Sylvesternacht 2.0
Neue Töne jenseits der Migrantisierung von Gewalt
In der Nacht vom 31. Dezember 2022 auf den 1. Januar 2023 erlebten wir nach dem Jahreswechsel von 2015 auf 2016 mal wieder eine „Sylvesternacht“, die einen Politikwechsel bewirken könnte, wenn auch in die falsche Richtung. Es geschah damals in Köln, jetzt geschah es in Berlin, in einer Stadt, die sowieso schon viele für einen Failed State halten (ist sie natürlich nicht, um das mal klarzustellen!). Die Reflexe mancher Politiker*innen 2015 und 2022 ähnelten einander. Der erste war diesmal Jens Spahn. Aber nicht nur er deutete die Vorkommnisse in diese eine Richtung: schnell waren migrantische, zum überwiegenden Teil männliche junge Menschen als Täter ausgemacht.
Andererseits ernteten Jens Spahn und seine Mitstreiter*innen heftigen Widerspruch aus den eigenen Reihen. Das war diesmal anders als 2015. So distanzierte sich Serap Güler, heute MdB für die CDU, früher Integrationsstaatssekretärin in NRW, von Äußerungen ihres Parteikollegen: „Es sind vor allem Migranten selbst, die sich über solche Taten aufregen, weil viele keinen Bock haben, mit solchen Leuten in dieselbe Schublade gesteckt zu werden (…). Muss man wissen, wenn man daraus jetzt eine Integrationsdebatte machen will.“ Aber wer hat denn ein Interesse an der Neuauflage einer emotionalisierten und wenig sachgerechten Integrationsdebatte? Man könnte durchaus die üblichen Verdächtigen oder die interessierten Kreise nennen, denen daran gelegen ist, alles Migrantische pauschal zu verdammen. Dazu ist manchen jedes Mittel recht. Correctiv recherchierte, dass ein Video, das einen Angriff auf einen Rettungswagen in Neukölln zeigen sollte, in Wirklichkeit einen Angriff aus dem Jahr 2019 in Hongkong zeigte. Ein weiteres Video aus Berlin-Schöneberg ist vier Jahre alt.
Güner Balsi, Integrationsbeauftragte von Berlin-Neukölln, beschrieb ein Stimmungsbild nach der Sylvesternacht: „Einer will, dass ich mich entschuldige, bei allen Ost-Berlinern, die nie was gegen Einwanderer hatten, weil ich zu erwähnen wagte, dass gewaltbereite Jugendliche ohne erkennbaren Migrationshintergrund in Berlin-Hohenschönhausen vielleicht andere Hassobjekte haben als ein Hamoudi aus der Neuköllner High-Deck-Siedlung. Ich solle nicht über ‚Abgehängte‘ reden, nicht über ‚sozial Schwache‘, das sei diskriminierend, ich solle nicht über Migranten reden oder ich solle gefälligst nur von Migranten reden.“ Güner Balci verweist auch auf Hooliganismus bei Fußballspielen, beispielsweise auf Ausschreitungen bei einem Spiel von Dynamo Dresden am 16. Mai 2021 gegen Türkgüçü München mit 185 verletzten Polizist*innen, von denen 30 dienstunfähig wurden. Keiner der Täter hatten den sogenannten „Migrationshintergrund“. Julius Geiler berichtete im Berliner Tagesspiegel.
Der Kern der Debatte: manche Politiker*innen, nicht nur konservative, sind nach wie vor versucht, jede Gewaltdebatte in eine Migrationsdebatte zu verwandeln. Auch einige Zungenschläge der Bundesministerin des Inneren und der Regierenden Bürgermeisterin von Berlin lassen aufhorchen: steckt hinter ihren Äußerungen wirklich der ernstgemeinte Versuch, die Wogen zu glätten und für eine vernunftgeleitete Diskussion – die seit 2016 aussteht – zu sorgen, oder wird da, bei allem guten politischen Willen doch dem vermuteten Vorurteil bestimmter Wähler*innen gefolgt? Da werden Gipfel gegen Jugendgewalt und was auch immer angekündigt. Aber warum erst jetzt? Als die Fußballfans von Dynamo Dresden randalierten, verlangte niemand einen solchen Gipfel. Aber kaum sind Migranten (vor allem junge Männer, daher gendere ich nicht) dabei, kommt es wieder zu den üblichen Formeln: höhere Strafen, schnelle Aburteilung der Täter, von SPD und Grünen etwas variiert mit der Forderung nach mehr Sozialarbeit. Reichen die Gesetze nicht aus? Muss man sie nicht eben einfach nur auch mal konsequent anwenden? Und was ist mit einer Ausweitung der ohnehin schon bestehenden Verbote von Waffen einschließlich Schreckschusspistolen oder gar einem Böllerverbot?
Die Reaktionen von konservativer Seite ließen nicht auf sich warten. Es ist wie mit dem Tempolimit. Ein Recht auf Sylvesterböller, ein Recht auf Waffenbesitz ohne weitere Kontrolle, wenn man doch nur im Schützenverein damit schießt. Alles Einschränkung der Freiheitsrechte? Das ist ein Verbot von Sturmgewehren auch, und was damit geschieht, erleben wir fast täglich in den USA. Der brave Familienvater und seine brave Familie müssen doch ihre Böller abschließen dürfen, machen sie doch eh nur an Sylvester, das ist Brauchtum, weltweit! Und der Schützenverein, das ist Tradition, die Schützen darf ich doch nicht mit Kontrollen und Vorbedingungen schikanieren!
Viel interessanter wäre meines Erachtens jedoch jenseits solch reflexartiger Skripte, die jede*r Journalist*in schon vor den jeweiligen Ereignissen aufschreiben könnte, die Frage, ob es nicht Wege gäbe, einmal unabhängig von Gewaltereignissen darüber nachzudenken, wie man – vielleicht gar nicht in böser Absicht – eine solche Migrantisierung einer Gewaltdebatte wieder einfängt und vielleicht sogar dafür sorgt, dass die Zahl derjenigen sinkt, die das Gewaltereignis nutzen, um ihre Vorbehalte gegen Migrant*innen und andere, die anders ausschauen als sie selbst, umso lauter in die Welt zu pusten.
Ein gutes Vorbild für eine solche alternative Strategie bietet Sepp Müller, Vorsitzender der Landesgruppe Sachsen-Anhalt in der Bundestagsfraktion der CDU. In einem Gastbeitrag für die ZEIT (der Beitrag wurde am 8. Juni 2022 aktualisiert) formulierte er den Vorschlag, die Menschen in Schwedt (Brandenburg), dessen Wirtschaft in hohem Maße von der Verarbeitung russischen Öls abhängt (das inzwischen nicht mehr zur Verfügung steht), an der notwendigen Umsteuerung direkt zu beteiligen und damit auch aus der nicht zuletzt durch die Erfahrungen der 1990er Jahre mit der Treuhand bedingten Opferrolle herauszuholen: „Mit dem verabschiedeten Energiesicherungsgesetz ist zumindest die Grundlage geschaffen worden, die Besitzstruktur zu verändern. Diese Chance muss jetzt genutzt werden, um die Beschäftigten der Raffinerie dazu zu befähigen, noch mehr Verantwortung zu übernehmen. Nun kann man eine alte Idee in die Tat umsetzen: Produktivkapital in Arbeitnehmerhand zu geben. Wir würden damit auch der Vermögensungleichheit begegnen. Insbesondere der Osten unserer Bundesrepublik kann hier wieder eine Vorzeigerolle einnehmen. Vermögen in alle Schichten unserer Gesellschaft zu verteilen ist die große Chance in dieser Krise.“
Eine solche Beteiligung der Bürger*innen ginge erheblich weiter als bekannte deliberative Formen wie sie beispielsweise eine „Planungszelle“ mit ihren zufällig ausgewählten Mitgliedern bietet. Sie geht an den Kern dessen, was Bürger*innen in ihrem Alltag wichtig ist, macht Sozial- und Wirtschaftspolitik für jeden spürbar. Denn Politik ist kein Selbstzweck und sollte sich nicht auf die Produktion neuer Regelungen beschränken, Politik sollte den Mut haben, neue Wege einzuschlagen statt sich in populistischen Phrasen und Lobbyismus selbst zu blockieren.
Ein negatives Beispiel, durchaus den Problemlagen in Schwedt vergleichbar, erlebten wir in Italien. Dort musste aufgrund europäischer Vorgaben unter der Regierung von Mario Draghi ein Gesetz geschaffen werden, dass die Vergabe der Betreibung von Stränden europaweit ausgeschrieben werden müsse. Dies entzog vielen Familien die Existenzgrundlage, die seit Jahrzehnten Strände pflegten und wirtschaftlich betrieben. Für die Fratelli d’Italia war es ein Leichtes, gegen Brüssel zu agitieren und die Stimmen dieser Kleinunternehmer*innen zu gewinnen. Gegen solche Entwicklungen könnte Sepp Müllers Vorschlag wirken, allerdings nicht zuletzt unter der Bedingung, dass das Elend der europaweiten Ausschreibung für alles und jedes verstanden und beseitigt würde und lokale Unternehmen wieder ein Prä bekämen. Das ist kein Nepotismus. Wer meint, Nepotismus durch europaweite Ausschreibungen zu bekämpfen, die große Konzerne begünstigen, erntet Sympathien für antieuropäische Hetze.
Am 22. Dezember 2022 veröffentlichte die Süddeutsche Zeitung ein Interview mit Sepp Müller, in dem er forderte: „Die CDU muss sozialer statt nationaler auftreten.“ Die an die AfD – und an andere rechtspopulistische und rechtsextremistische Parteien verlorenen Stimmen – könnten von den demokratischen Parteien nur wiedergewonnen werden, wenn sie sich von der Illusion verabschiedeten, mit gefühligen nationalen Parolen punkten zu können. In Sepp Müllers Wahlkreis landete die AfD auf dem dritten Platz: „Ich kann nur sagen, mit was wir in meinem Wahlkreis erfolgreich waren. Wir haben uns zum Beispiel mit Fridays for Future zusammengesetzt – ein Ergebnis war, dass wir mittlerweile mehr als 60.000 Bäume gepflanzt haben. Wir haben uns selbstverständlich auch mit der muslimischen und der jüdischen Gemeinde getroffen. Und wir haben uns darum bemüht, mit den jungen Menschen auf Augenhöhe über die Themen zu sprechen, die sie beschäftigen. Außerdem mache ich jedes Vierteljahr ein Praktikum in meinem Wahlkreis. Ich war Fährmann, ich war im Gesundheitsamt, im Pflegeheim und bei der Müllentsorgung.“
Vielleicht ist das ein Weg, dem rechten Mainstreaming eine demokratische Erzählung entgegenzusetzen. Dazu gehört auch, ehrlich zu sagen, dass es keine Patentlösungen geben kann und auch nicht geben sollte. Dazu gehört – so Cas Mudde in seinem Buch „Rechtsaußen“ (Bonn, Dietz Nachf., 2019) – dass „wir besser erklären, warum die liberale Demokratie das beste politische System ist, das es derzeit gibt, und dass es alle Unzufriedenen schützt. Dafür müssen wir uns der Spannungen, die dem System innewohnen, stärker bewusst sein, besonders zwischen Mehrheitsregierung und Minderheitsrechten.“ Vielleicht wäre das eine aktuelle Version des Brecht’schen Diktums von der „Sache, die so einfach, doch so schwer zu machen ist“. Und reflexartige Reaktionen auf Krawalle, die alles und jedes migrantisieren, gehören vielleicht doch irgendwann der Vergangenheit an.
Norbert Reichel, Bonn
(Anmerkungen: Erstveröffentlichung im Januar 2023, Internetzugriffe zuletzt am 14. Januar 2023. Titelbild: Hans Peter Schaefer.)