Tötet den Boten!
Zur Debatte um die Letzte Generation
Am 6. November 2022 zeigte der Weltspiegel der ARD sichtbare Folgen der Klimakrise. Die Natur findet ihren Weg, doch Menschen leiden. Klein- und Kleinstbauern in Guatemala verlieren ihre Existenzgrundlage, Menschen in den Vororten Manilas leben nicht mehr am, sondern im Wasser, ganze Stadtviertel versinken. Der Meeresspiegel steigt, der Boden an Land sinkt ab. In den Niederlanden steht die Frage auf der Tagesordnung, ob die Sperrwerke gegen Sturmfluten noch ausreichen, um das Land zu schützen.
Schlechte Botschaften, doch dominieren zur COP 27 in Deutschland nicht diese Nachrichten die Debatten. Beschuldigt werden die Bot*innen, sodass wir an die alte griechische Erzählung denken müssen, dass die Überbringer*innen der schlechten Nachricht getötet werden, als hätten sie den Anlass der Nachricht verschuldet.
Die Süddeutsche Zeitung kündigte am 6. November 2022 einen Text von Philipp Bovermann auf ihrer Internetseite wie folgt an: „Alle reden über Aktivismus, keiner redet über das Klima“. Anlass ist die Debatte um die Gruppe Letzte Generation. Viral ging die Annahme, ihre Blockaden hätten den Tod einer Radfahrerin in Berlin verursacht. Dies konnte inzwischen widerlegt werden, doch reagierten Politiker*innen, allen voran die deutsche Innenministerin (SPD) so schnell, dass es gar nicht möglich war, die Fakten zu klären. Schwerste Geschütze fuhr der CSU-Landeschef im Bundestag auf. Er warnte vor einer „Klima-RAF“. Der hessische Justizminister (CDU) forderte, die Aktivist*innen als Terrorist*innen zu markieren und zu bestrafen, Freiheitstrafen bis zu fünf Jahren werden gefordert. In Bayern gibt es schon eine bis zu 60 Tage dauernde Präventivhaft und die bayerische Landesregierung denkt darüber nach, diese auf Menschen, die sich irgendwo ankleben, anzuwenden. Ronen Steinke schrieb am 10. November in der Süddeutschen Zeitung, wie eine solche Maßnahme den Rechtsstaat aufhebe und – ich wage dies zu sagen – im Grunde in einen Polizeistaat verwandelt, der seinen Bürger*innen im Grunde nur Böses zutraut.
Es ist die alte Angst, die sich auch bei Protesten im Hambacher Wald und anderswo zeigte. Diese Generation hat erfahren, dass Demonstrationen, Kundgebungen und Reden nicht weiterhelfen. Ihr Fazit: so lauter Krawall wie möglich, dann muss doch jemand auf uns hören. Oder sollte ich schreiben: so lauter Krawall wie nötig? Es entsteht durchaus eine Art Jeanne-d’Arc-Syndrom.
Immerhin hat Letzte Generation einen hohen Grad an Aufmerksamkeit erreicht, allerdings müssen sich die Aktivist*innen auch fragen, ob die Aktionen die erwünschte Wirkung erzielen können. Dies wurde beispielsweise im Radiosender Bayern 2 diskutiert. Der nordrhein-westfälische Justizminister Benjamin Limbach (Grüne) verwies auf die freiheitlich-demokratische Verfassung in Deutschland, die sichere, dass „legitime Ziele mit legalen Mitteln“ verfolgt werden könnten und sollten. Wie illegal die Aktivitäten von „Letzte Generation“ wären, ließe sich nicht pauschal beantworten. Es müsse im Einzelfall geprüft werden, ob Ordnungswidrigkeiten oder gar Straftaten – von der unterlassenen Hilfeleistung bis zur Nötigung – vorlägen. Die Aktivistin Aimée van Balen von „Letzte Generation“ berief sich auf ihr Recht auf „zivilen Widerstand“, der Protestforscher Jannis Grimm fragte, ob wir bei den Aktionen überhaupt schon von „Gewalt“ sprechen könnten. Es gehe Letzte Generation nicht um „antidemokratische Systemproteste“, Benjamin Limbach und Jannis Grimm stellten die Frage, ob die Art der Proteste nicht weite Teile des Bürgertums abschreckten statt sie für eine wirksame Klimapolitik zu gewinnen. Benjamin Limbach forderte, „verbal abzurüsten“.
Vergleiche zu den Sitzblockaden der 1980er Jahren drängen sich auf. Vielleicht erhellt ein Blick in den 1975 bei Rowohlt erschienenen Band von Johan Galtung, Strukturelle Gewalt – Beiträge zur Friedens- und Konfliktforschung (bei Rowohlt im Jahr 1975 erschienen). Radikalität kann viel mit Verzweiflung zu tun haben und die angeprangerte Untätigkeit des Staates wirkt durchaus als „Strukturelle Gewalt“. Ein zweischneidiges Schwert, Philipp Bovermann schreibt: „Über das Schicksal der „Letzten Generation“ wird wohl entscheiden, ob sie sich einen Rest von Empathie für die Menschen bewahrt, die sie aufrütteln, warnen und, ja, retten will. / Denn ein Protest, der einzig seine eigene Radikalität thematisiert (Seht her, wozu eure Untätigkeit uns getrieben hat!), ist nichts mehr als eine öffentliche Beschäftigung der Bewegung mit sich selbst.“
Die Klimakrise ist real, die Reaktion der Politik – vorsichtig gesagt – verhalten. Gemeinsam mit David Laitin weist Rogers Brubaker in dem Band „Ethnizität ohne Gruppen“ (Hamburg, Hamburger Edition, 2007, die amerikanische Originalausgabe erschien 2004 bei Harvard University Press) darauf hin, dass „Gewalt als eine Phase in einer Mobilisierungsperiode“ verstanden werden könnte. „Wenn die Mobilisierung nachlässt, greifen Splittergruppen zur Gewalt als der einzigen Möglichkeit, den Zusammenbruch herbeizuführen.“ So weit geht es bei Letzte Generation (noch) nicht.
Die letzte Generation ist ihrer Ohnmacht schmerzhaft bewusst. Die Debatte über ihre Aktionen – nicht ihre Aktionen und nicht ihre Ohnmacht – bewirkt, dass die viel größere Gefahr für unsere Demokratie ignoriert wird, die von einer Partei ausgeht, die bereits zwei Mal an Zustimmung zu verlieren schien, dann aber immer wieder neuen Wind bekam, zuletzt bei der Landtagswahl in Niedersachsen. In anderen Ländern, Schweden, Italien, in den USA haben Rechtsradikale – ja, man muss große Teile der Grand Old Party inzwischen dort verorten – eine erheblich größere Basis. Letzte Generation hingegen wird kriminalisiert. Man kann und darf ihren Aktivismus kritisieren, aber nicht der Aktivismus, sondern die ungepflegt rechtslastige Debatte macht ja erst das Bild. Sie spielt denen, die den Klimawandel leugnen, in die Karten.
Aber vielleicht ist das der eigentliche Grund für die verbale Aufrüstung mit RAF- und Terrorvergleichen: Ablenkung von dem eigentlichen Problem, der Klimakrise und den unzureichenden Maßnahmen der Regierungen, lieber Rückzug in den eigenen Vorgarten und Schutz des bisherigen Lebensstils? So wird erklärbar, dass wir in der Tat eine Eskalation der Proteste gegen die Untätigkeit der deutschen Regierung (und anderer Regierungen) erleben. Immerhin können sich die Proteste auf ein Verfassungsgerichtsurteil berufen, ihre Gegner*innen nicht. Es begann mit Schulstreiks von Fridays for Future mit Happening-Charakter, dann kamen die Blockaden: Ende Gelände mit Baumhäusern, Extinction Rebellion mit Anketten und jetzt Letzte Generation mit Anklebeaktionen sowie der Verunstaltung von Kunstwerken.
Haben Sie schon viel darüber gelesen, welche Anschläge es zurzeit auf Flüchtlingsheime gibt? In den ersten drei Quartalen des Jahres 2022 waren es 65 Angriffe, im Jahr 2021 insgesamt 70. Wird da von Terrorismus gesprochen? Oder kommentieren Politiker*innen die Forderungen von AfD-Politiker*innen nach der Deportation von Menschen, die nicht ihrem blond-weißen Menschenbild entsprechen? Offenbar ängstigen Aktionen für mehr Klimaschutz Politiker*innen und mit ihnen befreundeten Journalist*innen mehr als solche gegen Migration und für Putins Krieg. Dies bleibt offenbar Spezialist*innen überlassen und so können sich anti-demokratische Positionen von rechter Seite im Mainstream verankern.
Cas Mudde hat in seinem Buch „Rechtsaußen“ (Bonn, Dietz Nachf., 2019) beschrieben, wie die zurückhaltende Kritik an rechten Forderungen Parteien verändert, die von sich behaupten, sie verträten die „Mitte“ der Gesellschaft. Zwei Beispiele: der von den Schwedendemokraten mitformulierte neue Koalitionsvertrag in Schweden sowie die migrationspolitischen Maßnahmen der dänischen Regierung, die von den Sozialdemokraten, nach wie vor stärkste Partei, geteilt werden. Dazu gehören in Dänemark die Verbringung von Geflüchteten nach Ruanda (in Großbritannien scheiterte dies bisher), die Erklärung von Teilen Syriens als sichere Regionen, in die abgeschoben werden dürfe, Abschiebegefängnissen im Kosovo.
Ist Radikalisierung ein Zeichen von Stärke oder von Schwäche? Die Frage ist akut, wann Schwäche zu Stärke wird, im Sinne von Karl Marx und Friedrich Engels Quantität in Qualität umschlägt (siehe z.B. in „Die Dialektik der Natur“, MEW 20). Bisher brachen radikale Bewegungen schnell zusammen. Das galt zuletzt für die französischen Gelbwesten. Wann und wie Gewaltexzesse Mehrheiten finden können, ist ein Thema der Gewaltforschung, das hier nicht ausführlich behandelt werden kann. Das Tempo, in dem die Nazis nach dem 30. Januar 1933 ihre Agenda durchsetzten, wäre ohne die Straßenkämpfe der vorangegangenen Jahre, ohne den in den 1920er Jahren virulenten Antisemitismus und die ständige Missachtung des staatlichen Gewaltmonopols nicht denkbar gewesen. Von solchen Bedingungen sind wir heute in Deutschland weit entfernt, übrigens auch in Italien und Schweden. Doch wir müssen dafür sorgen, dass das so bleibt. Es geht nicht nur um „verbale Abrüstung“ in der Debatte um Letzte Generation, sondern auch um „verbale Aufrüstung“ – man verzeihe mir das militärische Vokabular – zum Schutze unseres freiheitlich-demokratischen Rechtsstaats gegen Rechts!
Politiker*innen sollten sich darauf konzentrieren, dass sie den dringend erforderlichen Klimaschutz ernsthaft betreiben. Dazu gehört, dass sie deutlich sagen, dass bestimmte Einschränkungen unvermeidbar sind: langsamer und weniger Auto fahren, weniger oder gar kein Fleisch essen, die Wohnungen und öffentliche Gebäude etwas weniger heizen, Überlandleitungen für den Energietransport nicht mehr blockieren, erneuerbare Energien fördern (Stichwort: „what you can do for your country“). Es wäre illusionär, dass eine der diskutierten Maßnahmen alleine in der Lage wäre, die Probleme zu lösen. Die viel beschworenen technologischen Träume (Kernfusion, Brennstoffzellen, erneuerbare Energien flächendeckend) sind nur ein Teil der Lösung. Es kommt auf die Mischung an und vor allem darauf, offen zu sagen, dass es ohne einen veränderten Lebensstil, ohne Suffizienz nicht geht.
Wir empfehlen die Lektüre von Ulrike Hermann „Das Ende des Kapitalismus“ (Köln, Kiepenheuer & Witsch, 2022), sich schreibt, das wäre „keine gute Nachricht“, gehöre aber zur ehrlichen Analyse. Ignorieren wir diese Botschaft, wird sich auch der Protest der Klimaaktivist*innen weiter radikalisieren und dann letztlich den Boden für die bereiten, die jeden Klimawandel leugnen und meinen, sie bräuchten nur ihren Vorgarten und ihr Auto zu schützen, um alle Probleme dieser Welt zu lösen.
Beate Blatz, Köln, und Norbert Reichel, Bonn
(Anmerkungen: Erstveröffentlichung im November 2022, Internetlinks wurden am 26. Dezember 2022 überprüft. Titelbild: Hans Peter Schaefer.)