Richtig rechnen!

Ein Rezept wider die Dystopisten

„Wie schafft man es, wenn man in einem wohlhabenden Land lebt, in das die Menschen hineinströmen, die Frage der Immigration so zu lösen, dass die Gesellschaft nicht darunter leidet?“ (Kim Stanley Robinson, in: Usch Kiausch, Andere Welten – Interviews zur Science Fiction Band 2, Die technologische Perspektive, Berlin, Memoranda, 2024)

Kim Stanley Robinson ist ein Meister einer utopischen Literatur, bei der man nie so richtig entscheiden möchte, ob es sich um Utopien für eine bessere Zukunft oder doch um Dystopien handelt. Er forderte in einem kurzen Manifest: „Dystopien – Jetzt!“ Wenn wir uns nicht auf dystopische Diskurse einlassen, werden wir es nicht nicht schaffen, utopisch zu denken und zu handeln. Aber wie soll man schreiben, wenn die politischen Auseinandersetzungen, die Wahlkämpfe hauptsächlich auf der Frage beruhen, welche Dystopie mehr Angst macht? Wen müssen wir mehr fürchten? Messerschwingende Migranten oder Brandsätze schleudernde Rechtsextremisten? Oder etwa die Klimakrise, Putin oder Trump, Höcke oder Wagenknecht? Eine Menge zumindest rhetorischer Brandsätze begleiten unseren medialen Alltag.

Täglich erleben wir Brandbeschleuniger, auch in den demokratischen Parteien. Bodo Ramelow – Heribert Prantl zitierte ihn in der Süddeutschen Zeitung – nannte dies einen „Überbietungswettbewerb der Abschreckungsgrausamkeiten“. Nicht nur für Migrant:innen, auch für diejenigen, die sich für deren Menschenrechte engagieren. Anwält:innen, Pfarrer:innen, die Kirchenasyl gewähren, Mitarbeiter:innen in Flüchtlingshilfeorganisationen werden bedroht. Ronen Steinke schreibt in der Süddeutschen Zeitung: „In der Asyldebatte missachten selbst mächtige Politiker wie Söder oder Merz geltendes Recht. Das ist gefährlich.“ Und was soll das heißen, wenn Markus Söder – nicht nur Hubert Aiwanger, von dem man nichts anderes mehr erwartet – davon redet, jetzt müsse endlich das „Volk“ anstelle der Gerichte entscheiden? Ist das dann ein „Volksgerichtshof“? Harald Welzer beschrieb in der taz die Ko-Abhängigkeit der demokratischen Parteien vom rechten Diskurs: „Vielleicht haben wir in der Politik auch schon Ko-Antidemokraten, nämlich all jene, die durch ihre Rhetorik die wahren Verhältnisse zudecken und sich auch selbst suggerieren, dass sie die Probleme schon im Griff haben. Das glaubt ihnen, wie alle Umfragen zum Politikvertrauen zeigen, kaum noch jemand.“ Und wie es in solchen Debatten immer schon war, gerät der Rechtsextremismus wieder aus dem Blickfeld. Nichts vereint offenbar mehr als ein gemeinsamer Feind: der Migrant!

Prozentrechnung

Die liberalen Demokrat:innen benehmen sich gegenüber der Hass-Rhetorik wie „Hasenfüße und Kaninchen“. Visionen einer gerechten Gesellschaft? Weitgehend Fehlanzeige. Nun ist das Thema Zuwanderung beileibe nicht das einzige Thema, das zurzeit hasenfüßig oder aggressiv – je nach Einstellung – diskutiert wird, aber es eignet sich besonders gut, um zu erörtern, warum wir in den politischen Debatten in einer Sackgasse gelandet sind.

Im September 2024 wurde in drei deutschen Provinzen Landtage gewählt, in denen etwa 10 Prozent der Menschen in Deutschland leben (Kinder eingerechnet). Das Besondere dieser Wahlen war, dass zwei Parteien, AfD und BSW deutlich gegen Migrant:innen Front machten, auch noch eine Person verehren, die nicht nur ein benachbartes Land zu vernichten anstrebt, sondern gleich alles bedroht, was den Westen ausmacht: Menschenrechte, Demokratie, Liberalismus (damit meine ich nicht Neo-, sondern Sozialliberalismus). 30 Prozent sind keine Mehrheit, nirgendwo, auch nicht in Österreich, wenn es Herbert Kickl nach der Wahl mit seiner FPÖ schaffen sollte, „Volkskanzler“ zu werden wie er das nennt. Ohne Koalitionspartner wird ihm das nicht gelingen. Johanna Roth hat in ihrem ZEIT-Essay „Der Trumpismus kommt nach Sachsen“ Alice Weidel mit Recht widersprochen, Koalitionsverhandlungen ohne die AfD wären „undemokratisch“.

Grundlage mancher politischer Parolen sind gefühlte Zahlen und deshalb sollten wir diese einmal genauer betrachten:

  • Die deutsche Wirtschaft am Boden? Deutschland verfügt über die drittgrößte Volkswirtschaft der Welt. Aber es scheint eine Katastrophe zu sein, wenn die Wirtschaft nur um 0,1 oder 0,2 Prozent wächst. Auch hier stellt sich die Frage: 0,1 oder 0,2 Prozent von was? Der Sockel ist erheblich höher als in vielen Volkswirtschaften, die ein Wachstum in Höhe von drei, vier, fünf Prozent oder mehr verzeichnen. Aber brauchen wir überhaupt das fast schon mit religiöser Verve beschworene Wachstum? Die Fixierung auf die Autoindustrie, der deutschen Parteien liebstes Kind, macht leider träge. Wenn sich Regierung und Opposition ständig in den Haaren liegen, ob der sogenannte „Verbrenner“ auch nach 2035 noch verkauft werden soll, weiß in der deutschen Wirtschaft niemand so recht, was denn jetzt nun gilt. Bei der – zugegeben amateurhaft – versuchten Implementation von Wärmepumpen anstelle von Gas- und Ölheizung verhält es sich ebenso. Was gilt denn nun? Deutschland hat innovative Chancen verschlafen, Digitalisierung, E-Mobilität, Energiewende und anderen, China, den USA, die Initiative überlassen.
  • Zweites Beispiel: Die Inflationsrate liegt zurzeit mal knapp über, mal knapp unter zwei Prozent. Aber zwei Prozent von was? Die Zeiten, in denen die Teuerung deutlich über fünf Prozent lag, sind vorbei, aber sie bilden den Sockel, auf dem die jetzigen zwei Prozent aufsetzen. Statt die allgemeine Teuerung anzuerkennen wird darüber schwadroniert, ob das Bürgergeld zu hoch wäre und Anreize setze, nicht zu arbeiten. Das stimmt in Teilen zwar, hat aber mehr mit kontraproduktiven staatlichen Regelungen zu tun als mit bewussten Mitnahmeeffekten der betroffenen Menschen. Das Problem liegt in rigider Einschränkung von Zuverdienstmöglichkeiten, in zu niedrigen Mindestlöhnen, in zu lange andauernden Anerkennungsverfahren der Berufs- und Bildungsabschlüsse von Migrant:innen, und nicht zuletzt in den Mitnahmeeffekten, die diejenigen produzieren, die an der Teuerung verdienen können, die einen Teil der vom Staat verteilten Sozialleistungen nutzen, um das von ihnen vertriebene Gut noch etwas teurer zu machen.
  • Drittes Beispiel: 30 Prozent der Straftaten werden – so heißt es – von Ausländern (muss man hier nicht gendern) begangen. Die Zahl ist nicht falsch, aber sie wird in einer Art verwendet, als handele es sich bei 100 Prozent aller Ausländer:innen um Kriminelle, erst recht wenn es sich um Muslim:innen handelt. Heribert Prantl brachte es auf den Punkt: „Der Flüchtling per se wird als Verbrecher betrachtet und behandelt.“ Und nicht nur „der Flüchtling“, getriggert werden alle Menschen mit Einwanderungsgeschichte, auch die, die in Deutschland geboren sind und in der Regel einen deutschen Pass haben. Was geschieht, wenn junge Menschen viele Jahre in ungesicherten Verhältnissen leben, keinen Ausbildungsplatz finden, keine Wohnung und sich langweilen? Das einzige ideologisch konsistente Angebot finden manche dann bei Islamisten. Bei jungen Männern, die sich im Geiste des Rechtsextremismus Anschläge auf Wohnheime von Geflüchteten, auf Synagogen, hervortun, werden keine eingängigen Prozentzahlen verbreitet, aber die Langeweile, in der sie leben, ist durchaus der Langeweile ihrer islamistischen Kollegen vergleichbar. Wie lebt es sich als INCEL? Die Verachtung von Frauen ist bei Islamisten wie Rechtsextremisten verbreitet. Sie hoffen auf jemanden, der ihnen – wie Björn Höcke in seinen Reden – Anerkennung ihrer „Männlichkeit“ verspricht oder – wie islamistische Prediger – das „Paradies“. Die Zahl der antifeministischen Influencer steigt. Wer zulässt, dass junge Männer (und Frauen) ohne Lebensperspektive dahinleben, sollte vielleicht darüber nachdenken, wie solche Einsamkeit entsteht.

Reduktion von Komplexität

In die politische Sprache haben sich grob fahrlässige Vereinfachung und Analogien eingeschlichen. Mitunter grenzt dies an Vorsatz. Die AfD maßt sich an, sie habe vor 35 Jahren die Berliner Mauer zu Fall gebracht und plakatiert: „Die Einheit vollenden“. Ich muss nicht begründen, warum das Unsinn ist. Aber die AfD arbeitet am Fall einer anderen Mauer, der „Brandmauer“, die immer wieder beschworen wird, wenn demokratische Parteien bei Wahlen nur knappe Mehrheiten erreichen. In der Politik scheint diese „Brandmauer“ stabil – so eine von der Süddeutschen Zeitung am 14. September 2024 vorgestellte Dokumentation des Wissenschaftszentrums Berlin –, in der Rhetorik sieht es anders aus. Johanna Roth: „Die Migrationsdebatte ist das beste Beispiel, dass die Brandmauer nach rechts rhetorisch wie semantisch längst wegbröckelt. Nicht nur in der Union: ‚Die Leute haben die Schnauze voll‘ (Christian Lindner), ‚Wir müssen endlich im großen Stil abschieben‘ (Olaf Scholz), betroffenes Schweigen (große Teile der Grünen).“ Oder Carsten Linnemann, der – an Horst Seehofer anschließend – lautstark propagiert, es gäbe nur ein einziges Problem: „Migration, Migration, Migration“.

Auch seriöse Kommentator:innen fallen darauf herein. Im Presseclub vom 8. September 2024 meinte ein Teilnehmer, es gebe zurzeit zwei Krisen: die „Migrationskrise“ und die „Wirtschaftskrise“. Ist das alles? Was ist mit der Klimakrise, die einen ausgesprochen migrationsfeindlichen Staat wie Australien inzwischen veranlasst, den Menschen aus Tuvalu pauschal die Einreise und dauerhafte Ansiedlung zuzusagen? Was geschieht in der Ukraine? Was geschieht in Israel und Gaza? Über den Sudan, Myanmar und andere Orte dieser Welt, in denen Millionen von Menschen vertrieben und ermordet werden, wollen wir gar nicht erst reden.

Reduktion von Komplexität nennt man das. Dies geschieht auch, wenn jemand als „Islamexperte“ angekündigt wird, obwohl es eigentlich heißen müsste: „Islamismusexperte“. Ein gefährliches Framing, das vermuten lässt, alle Muslim:innen wären potenzielle „Islamisten“. Dieses Framing dokumentierte der Tagesspiegel in seinem Bericht über das Projekt StateParl, das Begriffe und Metaphern sammelt und analysiert, die in Parlamenten verwendet werden. Gegenstand des Berichts war eine Analyse der Begriffe und Metaphern, die (nicht nur) die AfD über Parlamente und in (soziale) Medien in den Alltagssprachgebrauch zu überführen versucht: „Kriminelle Ausländer“, „Kulturfremdheit“, „Messer“; „Islam“, „Umvolkung und Bevölkerungsaustausch“. „Remigration“, „Migration und Flucht als Naturgewalt“. Einige dieser Begriffe fallen unter die Kategorie der rhetorischen Figuren der Metapher, der Metonymie oder der Synekdoche. Wörter wie „Messer“ oder „Kopftuch“ suggerieren potenzielle und reale Gewalttätigkeiten von Menschen, die nicht zu dem als „deutsch“ propagierten „Kulturkreis“ gehören und daher ausgewiesen oder noch besser erst gar nicht ins Land gelassen werden sollten.

Paradigma Migrationsdebatte

Die Migrationsdebatte, die hier als Paradigma für eine aus dem Ruder gelaufene Debattenkultur diskutiert wird, ist ein Sammelsurium von Lebenslügen. Ich nannte diese einmal das „Lampedusa-Syndrom“. Auch hier fehlen in der Regel die Kontexte.

  • Es ist nicht das Problem, ob ich anstelle von Bargeld eine Bezahlkarte einführe. Das Problem ist der lange Zeitraum, in dem Menschen auf eine Bezahlkarte angewiesen wären.
  • Es ist nicht das Problem, ob ich – wie in Dänemark – die Zugewandertenquote in einem Stadtteil auf 30 Prozent reduziere. Das Problem ist die geringe Bereitschaft in anderen Stadtteilen, an Migrant:innen zu vermieten und sie als Nachbar:innen zu akzeptieren.
  • Es ist nicht das Problem, dass Zugewanderte nicht arbeiten wollten. Es ist ein Problem, wenn sie endlos lange auf Deutschkurse (Mittel dafür werden im Bundeshaushalt reduziert) und auf die Anerkennung ihrer Abschlüsse warten müssen. In dieser Wartezeit haben sie sie kaum die Chance, eigenverantwortlich und selbstständig zu handeln.
  • Bisher bekamen Geflüchtete 16 Monate lang eine eingeschränkte medizinische Versorgung. Diese Frist soll auf 32 Monate erhöht werden. Traumabearbeitung bleibt ausgeschlossen.

Wäre Politik in der Lage und bereit, diese endlos langen Zeiträume der staatlich verordneten Langeweile zu verkürzen oder auch Hausbesitzer:innen zu bewegen, an Migrant:innen zu vermieten, auch in der sogenannten gut bürgerlichen Nachbarschaft? Naika Foroutan: „Der lange Aufenthalt in Gemeinschaftsunterkünften mit Menschen ohne Perspektiven sowie die schwierigen Bleiberechtsverfahren verstärken oft Frustration. Rechtliche Hürden erschweren zudem den Zugang zur Arbeit. Die Suche nach Identität kann in radikalisierte Netzwerke führen (…). Traumatische Fluchterfahrungen und das Zurücklassen von Familienmitgliedern tragen ebenfalls dazu bei, dass sich einige in virtuelle radikale Gemeinschaften flüchten, besonders über soziale Medien, was jüngere Geflüchtete besonders betrifft.“

Immerhin ahnt der Bundeskanzler wohl etwas. Ganz zaghaft sagte er es. Er meinte, in Bezug auf die ausstehende Anerkennung ihrer Abschlüsse für geflüchtete Ukrainer:innen, solche Anerkennungen könne man auch nachholen. Ein Lichtblick? Vielleicht, aber zurzeit herrscht offenbar die Vorstellung vor, man brauche nur einen virtuellen oder vielleicht sogar realen hohen Zaun rund um Deutschland (Stichworte: „Grenzen schließen“, „ständige Grenzkontrollen“), bis niemand mehr hinein- und irgendwann vielleicht auch niemand mehr hinauskommt. Aber Zäune oder Mauern können 20 Meter hoch sein, es gibt immer eine 21 Meter hohe Leiter. Und nicht zuletzt gibt es in Deutschland lebende Extremist:innen, unter den Islamist:innen ebenso wie erst recht unter den Rechtsextremist:innen. Gegen die helfen keine Zäune, aber wie wäre es mit Überwachung und Entwaffnung?

Paternalismus und „emotionale Buchführung“

Klaus Vater diagnostizierte im Beueler Extradienst in seinem Beitrag „Kollektive Amnesie?“ Fantasie- und Hilflosigkeit bei Medien und Politik: „Die für mich an diesem Abend (der Abend der Wahlen in Thüringen und Sachsen, NR) so wichtige Frage der Rückwirkung dieser Entwicklung auf die nach Tausenden zählenden gewaltbereiten Rechtsradikalen wurde kaum aufgeworfen – am ehesten noch in der Lanz-Sendung am 3. September vom Sänger der Prinzen, Sebastian Krumbiegel. Der parlamentarische Rechts-Extremismus und die Gruppen der offen gewaltbereitem Rechts-Extremisten werden sich stärker abstimmen als bisher. Wir alle werden das zu spüren bekommen. Am meisten die Jüdinnen und Juden unter uns. Stattdessen Albernheiten. Ein Paradebeispiel hierzu war, was ARD-Moderatorin Jessy Wellmer am Abend des 2. September in den Tagesthemen bot. Wie eine Halbgöttin aus dem Kosmos des Herrn der Ringe erhob sie sich über den CDU-Politiker Jens Spahn, um von dem zu erfahren, wie es die Christdemokraten mit der Partei die Linke halte. Sie hätte ebenso den Schäferhund fragen können, was er von Nachbars Katze hält.“ Ist vielleicht schon aufgefallen, dass Jens Spahn Donald Trump immer ähnlicher wird?

Vielleicht helfen pastorale oder sozialpädagogische Argumente? „Akzeptierende Jugendarbeit“? Christine Lieberknecht versuchte dies im ZEIT-Gespräch mit Evelyn Finger: „Der Osten wurde nicht gehört“. „Wir brauchen Brückenbauer und keine Leute, die mit Schlagworten wie links und rechts um sich werfen. Auch wenn der Wahlsieg der AfD mir missfällt: Jetzt zu behaupten, der Osten sei demokratiefeindlich, ist Quatsch. Die vielleicht interessanteste Zahl dieser Landtagswahlen: In Thüringen und Sachsen haben noch nie so viele Menschen gewählt. Nicht mal nach der Wiedervereinigung! In Thüringen waren es im Oktober 1990 71,7 Prozent, jetzt sogar 73,6 Prozent.“ Natürlich ist eine hohe Wahlbeteiligung erst einmal etwas Gutes, aber dennoch sollten wir uns auch den Kontext anschauen, in dem diese Zahl zu bewerten wäre. Wer gewann wo wie viel dazu, in absoluten Zahlen wie relativ in Prozenten?

Das Narrativ des nicht gehörten Ostens kennen wir aus früheren Veröffentlichungen. Beispielhaft nenne ich Ilko-Sascha Kowalczuk „Die Übernahme“ (München, C.H. Beck, 2019), aber auch die Bücher von Katja Hoyer und Dirk Oschmann, die (unverdiente) sechsstellige Auflagen verzeichnen. Zum Glück gibt es Steffen Mau. Er diagnostizierte bei den Ostdeutschen „emotionale Buchführung“ (aus meiner Sicht gibt es das Phänomen auch im Westen!). Das eigentliche Problem ist der paternalistische Anspruch vieler Politiker:innen, nicht nur von AfD und BSW, die alle so tun, als bräuchte man nur ihren Vorschlägen zu folgen, um das eigene Unbehagen erfolgreich zu therapieren.

Die Runden Tische wiederbeleben

Die Debatte ist so verfahren, dass wir andere Verfahren brauchen, um Blockaden aufzulösen. Steffen Mau schlug, unter anderem in seinem jüngsten Buch „Ungleich vereint“ (Berlin, Suhrkamp, 2024), vor, wieder an die Tradition der Runden Tische anzuknüpfen. Er ist nicht der Einzige, der dies vorschlägt. Seyla Benhabib zum Beispiel tat dies erst kürzlich in der ZEIT: „Im Gegensatz zum alten Modell der deliberativen Demokratie, wo man 100 Republikaner und 100 Demokraten zusammenbringt und sagt, sie sollen über Abtreibung diskutieren, sind Bürgerräte Versammlungen per Los zufällig ausgewählter Bürger. Der Austausch, die Interaktion ist dadurch viel intensiver. Solche Räte mit 700 bis 800 Bürgern sollen die gesetzgebenden Körperschaften nicht ersetzen, sondern als zusätzlicher Übertragungsmechanismus dienen. Ich sehe darin ein Versprechen, weil wir dringend etwas tun müssen, um die Institutionen zu erneuern. Wir müssen experimenteller und erfinderischer werden.“

Die Politik müsse ihren paternalistischen Habitus verlassen und die Bürger:innen ernst nehmen. Das gelingt nicht, wenn man radikale Parolen nachbetet. Das gelingt nur, wenn man Bürger:innen die Gelegenheit gibt, sich selbst ein Bild zu machen. Da ließe sich manche Denkblockade auflösen und die demokratischen Parteien könnten darüber debattieren, wie sie sich die Zukunft Deutschlands, Europas, der Welt vorstellen anstatt sich immer nur damit zu beschäftigen, was Radikale als die angeblich alle Probleme auf immer und ewig lösende Maßnahme hinstellen. Patrice Poutrus hat die lange Geschichte anti-migrantischer Politik ausführlich analysiert. Sie geht zurück bis ins Kaiserreich. Es ist schon fast eine „(Sehn-)Sucht nach der homogenen Gesellschaft“.

Bekämpfen wir diese „(Sehn-)Sucht“! Marina Weisband hat in ihrem „aula-Projekt“ gezeigt, wie Schüler:innen auf diesem Weg Selbstwirksamkeitserfahrungen sammeln: „Radikal, demokratisch, pädagogisch“. Sandro Witt stellte eben dies in seinem Projekt „Betriebliche Demokratiekompetenz“ fest: „Yes, we can“. Jürgen Wiebicke fordert in seinen Büchern und Vorträgen „Gute Orte und die Lust zu streiten“. Politik wird handlungsfähig, wenn sie Wege findet, Bürger:innen so zu beteiligen, dass die unterschiedlichen Positionen gehört werden. Das bedeutet nicht, dass alle Positionen gleichberechtigt nebeneinander existieren, aber das muss man erst einmal ausloten, welche das sind. Die Grund- und Menschenrechte sind unverhandelbar, aber auch da gibt es Abstufungen. Verstößt das Auslesen von Mobiltelefonen bei illegal Einreisenden wirklich gegen Menschenrechte? Wie wägt man Sicherheitsinteressen und Datenschutz miteinander ab?

Warum keine Runden Tische in den Kommunen, an denen Wirtschaft, Zivilgesellschaft, Flüchtlingshilfe, Polizei, auch diejenigen, die partout keine Zuwanderung wollen, gemeinsam einen Plan entwickeln. Das ließe sich sogar bundesweit koordinieren. Haben wir die Zeit? Wenn wir sie uns nicht nehmen, holt uns die heutige Debatte in wenigen Monaten wieder ein, egal, was die Bundesregierung im Einvernehmen mit der größten Oppositionspartei und den Ländern beschließen mag. Die britischen Erfahrungen mit der Schein-Lösung Brexit sollten uns eigentlich abschrecken, auf Abschottung zu setzen.

Und zum Thema Migration: Vielleicht wäre der 10-Punkte-Plan der drei baden-württembergischen Bürgermeister Richard Arnold (CDU), Ryyan Alshell (Grüne, er kam als Flüchtender nach Deutschland) und Boris Palmer (parteilos) ein guter Einstieg in die Beratungen solcher Runden Tische: „Wir wünschen, dass die real existierenden Probleme im Umgang mit Geflüchteten endlich ernsthaft diskutiert und aus dem ideologischen Streit zwischen xenophoben Nationalisten und illusionären Wokisten befreit werden.“

Vielleicht wäre das ein Ausweg aus den Sackgassen der Dystopisten und eine konstruktive Antwort auf die Frage von Kim Stanley Robinson? Das ist keineswegs die Quadratur des Kreises, aber vielleicht wäre das ein Weg zur Entwicklung einer zeitgemäßen Formel des legendären Satzes von Willy Brandt: „Mehr Demokratie wagen!“

Norbert Reichel, Bonn

(Anmerkungen: Erstveröffentlichung im September 2024, Internetzugriffe zuletzt am 16. September 2024. Titelbild: Hans Peter Schaefer, aus der Serie „Deciphering Fotographs“.)