Transferleistungen

Gerechtigkeits- und Neiddebatten

Machen staatliche Unterstützungsleistungen träge? Diese Frage dominiert immer wieder die Debatten um Unterstützungsleistungen für Menschen, die – wie man so sagt – in „prekären“ finanziellen Verhältnissen leben. Die einzigen Unterstützungsleistungen, die nie in Frage gestellt werden, sind Kindergeld und steuerliche Kinderfreibeträge. Denn diese Leistungen erhalten alle, unabhängig vom Einkommen. Ebenso wenig umstritten war im Jahr 2022 der sogenannte „Tankrabatt“, den die FDP durchsetzte, damit niemand unter den steigenden Benzinpreisen zu leiden hätte. Betonung auf „niemand“. Das klingt fast schon so, als beneideten die Reichen die Armen, wenn diese eigene nur auf sie zugeschnittene staatliche Transferleistungen erhielten, „Neiddebatte“ einmal anders herum, eine „Gerechtigkeitsdebatte“ von oben.

Sobald Leistungen diskutiert werden, die ausschließlich arme Menschen erhalten, wird gemutmaßt, sie wollten sich in der oft zitierten „sozialen Hängematte“ ausruhen. Eine neue Sozialfigur der deutschen Debatte ist die „hart arbeitende Mitte“, die CDU und FDP nicht müde werden, als die eigentlich Benachteiligten dieser Welt darzustellen. Der US-amerikanische Armutsforscher Matthew Desmond präsentierte am 20. April 2023 in seinem Essay „The High Cost of Beeing Poor“ in der New York Review of Books jedoch ein überraschendes Ergebnis: „Juni und Juli 2021 stoppten 25 Staaten einige oder alle ihrer Unterstützungsleistungen, die sie während der Pandemie eingeführt hatten, einschließlich ausgeweiterter Arbeitslosenversicherung. Dies schuf die Gelegenheit zu schauen, ob diese Staaten sich an einem signifikanten Sprung in ihren Beschäftigungsraten erfreuen konnten. Aber als das Labor Department die Augustdaten verkündete, lernten wir, dass die fünf Staaten mit dem schnellsten Beschäftigungswachstum (Alaska, Hawaii, North Carolina, Rhode Island und Vermont) einige oder alle dieser Unterstützungsleistungen beibehalten hatten. Staaten, die ihre Unterstützungsleistungen bei Arbeitslosigkeit abgeschafft hatten, verzeichneten keine signifikante Steigerung der Beschäftigungszahlen.“ (Übersetzung aus dem amerikanischen Englisch NR)

Matthew Desmond betont, dass nicht „harte Arbeit“ über Wohlstand entscheide, sondern soziales und kulturelles Kapital, wie es Pierre Bourdieu, der Vater aller Ungleichheitsforschung, in seinen Studien beschrieb. Es gehe – so Matthew Desmond – eben darum, „weiß zu sein, gut gebildete Eltern zu haben oder die richtigen Leute zu kennen“. Christoph Butterwegge hat darauf hingewiesen, dass der so gerne verkündete „soziale Aufstieg“ in einer Familie nicht zuletzt aus diesem Grund etwa 70 Jahre dauere. Matthew Desmonds Schlussfolgerung: „Das heutige Problem ist nicht die Abhängigkeit, sondern die Vermeidung von Transferleistungen.“

Andererseits sind Transferleistungen nicht die Lösung aller Probleme. Bei der zurzeit mit ungewissem Ausgang diskutierten „Kindergrundsicherung“, deren Kosten – wie die zuständige Bundesministerin im April 2023 mehrfach zugeben musste – sich zurzeit noch nicht verlässlich beziffern lassen, erleben wir, wie unterkomplex diskutiert werden kann. Der FDP-Vorsitzende meinte, es wäre doch besser, die Bildungsbedingungen für Kinder aus migrantischen Familien zu verbessern. Natürlich ist in Bildung investiertes Geld gut investiertes Geld.

Aber die von Matthew Desmond zitierten Studien belegen, dass man das eine tun und das andere nicht lassen sollte. Individuelle Transferleistungen und Investitionen in die Infrastruktur sind zwei Seiten derselben Medaille. Aber wie sieht es mit der Investition in die Infrastruktur aus? Profitieren Stadtteile, Schulen, Kindertageseinrichtungen, wenn der Staat (beziehungsweise die zuständige Kommune) in die örtliche Infrastruktur investiert, beispielsweise durch zusätzliche Sozialarbeit, zusätzliche Lehrkräfte, Ganztagsangebote oder im Stadtteil erreichbare Kulturbüros? Ja, sie profitieren, aber wie nachhaltig wirken die Investitionen? Und vor allem: verändern sich die Ausgangsbedingungen für Kinder und Jugendliche in diesen Stadtteilen? Die traurige Wahrheit: eben dies geschieht nicht. Die jungen Menschen, die von sozialen Strukturprogrammen profitierten, ziehen in andere besser situierte Stadtteile um. Im Ursprungsstadtteil ändert sich kaum etwas.

Albrecht von Lucke hat im Mai 2023 in den „Blättern für deutsche und internationale Politik“ den grundlegenden Gegensatz in der Ampelkoalition beschrieben: „Faktisch agieren zwei Parteien, nämlich FDP und SPD, strikt in Verteidigung der materiellen Gegenwartsinteressen, während die Grünen versuchen, auch die Interessen der zukünftigen Generationen zu vertreten – genau wie es das Bundesverfassungsgericht jeder Regierung mit seinem historischen Urteil vom März 2021 ins Stammbuch geschrieben hat.“ Das ist die nächste Dimension der Debatte: es geht nicht nur darum, wie Politik Menschen unterstützt, die unter den gegebenen Bedingungen finanziell kaum zurechtkommen, sondern auch darum, was sie vorausschauend für die Menschen tut, die zehn, zwanzig oder dreißig Jahren die Folgen heutiger Fehlentscheidungen ausbaden müssen.

Carolin Emcke schrieb am 5. Mai 2023 in der Süddeutschen Zeitung: „Es gibt nicht hier die Klimakrise und dort die soziale Frage der Gleichheit und Gerechtigkeit, es gibt nicht hier den Klimaschutz und die in Paris verbindlich zugesicherten Emissionsminderungen und dort die Frage des Gemeinwohls und der Solidarität, es gibt nicht hier die ökologische Transformation und dort die Frage nach der Würde der Arbeit, sondern sie sind ein und dieselbe Frage. Die soziale Frage wird nicht herangetragen an die Klimakrise, sondern sie ist ihr immanent. Es sind falsche Gegensätze, die die öffentliche Auseinandersetzung absichtsvoll verdummen. Es wäre an den Sozialdemokraten, den erfundenen Widerspruch von Klimaschutz und sozialen Fragen aufzulösen.“ Tun sie aber nicht.

Die Grünen können das nicht kompensieren. Es ist allen anderen Parteien im Bundestag gelungen, sie wieder in die Rolle einer „Verbotspartei“ hineinzudrängen. Statt grundsätzlich einmal gegen zu hohe Mieten vorzugehen werden Ängste geschürt, die Mieten würden durch den Umbau von Heizungen noch stärker steigen. Und die Grünen reagieren wie das berühmte Kaninchen vor der Schlange. Udo Knapp am 9. Mai 2023 in taz FUTURZWEI: „Wenn CDU, SPD und FDP nun den Eindruck erwecken, die Transformation könne ohne regulierte Veränderungen in allen Sektoren des gesellschaftlichen Lebens geschafft werden, dann demonstrieren sie ihre Unfähigkeit, dem Wirtschaftsstandort Bundesrepublik und Europa den Weg eine erfolgreiche Zukunft zu weisen. Sie isolieren sich damit auch von den großen Industrien und den Mehrheiten der Funktionseliten in der Republik, die sich längst auf den Weg gemacht haben.“

Diese „Unfähigkeit“ schadet der Demokratie. Die Zufriedenheit mit der Demokratie in Deutschland ist zwar nach der Pandemie laut einer Studie der Friedrich-Ebert-Stiftung – die ZEIT berichtete am 26. April 2023 – weitgehend gestiegen, nicht jedoch bei armen Menschen und nicht unter Ostdeutschen. Populist*innen von rechts und links haben allen Anlass, sich zu einer „Querfront“ zu vereinen. Thorsten Holzhauer schreibt in seinem Essay „Linkskonservativer Populismus“ in der Maiausgabe des „Merkur“ anlässlich der von Sahra Wagenknecht und Oskar Lafontaine inszenierten „Friedensdemonstrationen“: „Dass es nicht lange dauerte, bis auch Rechtsextreme an den Demonstrationen teilnahmen, wird kaum verwundern. Was aber zur Querfront zu werden drohte, basierte auf einem geschickten Spiel mit bürgerlichen Urängsten. (…) Heraus kam die Forderung nach einem protektiven Staat, der fleißige deutsche ‚Familienväter und Frauen‘ vor den Einwanderern, ‚Fremdarbeitern‘ und kriegslüsternen ‚Eliten‘ schützen müsse.“

Schon bei der Europawahl im Jahr 2024 werden wir möglicherweise eine kleinere AfD mit vielleicht 6 – 8 Prozent sowie eine pseudolinke Wagenknecht-Partei mit etwa 12 – 15 Prozent erhalten. Bei den letzten Wahlen lag die Wahlbeteiligung in vielen prekären Stadtteilen, in denen eigentlich SPD und Linke hätten reüssieren müssen, unter 30 Prozent. Mit einer Wagenknecht-Partei mag sich dies ändern. Wenn Höcke und Wagenknecht zusammen an die 25-Prozent-Marke kommen, könnte so manche „Brandmauer“ wanken.

Vielleicht denken CDU, FDP und SPD einmal über dieses Szenario nach, bevor sie jedes politische Anliegen der Grünen diskreditieren. Und den Grünen täte es gut, ihre Strategie zu ändern. Nicht zuletzt auch die Linke: vielleicht sollte sie nach Österreich schauen. Dort lässt sich aus den Wahlergebnissen der KPÖ in Graz, Niederösterreich und Salzburg lernen, was Verena Meyer im Österreich-Newsletter der Süddeutschen Zeitung am 28. April 2023 schrieb: „Mit Wohnungspolitik lassen sich Wahlen gewinnen.“ Mit Kommunismus hat das nichts zu tun, wohl aber mit guter Sozialpolitik, eine Partei als „Kümmererpartei“.

(Anmerkungen: Erstveröffentlichung im Mai 2023, Internetzugriffe zuletzt am 13. Mai 2023)