt, warum gerade am 3. Oktober? Die Antwort ist banal und zugleich leidenschaftlich. Wir wollten damals nicht noch einmal den Geburtstag der DDR begehen müssen. 40 Jahre, die am 7. Oktober 1989 in Berlin gefeiert wurden, im Beisein von Gorbatschow, waren genug. Die DDR sollte am 7. Oktober 1990, also vier Tage nach dem Tag der Deutschen Einheit, nicht mehr existieren. Wir hatten die mahnenden Worte von Gorbatschow an seine Freunde von der SED gut verstanden: Wer zu spät kommt, den bestraft das Leben. 40 Jahre DDR waren Strafe genug, für uns, für Deutschland und für Europa.
Norbert Reichel: Manche wollten schon früher beitreten.
Steffen Reiche: Manche hatten sogar den Antrag gestellt, dass wir im August 1990 in der Volkskammer den NoDeal-Beitritt beschließen sollten. Aber Gott sei Dank gab es genug Vernünftige in den Fraktionen der am 18. März 1990 erstmals demokratisch gewählten Volkskammer, um eine Mehrheit gegen die Wiedervereinigung Deutschlands ohne Einigungsvertrag zusammenzubringen.
Norbert Reichel: Sie haben mehrfach betont, dass der 3. Oktober auch ein kirchlicher Feiertag ist.
Steffen Reiche: Dieser vom Staat ausgerufene Feiertag ist zugleich eigentlich auch ein kirchlicher Feiertag. Denn ohne die Kirchen, insbesondere die evangelischen Kirchen, wäre es nie zur Deutschen Einheit gekommen. Denn in den Kirchen haben Menschen gelernt, Gott zu vertrauen und dem Psalm-Satz zu glauben, dass ich mit meinem Gott über die Mauer springen kann (Psalm 18,30).
In den Kirchen haben wir den Mut für gewaltfreien Widerstand gelernt. Denn wir haben gehört, wie Jesus dem Vertreter der Supermacht seiner Zeit, Pontius Pilatus, dem Vertreter des Römischen Reiches in Jerusalem sagte: „Mein Reich ist nicht von dieser Welt.“ Und dann dennoch, nicht nur das Römische Reich, sondern auch die Welt jenseits des Limes, die ganze Welt mehr verändert hat als jeder Kaiser, als jeder Pilatus. Wir waren zwar Bürger der DDR, aber zugleich vertrauten wir einem, folgten wir einem nach, der damit nicht nur Pilatus, sondern auch Erich Honecker als Vertreter der Supermacht Sowjetunion ins Gesicht sagte: „Mein Reich ist nicht von dieser Welt.“ Und das führte bei uns nicht zur Schizophrenie, dass wir aufgeteilt und hin und hergerissen waren zwischen zwei Bezugssystemen, zwei Lebensbereichen, sondern das gab uns Freiheit zu widerstehen.
Wir haben ganz existentiell erlebt, wie es ist, in zwei Reichen zu leben: in dem einen: zwanghaft und ohne Freiheit, aber im Grunde auch lange Zeit ohne die Möglichkeit aus dem kleinen ostdeutschen Reich, DDR genannt, im Westen des Ostblocks herauszukommen. Und die Kirchen in der DDR, in denen wir frei und ohne Maulkorb leben und reden konnten, in denen wir die Freiheit eines Christenmenschen erlebten und in denen wir zu denken wagten, dass es keinem Staat erlaubt sein kann, die Heilsgeschichte Gottes mit seiner Welt zurückzudrehen.
Norbert Reichel: Was bedeutet in diesem Sinne „Heilsgeschichte“?
Steffen Reiche: Im Grunde war die DDR ein großer Versuch zu sagen, was für den Menschen gut ist! Also die Heilsgeschichte anzuhalten, die Uhren zurückzustellen für eine Utopie, die sie Kommunismus nannten und dafür eine klassenlose Gesellschaft errichten wollten. Diese bürgerlichen individuellen Freiheitsrechte aber waren in einer Folge von Revolutionen über das zweite Jahrtausend nach Christi Geburt mühsam in Europa und Amerika erkämpft worden. Und jede dieser Revolutionen, von der Papstrevolution im Mittelalter über die Deutsche Revolution, die wir unter dem Namen „Reformation“ dankbar feiern, die Glorious revolution in England und die Französische Revolution von 1789 und ja, in gewisser Weise sogar die Russische Revolution im Oktober 1917, die Brot für alle erkämpfen wollte, hat versucht, Impulse der Frohen Botschaft Jesu in weltliche Wirklichkeit zu übersetzen. Und deshalb kann man dankbar und muss man gläubig bei allen Rückschlägen, bei allen Konterrevolutionen, die es gab, davon reden und daran glauben, dass wir seit der Geburt Jesu Christi, also seit der Zeit, als die Uhren neugestellt wurden, in der Heilszeit leben. Ich zumindest lasse mir durch keinen Donald Trump oder irgendeinen ebenso blonden Boris Johnson meinen Glauben nehmen, meine Hoffnung kaputt machen, dass wir in der Heilszeit leben und dass Gott mit uns schon unterwegs ist.
Norbert Reichel: Alles, was rund um den 9. November 1989 geschah, wird in der Regel als „Friedliche Revolution“ bezeichnet. Ein ebenso entscheidendes Datum ist natürlich der 9. Oktober 1989, als es einigen Einsichtigen im Politbüro gelang, Erich Honecker von der von ihm favorisierten „chinesischen“ Lösung abzuhalten. Was bedeutet in dieser Hinsicht „Revolution“?
Steffen Reiche: Am Anfang bezeichnete revolutio die Umwälzung der Sonne und der Sterne um die Erde. Aber als man begann zu verstehen, dass sich vielleicht doch die Erde um die Sonne dreht, da war das Wort frei, etwas Revolutionäres, etwas Umwälzendes auf der Erde mit dem Wort Revolution zu bezeichnen. Und so wie der Schöpfung der Heilswille Gottes eingestiftet ist, so dachte man, ist nun diesen weltlichen Veränderungen Gottes Heilswille eingestiftet.
Es ging darum, den in der Bibel erkennbaren Heilswillen Gottes für die Menschen umzusetzen in eine neue weltliche Wirklichkeit. Denn wenn wir, wie Jesus es verkündete, auf das Reich Gottes zugehen, dann darf doch die Geschichte der Menschen nicht mehr so eklatant der kommenden Wirklichkeit Gottes widersprechen, wie sie es, für immer mehr Menschen erkennbar, tat. Durch diese Revolutionen und das, was in ihrem Gefolge geschah, hat sich das Leben seit dem Mittelalter merklich, für alle spürbar nicht nur einfach verändert, sondern verbessert. Menschen haben Menschenrechte und unsere Gesellschaften sind ihnen verpflichtet.
Norbert Reichel: Was ist in diesem Rahmen die konkrete Aufgabe der Kirche?
Steffen Reiche: Die Kirche muss immer warnend auf dem Plan sein, wenn Menschen glauben, dass sie selber das Reich Gottes auf Erden errichten könnten oder gar schon errichtet haben. Denn immer wenn Menschen das denken, wird daraus sehr schnell die Hölle auf Erden. Die von der Predigt des Evangeliums inspirierten Christen müssen immer wachsam nach beiden Seiten der teuflischen Verführung sein: Der einen teuflischen Seite, die meint, es lohne sich gar nicht, irgendetwas zu verändern, weil wir das Reich Gottes sowieso nicht herbeizwingen können und der anderen ebenso teuflischen Seite, die meint, man könne schon mit unserer Macht das Reich Gottes im hier und jetzt errichten.
Norbert Reichel: Wenn Begriffe wie Revolution und Heilsgeschichte so eng miteinander zusammenhängen, liegt der Gedanke des „Endes der Geschichte“, der Francis Fukuyama zugeschrieben wird, nicht fern.
Steffen Reiche: Francis Fukuyamas „Das Ende der Geschichte“ „The End of History and the Last Man“ von 1992 wurde in seiner Zeit weltberühmt. Das Buch führte zu Kontroversen bis in die Leitartikel der Zeitungen. Fukuyama wiederholt Gedanken, die Alexandre Kojève in den 1930er und 40er Jahren formuliert hatte. Dieser hatte eine sehr eigenwillige in Frankreich aber epochale Deutung der Philosophie Hegels vorgelegt. Hegels Geschichtsphilosophie führt tatsächlich zu einem Ende im Sinne einer letzten Synthese, mit der es keine politischen Widersprüche mehr gibt und so glaubte auch Fukuyama – zumindest verstand man ihn so –, jetzt wäre das Ende der Geschichte erreicht und alles würde wie der Westen werden, alle würden den Weg der USA, den Weg Japans, Europas, Australiens und Neuseelands gehen.
Norbert Reichel: Es kam anders, denn Geschichte verläuft nie linear. Oder anders gesagt: der Teufel kommt nie zweimal durch dieselbe Tür. Manche – ich erlaube mir den Hinweis – haben auch übersehen, dass Fukuyama sein Buch mit Nietzsches Gedanken des Letzten Menschen verband, eines Menschen, der nur im unmittelbaren Genuss banaler Freuden ohne jeden metaphysischen Anspruch dahinvegetiert. Manchen fehlen jedes Interesse und jede Sensibilität für politische Zusammenhänge.
Steffen Reiche: Ja schlimmer noch. Thomas Kleine-Brockhoff fragt im Tagesspiegel vom 20. Oktober 2019 unter der Überschrift „Das missverstandene Jahr 1989“, was geschehen wäre, wenn nicht der Mauerfall in Deutschland, sondern das Massaker vom 4. Juni 1989 auf den Tiananmenplatz in Peking das prägende Vorzeichen für die 1989 beginnende Epoche geworden wäre. Ich vertrete mit ganzer Kraft die Position, das leitende Paradigma für unsere Zeit ist die friedliche Revolution von 1989 in der DDR und den osteuropäischen Nachbarstaaten, die 2004 Mitglieder der Europäischen Union wurden.
Ich gebe unumwunden zu, die Annahme von Thomas Kleine-Brockhoff ist eine widerliche These, aber wenn man bedenkt, dass der 4. Juni 1989 kein einmaliger Fehltritt der Chinesen war, sondern Staatsprogramm. Wir sehen das bis heute in Tibet, bei den Auseinandersetzungen in Hongkong oder im Umgang mit der Minderheit der Uiguren, die in ihrer Provinz eigentlich die Mehrheit sind.
Das gilt aus meiner Sicht auch für Russland, denn Wladimir Putin tut alles, was er tut, um die mit der Auflösung der Sowjetunion verlorene Einflusszone wiederherzustellen. Aber auch die von uns so leidenschaftlich begrüßte Arabellion, die in Tunesien begann, mündete leider in dem Paradigma Chinas und nicht in dem, was 1989 in Ostdeutschland begann. Und man kann dann leider bis hin zu Trump und Boris Johnson und dem Brexit diese Linie verfolgen, die vorwärts in die Zukunft wollen, indem sie den Nationalstaat wiederbeleben wollen. Selbst Polen, Ungarn und einige andere EU-Mitglieder wollen so viel wie möglich Nationalstaat, um sich ihren Sonnenplatz in der Zukunft zu sichern. Ich sage uns das zur Warnung, gerade angesichts der AfD-Wahlergebnisse, damit wir nicht blauäugig werden.
Norbert Reichel: Heute wissen wir, dass es Neonazis auch in der DDR gab.
Steffen Reiche: Durch den sogenannten „antifaschistischen Schutzwall“ haben sich die Braunen damals nicht so vorgetraut. Es gab das. Das ist richtig. Ich habe das aber nicht als großes Problem erlebt. Erst als der Bann gebrochen war, die Mauer verschwand, die Freiheit da war, kamen sie in all ihrer Unbildung hervor. In einem offenen Europa, in einer globalisierten Welt erleben wir dies. Ich sage in aller Klarheit: wir müssen der AfD und all ihren Sympathisanten deutlich entgegentreten. Wir dürfen uns aber auch nicht wundern, dass die Rechte an Boden gewinnt, wenn der Staat bei Übergriffen nicht entschlossen reagiert. Es darf keine doppelten Standards geben. Wir müssen uns immer fragen, ob wir mit rechts konsequent genug umgehen. In Brandenburg haben wir das damals mit dem Generalstaatsanwalt, Hanno Rautenberg, mit dem Ministerpräsidenten, Manfred Stolpe, getan, aber es hat nicht gereicht. Wir haben nicht genügend Menschen erreicht. Wir waren nicht immer konsequent genug. Das gilt auch gegenüber dem Islamismus. Wenn wir nicht entschieden gegen Islamisten vorgehen, glauben manche, sie fänden bei der AfD mehr Verständnis für ihre Ängste.
Norbert Reichel: Damit sind wir auch bei der Frage nach den Aufgaben des Staates. Eine wichtige Rolle in kirchlichen Debatten spielt dabei meines Erachtens die „Zwei-Reiche-Lehre“: „Gebt dem Kaiser, was des Kaisers ist“.
Steffen Reiche: Dieses Gleichnis vom Zinsgroschen (Matth. 22, 15-22) hat eben nur den Westen und nicht den Osten des römischen Reiches geprägt. Im Osten und im Westen des Römischen Reiches ist dieses Gleichnis unterschiedlich verstanden worden. Im Osten, in Byzanz, hat man sich in die rechtgläubige Innerlichkeit zurückgezogen, hat eine grandiose Theologie entwickelt und klösterliche Innerlichkeit, aber war ganz abgewandt von der Welt. Und 1054 meinte man dann in Byzanz, der Kirche in Rom widersprechen zu müssen, als die erkannte, dass der Heilige Geist, also der weltverändernde Geist Gottes auch von Jesus Christus ausgeht. Und vom Sohn“ („filioque“) nannte man in Rom das und fügte es in das Große Glaubensbekenntnis von Nicäa ein. Der Osten wollte diesen Weg rechtgläubig, also ganz orthodox nicht mitgehen.
Aber sie sind in ihrer Weltferne wenig später durch ganz diesseitige Muslime überrannt worden. Da wo heute Türkei und Libanon, da wo heute Ägypten und Tunesien mit Karthago und Algerien und Marokko ist, da gab es einst große und beeindruckende Kirchen. Und als die arabischen Muslime dann die Heiligen Stätten der Christen eroberten, gab es einen kurzen, knapp 200 Jahre währenden Aufstand der Kirche im Westen, Kreuzzüge genannt, für die wir uns bis heute selbstkritisch verantworten. Aber wir sind so wirklichkeitsvergessen und realitätsfremd, dass wir gar nicht mehr zu fragen wagen, warum nach den ersten 1000 Jahren nach Christi Geburt, in denen dort mehrheitlich Christen lebten, nun heute seit 1000 Jahren Muslime leben und Christen schikanieren oder sogar verfolgen? Ich will, dass man auch das nicht vergisst und sich immer nur selbst geißelt wegen der Kreuzzüge.
Norbert Reichel: Gewalt beruht auf Gegenseitigkeit, christliche Gewalt und muslimische Gewalt standen sich da nichts nach. Gewalt erzeugte Gegengewalt. Wir sollten aber auch nicht vergessen, dass es unter denen, die die sogenannte Arabellion initiierten, viele Muslime gab und heute noch gibt, die alles andere wollen als gewaltsame Eroberung oder brutale Unterdrückung im Inneren. Sie sind nur leider in der Minderheit.
Steffen Reiche: Im Westen glaubte man, dass der Heilige Geist, der Leben stiftet und Welt verändert, von Gott und dem Sohn ausgeht – filioque. Und was ist heute der Leib Christi in der Welt, von dem der Geist ausgeht? Die Kirche ist dieser Leib Christi in der Welt! Und deshalb hat die Kirche zwar nicht den Auftrag, an Stelle des Staates zu handeln! Aber sie hat den Auftrag, den Staat, die Welt, mit dem Geist Gottes zu konfrontieren! Der so und wann Gott will, eben auch von der Kirche ausgehen kann. Und in den Revolutionen, wo Christen, von Gottes lebensstiftendem Geist begabt, die Welt verändert haben, ist dieser verändernde Geist Gottes sichtbar und spürbar von der Kirche ausgegangen.
Und deshalb ordnete sich die Kirche im Westen, ganz anders als die im Osten, niemals den Mächtigen unter, so wie es die Orthodoxe Kirche in Russland oder Serbien und so auch die anderen 15 Orthodoxen Kirchen tun. Weder die katholische noch die evangelische Kirche ordnen sich den Mächtigen unter!
Norbert Reichel: Zumindest lässt sich das aus meiner Sicht nicht aus den heiligen Schriften ableiten. In der Praxis gab es natürlich auch unter Christen Unterordnung. Ich denke an die „Deutschen Christen“ in der NS-Zeit oder auch an das Verhalten katholischer Kirchen in der Zeit der lateinamerikanischen Militärdiktaturen,
Steffen Reiche: Die Kirchen wissen heute, das Reich, von dem sie künden sollen, ist kein Reich von dieser Welt. Aber diese Welt, diese Reiche, müssen sich der Menschen wegen und wegen Gottes kommendem Reich an diesem einzig sinnvollen Maßstab messen lassen. Und deshalb muss die Kirche der Welt, dem Kaiser, den Herrschenden einen Maßstab setzen, eine Orientierung geben. Das Reich Gottes ist kein Reich von dieser Welt, aber es setzt die Norm, an dem sich um der Wahrhaftigkeit wegen jedes Reich dieser Welt orientieren muss.
Norbert Reichel: Ein solches Reich, in dem diese Wahrhaftigkeit nicht galt, war auch die DDR.
Steffen Reiche: 1968 begannen die Kirchen in der DDR sich als Kirche im Sozialismus zu verstehen. Natürlich würde man das mit dem Wissen von heute nicht noch einmal so machen, aber damals war es, kurz bevor die DDR 20 Jahre alt wurde, der Versuch, das Wagnis einer Ortsbestimmung. Natürlich haben einige das ganz anders interpretiert als zum Beispiel Bischof Albrecht Schönherr, der Bischof in Thüringen. Aber gerade weil es der Bonhoeffer-Schüler Schönherr so sagen konnte, war ich immer bei denen, die gewiss kritisch, dann aber auch mit genügend großer Standfestigkeit diesen Satz gesagt haben. Wir waren Kirche im Sozialismus, ob wir wollten oder nicht! Und ich wollte nicht und ich habe deshalb den prophetischen Auftrag gespürt, das wir uns für Freiheit im Namen Jesu einsetzen müssen und uns ein Maximum der herrlichen Freiheit der Kinder Gottes ertrotzen und erkämpfen müssen.
Norbert Reichel: Wie konnten Sie an den Widerstand der Kirchen unter der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft anknüpfen?
Steffen Reiche: Ein grundlegender Text ist die Theologische Erklärung von Barmen, die 1984 50 Jahre alt wurde. Wir beschäftigten uns zum Jubiläum 1984 in den Gemeinden und im Studium intensiv mit dem Text und der Situation, in der das Bekenntnis entstanden war und spürten, wie viele Parallelen es zu unserer Zeit gab, denn auch wir lebten in einer Diktatur. „Das eine Wort Gottes, dem wir im Leben und im Sterben vertrauen“ sollen, wurde mir zum Leitwort für mein Leben und mein theologisches Denken. Ein weiterer zentraler Text ist das Bekenntnis von Akkra.
Norbert Reichel: Das „Bekenntnis von Akkra“ wurde 2004 in der Hauptstadt Ghanas von der Weltgemeinschaft Reformierter Kirchen beschlossen.
Steffen Reiche: Nach der katholischen und der orthodoxen Kirche ist die Weltgemeinschaft Reformierter Kirchen mit 170 Millionen Mitgliedern die drittgrößte christliche Organisation in der Welt. In dem Bekenntnis von Akkra finde ich in aller Deutlichkeit und Klarheit drei Begriffe wieder, die heute wie damals in den 1970er und 1980er Jahren in der DDR die politische Positionierung der Kirchen bestimmen sollten: Frieden, Gerechtigkeit, Bewahrung der Schöpfung. „Das Recht fließe wie Wasser, Gerechtigkeit wie ein nie versiegender Bach“ (Amos 5,24). Das Wort „Gerechtigkeit“ umfasst verschiedene inhaltliche Dimensionen: soziale Aspekte, die Gerechtigkeit zwischen Nord und Süd, die Gerechtigkeit in einem Land.
Die Bewahrung der Schöpfung hat auch viel mit dem Bericht des Club of Rome „Die Grenzen des Wachstums“ von 1972 zu tun, der auch in der DDR rezipiert wurde. Das eine hängt mit dem anderen zusammen. Und noch etwas brandete in der Zeit auf. Der Streit um die Nachrüstung. „Schwerter zu Pflugscharen“, die Weissagung von Jesaja (Jes. 26,17ff.) war von den Sowjets als Skulptur der UNO geschenkt worden und wir hatten schon in der Schule das in einer Diakonischen Einrichtung in der DDR auf Flies gedruckte Bild wie ein Emblem auf unsere Parkas genäht. Ich erinnere auch an Willy Brandts Satz: „Frieden ist nicht alles, aber ohne Frieden ist alles nichts.“
Norbert Reichel: 1982 hatte das 3. ZK den Aufnäher „Schwerter zu Pflugscharen“ noch verboten. Welche Rolle sahen Sie für sich in diesem Rahmen als Pfarrer?
Steffen Reiche: Ich sah und sehe das Wirken als Pfarrer als politische Seelsorge, die sich um jeden einzelnen Menschen kümmert. Die Kirche war in diesem Sinne die einzige organisierte Opposition in der DDR. Gottes Mühlen mahlen langsam, sagt ein Sprichwort. Und mancher ergänzt: Aber gründlich. Was wir damals erlebten, wird für uns erst im Nachhinein als Gottes Wirken in unserer Zeit erkennbar. Erst im Nachhinein verstehen wir, das das, was 1989 geschah, im Grunde von Gott „losgetreten“ wurde, als das Konklave der Kardinäle in Rom 1979 einen Kardinal aus Polen zum Papst gewählt hat: Johannes Paul II. Das war für niemanden vorher absehbar und noch viel weniger absehbar war, wie weltverändernd dieser Papst wirken würde. Denn ein Pole, dessen Land immer wieder aufgeteilt worden war, das in Europa immer hin- und hergeschubst wurde, war nun Papst geworden.
Ich war damals, im Jahr 1979, gerade mit der Schule fertig geworden, und ich war dabei, als der neue Papst in seine Heimat kam und in Gniezno, in Gnesen, eine Messe vor über einer Million Gläubigen las. Ich habe den Abend davor in dem kleinen Ort erlebt und dachte bei mir, so muss es sein, wenn am Ende aller Zeiten der Herr wiederkommt. Ich habe das niemals davor und danach gedacht, aber an diesem Abend gespürt: „O when the saints go marching in“. Und ich war dabei. Und nun hatten sie in Polen den Mut, sich eine freie Gewerkschaft zu ertrotzen.
Norbert Reichel: Ein vielleicht geradezu messianisches Gefühl, das sich dann auch in der Gemeinschaft vieler Menschen wiederfand.
Steffen Reiche: Mit Solidarność gab es nun nicht nur eine bis dahin nie gekannte Solidarität unter den Polen, aber auch mit den Polen. Überall im Ostblock steckte man sich die Solidarność-Anhänger an und wagte plötzlich den aufrechten Gang. Und dieser aufrechte Gang wurde auch in Gottesdiensten geübt. Dort bekam man den Mut und die Kraft und die Gelassenheit gegenüber dem Staat, der sich leidenschaftlich dagegen wehrte.
Und kurz danach haben wir erneut Gottes Spuren feststellen können. Denn Gott sitzt im Regiment. Über das sowjetische Politbüro erzählten wir uns Witze. In einem wurde der Beginn einer Sitzung beschrieben. TOP 1 Hereintragen des Präsidiums, TOP 2 Gemeinsames Anschalten der Herzschrittmacher. Und nachdem nun wirklich alt und lebenssatt Leonid Breschnew, der KPdSU-Generalsekretär, nach fast 20 Jahren Amtszeit starb, wählten die verbohrten Kader wieder einen fast ebenso alten Mann, Jurij Andropow. Und als der nach rund einem Jahr Amtszeit starb, kam der nächste Alte, Konstantin Tschernenko an die Macht und blieb dort kein Jahr. Und nun endlich, nach drei Menschen, die der Herr über Leben und Tod aus dem Leben abberufen hatte, kam einer aus der Provinz, der anders als sein Leningrader Rivale Grigorij Romanow bereit war zu Reformen, weil er im freien Westen erlebt hatte, was Menschen in Freiheit schaffen können. Michail Gorbatschow begann, und ich habe darin Gottes Spuren festgestellt, Glasnost und Perestroika, Transparenz und Umbau der Gesellschaft.
Norbert Reichel: Ohne Michail Gorbatschow – und ich darf hinzufügen – ohne den amerikanischen Präsidenten George Bush, der François Mitterand und Margaret Thatcher überzeugte, die sich vehement gegen die deutsche Einheit wehrten, gäbe es keinen 3. Oktober als Nationalfeiertag in Deutschland.
Steffen Reiche: Der 3. Oktober ist – dies darf ich hier wiederholen – im Kern auch ein kirchlicher Feiertag, weil ohne die Kirchen, weil ohne die Christen in der DDR, die Einheit Deutschlands und die Einigung Europas niemals zustande gekommen wäre. In den Kirchen wuchs der Widerstand, weil die Kirchen ihre Aufgabe erkannten. Bei Kirchentagen und in Hunderten von Predigten mutiger Pfarrerinnen und Pfarrer wurde über Jesus gepredigt, der mutig seinen Weg im Widerstand gegen Schriftgelehrte und Pharisäer ging bis zum Tode am Kreuz, und es wurde verkündet, dass Jesus Gottes Reich ausgerufen hat, um das wir bitten, wenn wir am Anfang des Vaterunser beten: Dein Reich komme, Dein Wille geschehe, wie im Himmel so auf Erden. Und am Ende feststellen: Dein ist das Reich und die Kraft und die Herrlichkeit in Ewigkeit.
Wenn das Reich Gottes kommt, dann können wir nicht so leben, als ob es nicht käme und Gott einen guten Mann sein lassen. Wer vom Reich Gottes redet, das ist für mich bindend bis heute, der muss immer, zu jeder Zeit, mit allem was er tut, mithelfen, dass unsere Zeit durch mein Tun ein wenig weniger als zuvor diesem kommenden Reich Gottes widerspricht.
Norbert Reichel: Ich habe in vielen Gesprächen gehört, dass die Deutsche Einheit vor dem 9. November 1989 und für viele auch noch im Jahr 1990 kein Thema war. Viele wollten einen menschlichen, demokratischen Sozialismus, sie wollten eine bessere DDR.
Steffen Reiche: Das ist so richtig wie es falsch ist. Die Deutsche Einheit war einfach kein Thema. Es gab andere Dinge, die auf den Nägeln brannten. Wer allerdings die Mauer als ein Unrecht sieht, sieht auch, dass die nationale Einheit von Bedeutung ist. Das wurde dann schnell klar. 90 % der Menschen in der DDR wollten so schnell wie möglich das bekommen, was es im Westen gab. Aber dass sie dann hinterher sich dagegen verwahrten, dass alles so schnell gekommen ist, ist ein eigenes Problem. Sie hätten am 18. März 1990 auch anders wählen können. Man wollte damals die Erfahrung des Westens. Viele, die aus dem Osten herauskonnten, sind in den Westen gegangen.
Norbert Reichel: In den Kirchen gab es durchaus auch Hinweise auf die Bedeutung der Einheit von Ost- und Westdeutschland, sowohl in der katholischen als auch in der evangelischen Kirche.
Steffen Reiche: Die Kirchen hatten an der Einheit festgehalten. Eines kann gar nicht hoch genug geschätzt und bewertet werden. Die Partnerschaften der Kirchen in Ost und West, die Patenschaften zwischen Gemeinden, die gebildet und gelebt wurden über 40 Jahre Teilung hinweg. Die materielle Hilfe, die vieles bis hin zum Neubau von Kirchen ermöglichte, ist nur das eine. Viel wichtiger war, dass sich Menschen trafen, die nicht miteinander verwandt waren, die aufeinander gespannt waren und bereit waren, einander zuzuhören. Ich habe in diesen Gesprächen unendlich viel gelernt über das Leben im Westen, über Chancen und Herausforderungen und all das waren herrlich große Sargnägel für die DDR. Die Partnergemeinden waren etwas Großartiges, dessen Wirkung man sich nicht groß genug vorstellen kann. In den Partnergemeinden kamen Menschen zusammen, die sich als Schwestern und Brüder desselben einen Herrn im Osten und Westen verstanden und versuchten miteinander ihre Aufgaben für Frieden und Gerechtigkeit und Bewahrung der Schöpfung besser zu verstehen.
Norbert Reichel: Es gab auch weitere gemeinsame Ziele, unabhängig von der Überwindung der SED-Diktatur, die aber auch durchaus mit diesem Ziel zusammenhingen.
Steffen Reiche: Es gab die Umweltbibliothek in Berlin, in der Zions-Gemeinde, in der Dietrich Bonhoeffer 1931 eine 50-köpfige Konfirmandengruppe als Pfarrer übernahm. Hier konnte man Bücher und Studien zur Umweltsituation lesen, die es sonst wie so vieles in der DDR nicht gab. Wer dort die Wahrheit über die Situation der Umwelt in der DDR und in der Welt verstand, ließ sich den Mund nicht mehr verbieten. Aber auch das war der DDR-Regierung schon zu viel, sodass sie diesen Lernort schließen wollte. Aber sie hatte nicht mit dem Protest von Hunderten von Jugendlichen gerechnet, sodass nach einigen Wochen Kampf das Ziel erreicht war, die Bibliothek blieb offen.
Diese unauflösliche Trias von Frieden, Gerechtigkeit und Bewahrung der Schöpfung war uns im Ökumenischen Prozess bewusst geworden, der sich aus dem Widerstand gegen die Nachrüstung speiste. Und einige verstanden Helmut Schmidt schon damals, der sagte, man kann die Aufrüstung durch die Sowjetunion mit SS20 nicht einfach zur Kenntnis nehmen, sondern muss gegen diese neue, entscheidende Drehung der Rüstungsspirale Position beziehen. Heute sieht man an der Sympathie, die es für Helmut Schmidt nach seiner Amtszeit und bis heute überall in Deutschland gibt, dass ihm viele auch im Nachhinein zustimmen und rechtgeben und dankbar sind.
Norbert Reichel: Ich denke manchmal, dass die NATO mit dem Nachrüstungsbeschluss und die Friedensbewegung – sicherlich ohne das planen zu können – geradezu komplementär den Niedergang der SED-Diktatur und der anderen Diktaturen in Osteuropa beschleunigten. Es ist vielleicht eine der vielen Paradoxien in der Geschichte: ohne den Nachrüstungsbeschluss hätte die DDR vielleicht noch länger überlebt, aber nicht nur wegen des militärischen Wertes, sondern auch wegen der Folge einer Ost und West gleichermaßen erfassenden Friedensbewegung.
Steffen Reiche: Diejenigen, die in den 1980iger Jahren in den Kirchen ganz neu sprechen lernten und wagten, mit anfangs kleinen und dann immer größeren und mutigen Schritten zu widerstehen, stifteten immer mehr Menschen an, sich zu widersetzen. Nachdem wir auch sichtbar, zählbar bei den Kommunalwahlen am 5. Mai 1989 betrogen worden waren, wurde der Protest immer lauter.
Norbert Reichel: Erstaunlicherweise gab es auch mehr Möglichkeiten, in den Westen zu reisen.
Steffen Reiche: Immer mehr Menschen durften wegen der großen Finanznot der DDR erstmals in den Westen reisen. Sie brachten nicht nur Westgeld und Geschenke mit zurück in den Osten, sondern auch neue Erfahrungen. Sie pfiffen nun auf die Ost-Propaganda gegen den Westen, weil sie gesehen hatten, dass davon nichts stimmte. Ich selbst hatte für meine persönliche Lebensplanung für eine Reise in den Westen all meine Hoffnung auf 2025 gesetzt, dann wenn ich das Rentenalter erreicht haben würde und die DDR an mir kein Interesse mehr haben und mich ziehen lassen würde.
Wir bekamen minimale Reisefreiheit. Und ich gehörte zu den Glücklichen, die in den Westen fahren durften, denn ich hatte einen für die DDR uninteressanten Beruf und zwei Geiseln, Frau und Tochter, die zu Hause blieben. Und der Schock für mich war, dass ich nach 26 Stunden im Westen, im Sauerland (ausgerechnet im Sauerland, dass nun ja nicht der hotspot von hipness ist) mich bei meinen Großeltern in dem Staat mehr zu Hause fühlte als in der DDR, in der ich 26 Jahre gelebt hatte.
Die Freiheit der Kinder Gottes konnte dort ganz anders gelebt werden, weil die bürgerliche Freiheit garantiert war, eine Freiheit, die ich noch nie erlebt hatte. Alle die fahren durften, kamen verwandelt zurück. Die Bereitschaft sich anzupassen, sich einzufügen, war nun merklich gesunken und so waren wir nun jeder in seiner Weise Agenten eines anderen Lebens.
Norbert Reichel: Mit Reisefreiheiten fing es an. Es entstand so etwas wie Zivilgesellschaft, das eigentlich in einem kommunistischen Staat nicht vorgesehen war.
Steffen Reiche: Und wir wollten den Protest und den Kampf für ein anderes Leben nun auch organisieren. Mit dem „Neuen Forum“ organisierte sich erstmals in der DDR so etwas wie eine freie Zivilgesellschaft. Und nun entstanden überall neue Foren für ein kritisches Gespräch über unsere Zukunft in der DDR. Eine Initiative von Christen forderte „Demokratie Jetzt“ und um Pfarrer Rainer Eppelmann gründet sich in seiner Wohnung Ende September ein „Demokratischer Aufbruch“. In Leipzig gingen mutige Menschen nach den Andachten in der Nikolai-Kirche auf die Straße. Über eine halbe Million war es und sie hatten nichts als Gebete und Kerzen. Ich habe in der Zeit mit neun anderen Pfarrern die Gründung einer Sozialdemokratischen Partei in der DDR vorbereitet und wir haben der DDR bewusst zum 40. Jahrestag ihrer Gründung die Partei wieder geschenkt, deren Nichtexistenz die Voraussetzung für die Existenz der DDR war.
Norbert Reichel: Dann ging es Schlag auf Schlag, allerdings – und das darf man nicht vergessen – ohne jede Gewalt.
Steffen Reiche: So viel Wunsch nach Veränderung, so viel Unzufriedenheit war nie zuvor in der DDR. Und als am 18. Oktober 1989 Erich Honecker von seinen eigenen Leuten zum Rücktritt gezwungen wurde, wuchs der Wunsch nach mehr Freiheit nur noch mehr. Und dann kamen am 4. November über eine Million Menschen zur größten Demonstration in der Geschichte der DDR auf dem Alexanderplatz zusammen. Egon Krenz wollte so weitermachen wie bisher. Aber wir wollten reisen, wir wollten uns unsere Freiheit nicht mehr nehmen lassen, wir hatten keine Zeit mehr. 40 Jahre waren mehr als genug. Und so erlebten wir, dass Luther recht hatte, als er über den Teufel in der Marseillaise des Protestantismus, in „Ein feste Burg ist unser Gott“, sang: „Ein Wörtlein kann ihn fällen.“
Dieses Wort wurde von Günter Schabowski in einer Pressekonferenz am 9. November in Berlin auf Nachfrage gesagt: „Unverzüglich.“ Und da wir den DDR-Oberen nicht trauten, machten wir uns unverzüglich auf den Weg zum Grenzübergang Bornholmer Straße. Und dort, wo über 38 Jahre lang scharf geschossen worden ist, konnten wir plötzlich Richtung Osloer Straße laufen. Das Westfernsehen, unser Fenster in die Freiheit, übertrug live und wer noch wach war und in der Nähe, machte sich auf den Weg. Und so wurde der 9. November zum glücklichsten Tag unserer Geschichte, so wie der 11. September, als Islamisten 12 Jahre später in die Twin-Towers in Manhattan flogen, zum Alptraumtag der Menschheitsgeschichte geworden sind.
Norbert Reichel: Damit wären wir wieder bei einem Punkt, der die Rede vom „Ende der Geschichte“ nach 1989 widerlegt. Aber in der DDR entwickelte sich zunächst aus meiner Sicht eine Stimmung, in der es vor allem darum ging, möglichst schnell die Wohltaten des Westens zu erhalten. Der Ruf „Wir sind das Volk“ wurde zu „Wir sind ein Volk“.
Steffen Reiche: Das wollten die Menschen und so haben sie bei der ersten freien Wahl in der DDR am 18. März 1990 mit etwa 50 % die Allianz für Deutschland gewählt, die den schnellsten Weg zur Deutschen Einheit versprach. Diese erste frei gewählte Volkskammer hat in den wenigen Monaten bis zum 3. Oktober und obwohl ohne Erfahrungen bei der Gestaltung eines demokratischen Staates beeindruckend gearbeitet, Kommunalwahlen durchgeführt und den Einigungsvertrag verabschiedet. Soviel Wandel in so kurzer Zeit war nie zuvor und nie wieder danach. Ich habe Respekt und bin dankbar bis hin zu denen in der SED, die am 9. Oktober 1989 verhinderten, dass wir wie in China einen Platz des Himmlischen Friedens erlebt haben, und dass wir gemeinsam, demokratisch, in so atemberaubender Geschwindigkeit, aber leider auch im nun wieder abnehmenden Vertrauen auf Gott, unseren Weg gefunden haben.
Norbert Reichel: Manche sagen, dass die DDR vom Westen übernommen worden wäre. Ein Indiz wäre die geringe Anzahl von Menschen in Führungspositionen mit einer Ost-Biographie.
Steffen Reiche: Wer sich beschwert, sollte sich auch fragen, wen er damals am 18. März 1990 gewählt hat. Ich möchte dem aber für Brandenburg widersprechen. Wir haben in Brandenburg viele Menschen in leitende Positionen gebracht, die aus der Oppositionsbewegung kamen. Das war anders als in Sachsen und in Thüringen. Wir hatten in Brandenburg mit Manfred Stolpe einen ostdeutschen Ministerpräsidenten. Ich war damals Landesvorsitzender der SPD. Wir haben damals allerdings auch Leute aus dem Westen geholt, weil wir Leute brauchten, die ihre Arbeit beherrschten. Die gab es im Osten nicht in ausreichender Zahl. Wir wollten Menschen aus dem Osten und aus dem Westen. Man sprach auch vom ‚Brandenburger Weg‘. In Manfred Stolpe begegneten sich dann Kirche und Staat.
Norbert Reichel: Welche Perspektive sehen Sie heute? Was können wir aus Ihrer Sicht vom weiteren Verlauf der Geschichte erwarten?
Steffen Reiche: Immer wieder ist in Bezug auf 1989 gesagt worden, dass damit die Globalisierung begonnen habe. Es stimmt, dass in den Jahren danach viele das Wort erst kennenlernten. Aber begonnen hat sie nicht 1989. Auch nicht erst 1914 mit dem Weltkrieg, wie viele behaupten, auch nicht 1789 oder 1517 und auch nicht durch das British Empire und auch nicht durch Marco Polo! Begonnen hat die Globalisierung auf Golgatha, dem Ort, als das erste Mal die Welt als Ganzes in den Blick genommen wurde, kosmos houtos, und dort, wo wenig später der bis heute Geschichte schreibende Satz gesagt worden ist: „Gehet hin in alle Welt“
Für mich ist das nicht nur eine Glaubensaussage, das auch, es ist eine historische Feststellung. Und deshalb, so denke ich, müssen Christen wie die Gemeinschaft christlicher Kirchen in Europa, sich dafür einsetzen, dass wir mindestens eine wirkliche Europäische Union, eine Gemeinschaft, am besten eine Europäische Republik werden, um auch in Zukunft mitzubestimmen, was das die Zukunft prägende Paradigma wird – China oder die Europäische Republik, die zwar mit ihren 500 Millionen Einwohner nicht einmal halb so viel Einwohner hat wie China oder Indien, aber ein enormes Vorbild freiheitlicher Demokratie zu bieten hat. Dass der Klimawandel die Herausforderung ist, wissen auch wir Christen alle, außer rechte Christen in der AfD, aber wie der big structural change, der notwendig ist, aussehen soll, das müssen wir erst noch definieren.
Der 3. Oktober hat als Feiertag viele Voraussetzungen, ohne die es nie zur Vereinigung Deutschlands gekommen wäre. Er steht auf vielen Schultern. Die Ideen konnten wachsen, weil uns in dem friedlichen Jesus ein Vorbild vor Augen steht. Sein Reich ist nicht von dieser Welt, ja, das stimmt. Aber diese Welt muss sich deshalb auch und schon jetzt ändern. Und jeder von uns ist gefordert, sein Scherflein dazu beizutragen, den Widerspruch zum kommenden Reich Gottes ein wenig zu mindern.
(Anmerkungen: Erstveröffentlichung im Mai 2020, Internetlinks wurden am 18. September 2022 auf Richtigkeit überprüft.)