Struggle and Suffering?
Oder wie Klassenkampf von oben funktioniert
Am 13. Mai 1940 hielt Winston Churchill im britischen Unterhaus eine Rede, die unter dem Motto „Blood, Sweat and Tears“ in die Geschichte einging. “I say to the House as I said to ministers who have joined this government, I have nothing to offer but blood, toil, tears, and sweat. We have before us an ordeal of the most grievous kind.”
Am 13. Mai 1940 hatte Hitler noch nicht die Sowjetunion überfallen, die USA waren noch keine Kriegspartei, die Briten mehr oder weniger auf sich allein gestellt. Am 13. Mai 1940 war ein Sieg über Nazi-Deutschland noch nicht absehbar. Churchills Rede wurde legendär, sie vereinte und motivierte das britische Volk.
Churchills Rede hat ihren Platz in unserem kollektiven Gedächtnis legendärer Reden. In dieser Tradition spricht Wolodymyr Selenskyj seit dem 24. Februar 2022 zu seinen ukrainischen Mitbürger*innen und so spricht er auch vor den Parlamenten der ihn unterstützenden „westlichen“ Welt und anderswo. Churchill sprach von „many, many months of struggle and suffering“. Es wurden etwa fünf Jahre, 60 Monate.
Vielleicht dachte Olaf Scholz bei seiner „Zeitenwende“-Rede vom 27. Februar 2022 an Churchill. Vielleicht. Alle seine folgenden Reden scheinen eher den Zweck zu verfolgen, Mühsal, Tränen, Schweiß und Blut zu vermeiden, zumindest den Eindruck zu vermitteln, dass die Bürger*innen in Deutschland von all diesen Unbilden verschont bleiben. Es begann mit dem Streit um die Lieferungen sogenannter „schwerer Waffen“, den der Bundeskanzler mit dem Hinweis bereicherte, man dürfe nicht Kriegspartei werden und müsse einen Nuklearkrieg verhindern. Im Subtext ließe sich heraushören, dies bedeute, wir müssten das Blut der Ukrainer*innen in Kauf nehmen, um nicht selbst zu bluten.
Robert Habeck und Christian Lindner prophezeiten, dass „wir alle“ angesichts der steigenden Lebensmittel- und Energiepreise „ärmer“ würden, spezifizierten jedoch nicht, wen sie meinten. Christian Lindner kehrte sehr schnell zu seiner bekannten Klientelpflege zurück. Robert Habeck dachte darüber nach, wie wir alle Energie sparen könnten, doch wurde dies in den Medien auf den Vorschlag reduziert, kürzer zu duschen. Olaf Scholz zuckte mit den Schultern („Nö“), aus der SPD thematisierte nur Saskia Esken explizit die Lage der Menschen, die ohnehin kaum über die Runden kommen.
Der FDP-Vorsitzende hingegen knüpfte an einen gescheiterten Vorgänger an, der „spätrömische Dekadenz“ anprangerte. Er sprach von „Gratismentalität“. Und mit der Doppelformel „Geringverdiener und arbeitende Mitte“ stritt er allen Menschen, die aus welchen Gründen auch immer nur wenig Geld verdienten, ab, dass sie überhaupt arbeiteten. Es ist das alte Lied: „Leistungsträger“ ist nur wer viel Geld verdient. Gewinne aus Hedge-Fonds, Boni für scheiternde Manager*innen, „Übergewinne“, Mitnahmeeffekte für Monopolisten – alles leistungsgerecht. „Leistungsträger“ sind offenbar auch diejenigen, die für etwa 10 Prozent der CO2-Ausstöße verantwortlich sind, die „Superreichen“, über deren Lebensstil Berit Dießelkämper am 2. August 2022 im Zeit-Magazin berichtete. Die neuerlichen Vorschläge des Bundesfinanzministers kommentierte Zacharias Zacharakis am 10. August 2022 in der ZEIT: „Für Geringverdienende gibt’s halt nichts.“ Berit Dießelkämper schrieb, es wäre eigentlich Zeit für einen Aufstand. Was wir erleben verdient durchaus den Namen: Klassenkampf von oben.
Waltraud Schwab brachte diese Entwicklungen unter dem Titel „Auf Konsum reduziert“ auf den Punkt (nachzulesen in „Das Parlament“ vom 25. Juli 2022): „Die Schlangen an den Flughafen-Check-Ins sind ein gutes Zeichen. Das Tamtam darüber ist indes das letzte Aufbäumen einer verwöhnten Gesellschaft. Ein Flug nach London – tausend Euro – ein Skandal! Als wäre ein Recht auf billiges Fliegen in Gefahr. Alle fragen: Wie konnte es so weit kommen? Niemand fragt: Warum sollten Flugreisende ein Anrecht darauf haben, keinen klimagerechten Preis zu bezahlen und nicht warten zu müssen? Über die immer länger werdenden Schlangen der Hungrigen vor den Ausgabestellen der Tafeln gibt es keinen Aufschrei. Was ist wichtiger: nicht zu hungern oder nicht fliegen zu können?“
Ich wage zu behaupten, Bürger*innen und Wirtschaft sind weiter als der Bundeskanzler und sein Finanzminister. Irgendwie habe ich den Eindruck, als pflegten manche Politiker*innen eine Art Feigheit vor dem Freund. Die Zahlen für die Einsparung von Energie bewegen sich gegenüber den Vorjahren um einen Wert von etwa 15 Prozent, der öffentliche Personen-Nahverkehr ist überfüllt, aber durch das 9-EURO-Ticket attraktiv. Daran ließe sich anknüpfen. Ich wünsche mir offene Debatten. Weniger Fleischkonsum, damit das für Tierfutter verwendete Korn für Brot verwendet werden kann und so ganz nebenbei Nutztiere mehr Platz haben? Ein Tempolimit, um Benzin zu sparen? CO2-Abgabe für Flugreisende? Umwandlung der vor allem Menschen mit hohen Einkommen entlastenden Pendlerpauschale und des sogenannten „Tankrabatts“ in einen Mobilitätszuschuss für geringer Verdienende? Abschaffung der Steuervorteile für Kerosin (8 Mrd. EUR!)? Abschaffung des Dienstwagenprivilegs (5 Mrd. EUR!)? Übergewinnsteuer? Realistische Preise für Fleischkonsum und Urlaubs-Mobilität? Mir fiele noch einiges ein, zum Beispiel das eigentlich längst überholte Ehegattensplitting, die Einführung spürbarer Steuern auf Vermögen und Finanztransaktionen. Ich halte gesellschaftliche Mehrheiten für all diese Vorschläge für möglich. Wenn man sie nur systematisch diskutierte. Es geht eben ganz einfach um Priorität für eine Entlastung kleiner und mittlerer Einkommen (so auch die „Wirtschaftsweise“ Veronika Grimm) und um Solidaritätsbeweise der Menschen mit hohen und höheren Einkommen.
Lebensmittel und Energie waren und sind im Grunde zu billig, pardon: es heißt ja preisgünstig, preiswert. Wir profitieren in Deutschland ohnehin schon lange Zeit von Lebensmittel- und Energiepreisen, die deutlich unter dem Niveau vergleichbarer Staaten liegen, beispielsweise Frankreich, Schweiz oder Israel. Aber damit das so bleibt, fordern FDP und CSU mehr oder weniger unverhohlen den Wiedereinstieg in die Atomenergie und die Aufhebung angeblich die Landwirtschaft einschränkender Umweltauflagen. Vor allem die Debatte um die Kernkraft ist eine Scheindebatte. Brennstäbe und Uran aus Russland? Stillliegende Atomkraftwerke wegen Kühlwassermangel? Ist Kernkraft denn wirklich billige Energie? Welcher Abgeordnete wäre bereit, in seinem Wahlkreis ein Atomkraftwerk bauen zu lassen? Und wozu? Damit die Heizlüfter, die zurzeit wie vor zwei Jahren Toilettenpapier gehortet werden, auf Hochtouren laufen können?
Die Grünen sind bereit, ihnen völlig gegen den Strich gehenden Übergangslösungen zuzustimmen und dennoch gelingt es der FDP und anderen, sie als Dogmatiker*innen zu brandmarken, selbst aber auf den eigenen Dogmen zu bestehen. Ein Tempolimit auf den Autobahnen? Nicht einmal als befristete Maßnahme wird dies eingeräumt, obwohl die Mehrheit der Bürger*innen es nach den gängigen Umfragen befürwortet. Es könnte sich ja verstetigen. Windräder in Bayern? „Verspargelung der Landschaft“ drohte der ehemalige Bäumestreichler Markus Söder. Im Jahr 2021 hat Bayern acht Windräder genehmigt.
Carolin Emcke bezog sich in der Süddeutschen Zeitung vom 29. Juli 2022 auf das Urteil des Bundesverfassungsgerichts zum Klimaschutz: „Wer auch in Zukunft Freude am Leben haben und seine Autonomie genießen will, muss den Klimaschutz vorantreiben. Für die FDP hätte das eine Einladung sein können, sich von der autodestruktiven Verengung auf jenen entpolitisierten Liberalismus zu verabschieden, der sich allein auf die Verteidigung individueller Rechte (und Privilegien) eines als Mitte verklärten Milieus beschränkt. Das Urteil hätte die FDP nutzen können, um sich das Thema der ökologischen Transformation anzueignen und als ureigenste liberale Agenda mit Leidenschaft und Dringlichkeit voranzutreiben.“
Noch einmal Zacharias Zacharakis: „Es ist das Grundprinzip einer Solidargemeinschaft, hier Ausgleich zu schaffen.“ Ein sozialer und ökologisch grundierter Liberalismus – das wäre doch mal was! Und hier passt vielleicht die Botschaft jener legendären Rede, in der John F. Kennedy ausrief: „Don’t ask what your country can do to you, ask about what you can do for your country.“
Norbert Reichel, Bonn
(Anmerkungen: Erstveröffentlichung im August 2022, Internetlinks wurden am 26. Dezember 2022 überprüft. Titelbild: Hans Peter Schaefer.)