Trennende Gemeinsamkeiten

Tschechen, Slowaken, Tschechoslowaken – was denn nun?

„Es gibt keine einfache und geradlinige Lösung, kein Schema, Modell oder Anleitung. Der Prozess der gesamteuropäischen Integration wird offenbar ein sehr kompliziertes, simultanes Spiel auf vielen Schachbrettern zugleich sein.“ (Václav Havel in seiner Rede im Mai 1991 in Aachen anlässlich seiner Auszeichnung mit dem Karlspreis)

Das Verhältnis der Slowakei und Tschechiens ist ein ungewöhnliches. Ein pragmatischer Zusammenschluss zu Beginn des 20. Jahrhunderts, eine ebenfalls pragmatische, glücklicherweise gewaltlose Trennung zu dessen Ende; sprachliche Nähe und politische Konflikte; eine Geschichte, die aus deutscher Perspektive oft verschwommen und unklar erscheint. So unklar, dass nicht selten bis heute in deutschen Medien von der „Tschechoslowakei“ die Rede ist, „aus Gewohnheit“, wie es dann oft heißt. Diese Gewohnheit, die angenommene und auch gelebte Nähe und die in mancher Hinsicht dann doch nicht unbeträchtliche Fremdheit der beiden Länder verdienen einen genaueren Blick.

Friedliche Trennung 1992

Grenzstein im Wald. Foto: Ladislav Boháč. Wikimedia Commons.

Die Menschen, die den 31. Dezember 1992 noch als Bürger der Tschechoslowakei erlebt hatten, begrüßten gemeinsam mit dem Jahr 1993 auch eine ganz neue Situation: zwei Staaten, die Tschechische und die Slowakische Republik. Diese Trennung der – wenn auch nicht ohne Unterbrechungen – seit 1918 bestehenden Tschechoslowakei spielte sich vor dem Hintergrund der Entwicklungen und Konflikte nach 1989 ab. In Teilen Südosteuropas und in Regionen der ehemaligen Sowjetunion kam es ebenfalls zu neuen Staatsbildungen, doch war dieser Prozess dort von brutaler Gewalt begleitet. In Prag und Bratislava verlief es anders, undramatischer.

Die Unzufriedenheit auf slowakischer Seite, die sich nach der Samtenen Revolution von 1989 zeigte, bezog sich auf den staatsrechtlichen, politischen, administrativen und wirtschaftlichen Status der Slowakei, konzentrierte sich zunächst jedoch auf den Namen und die Symbole des Staates. Einfach wie gehabt als „Tschechoslowakei“ weiterzumachen, kam für viele Slowaken nicht in Frage. Der glücklicherweise einzige Krieg aber, den dieser Konflikt hervorrief, war der „Bindestrich-Krieg“: „Tschechoslowakei“ oder „Tschecho-Slowakei“. Am Ende stand ein Kompromiss beziehungsweise die Regelung, dass die beiden Landesteile den Namen des gemeinsamen Staates unterschiedlich schrieben.

Tiefgreifender war die Auseinandersetzung um die föderale Struktur und die Kompetenzen der gemeinsamen Zentralregierung einerseits und der beiden Länderregierungen andererseits. Die Situation blieb ungelöst. Als dann in den Parlamentswahlen 1992 mit Václav Klaus und Vladimír Mečiar zwei Politiker an die Macht kamen, die deutlich mehr Interesse an der Entwicklung der Wirtschaft und insbesondere ihrer eigenen Machtbasis zeigten als an weiteren Konflikten, Verhandlungen und Kompromissen zwischen Prag und Bratislava, ergaben sich die weiteren Schritte fast von selbst.

Obwohl Umfragen klar zeigten, dass die Mehrheit der Bevölkerung den Erhalt der Tschechoslowakei wünschte, einigten sich Klaus und Mečiar auf eine Trennung. Ohne Referendum, nur mit einer Abstimmung des gemeinsamen Parlaments wurde die Teilung der Tschechoslowakei (beziehungsweise Tschecho-Slowakei) in eine Tschechische und eine Slowakische Republik, zwei vollständig souveräne Staaten, beschlossen. Immerhin friedlich, aber doch verfassungsrechtlich und demokratietheoretisch zumindest nicht unproblematisch.

Komplexer Alltag

Heute ist das Verhältnis der beiden Länder so komplex wie aufschlussreich. Die teilweise starken nationalistischen Tendenzen der frühen neunziger Jahre sind relativ schnell abgeebbt. Die alltäglichen Beziehungen verlaufen heute zumeist bemerkenswert unaufgeregt. Wer in Prag oder anderen tschechischen Städten unterwegs ist und ein Geschäft betritt, wird nicht selten auf seine in tschechischer Sprache gestellte Frage eine slowakische Antwort erhalten. Dies geschieht ohne einen Moment des Zögerns und in absoluter Selbstverständlichkeit; man versteht sich, wenn jeder in seiner Sprache spricht, weshalb also sollte das diskutiert oder gar problematisiert werden? Dasselbe gilt für die vielen tschechischen Touristen, die nach wie vor die Schönheiten der slowakischen Bergregionen zu schätzen wissen. Zwar funktioniert die Kommunikation mündlich besser als schriftlich, und auch eine deutliche Asymmetrie ist zu erkennen – während Slowaken in der Regel routiniert tschechisch lesen, ist das Verständnis auf tschechischer Seite schwächer ausgebildet.

Dreiländereck Tschechien – Slowakei – Polen bei Jaworzinka. Foto: Michal Klajban. Wikimedia Commons.

Dennoch: Die Literatur des jeweils anderen Landes wird wahrgenommen und gelesen. Ab und zu bringen tschechische Radiosender Reportagen in slowakischer Sprache und umgekehrt. Slowakische Pflegekräfte und Ärzt:innen arbeiten in Tschechien, und Studierende absolvieren dort ihre Ausbildung. Deren Zahl ist seit 2017 gleichbleibend hoch mit jährlich gut 20.000 Studierenden. Spezielle Abkommen ermöglichen es ihnen, die Prüfungsleistungen bis auf Ausnahmen in ihrer Muttersprache zu erbringen. Was wirtschaftlich nicht unproblematisch ist – die Slowakei leidet unter einer zunehmenden Emigration junger und qualifizierter Menschen – stärkt auf der Alltagsebene die Nähe zwischen den beiden Gesellschaften.

Diese Ebene kommt weitgehend ohne eine nostalgische Dimension aus. Ab und an mag die auch auf tschechischen und slowakischen Social-Media-Seiten gern gepflegte Sozialismussehnsucht auch eine tschechoslowakistische Nuance enthalten; bestimmend aber ist diese nicht.

Streitpunkt Ukraine – Streitpunkt Rechtsstaat

Politisch hingegen kann aktuell – zumindest auf Regierungsebene – eine veritable Krise konstatiert werden. Im Frühjahr 2024 reagierte die tschechische Regierung auf wiederholte prorussische und antiwestliche Äußerungen des slowakischen Premierministers Robert Fico mit einer Absage der geplanten gemeinsamen Kabinettsverhandlungen. Diese werden seit 2012 regelmäßig gepflegt und gelten als Kernelement der „hervorragenden“, wörtlich „über den Standard hinausgehenden“ (nadstandardní) Beziehungen der beiden Länder. Nun aber hatte Fico von einer ungerechten Dämonisierung Vladimir Putins gesprochen und der EU mehrfach eine gezielte Förderung des Krieges gegen die Ukraine und des „unsinnigen Mordens unter Slaven“ vorgeworfen. Außerdem besuchte er das Grab Gustáv Husáks, des mächtigsten Mannes der kommunistischen Tschechoslowakei in den 1970er und 1980er Jahren, und legte dort einen Kranz nieder – der Generalsekretär Husák verkörpert die „Normalisierung“, die Repressionen nach der Niederschlagung des Prager Frühlings 1968.

Der tschechische Regierungschef Petr Fiala erkannte in diesen Worten und Taten eine so weitgehende Beschädigung gemeinsamer Werte, dass er die gemeinsamen Kabinettsberatungen bis auf weiteres stornierte. Dabei betonte die tschechische Seite zwar immer wieder, dass dieser Schritt keineswegs einem Abbruch der diplomatischen Beziehungen gleichkomme, sondern einzig einer Einschränkung des bislang „überdurchschnittlichen“ Charakters der Zusammenarbeit. Robert Fico aber interpretierte die Entscheidung in Prag als eine Strafe für seine „souveräne“ Haltung und als weiteres Zeichen für die vermeintliche „Kriegstreiberei“ Fialas im Vergleich zu seiner eigenen „Friedenspolitik“. Kritische Beobachter vor allem in der Slowakei interpretierten diese Entwicklung als eine mögliche erste Phase einer diplomatischen Isolierung des Landes auf europäischer Bühne.

Seit dem Frühjahr bleibt die Situation vage, und von der über Jahre immer wieder betonten „Herzlichkeit“ der Beziehungen kann keine Rede mehr sein. Zwar absolvierte der neugewählte Präsident der Slowakei, Peter Pellegrini, seinen ersten Staatsbesuch traditionsgemäß in Prag, doch mit dem bekanntermaßen ausgesprochen freundschaftlichen Verhältnis der ehemaligen Präsidentin Zuzana Čaputovás zu ihrem tschechischen Amtskollegen Petr Pavel lässt sich der Besuch in keiner Weise vergleichen. Ein versöhnliches Zeichen setzte auch der – ausgesprochen pro-ukrainisch eingestellte – tschechische Außenminister Jan Lipavský, als er im Juni zu Gesprächen nach Bratislava reiste. Beim Stopp der gemeinsamen Kabinettsverhandlungen bleibt es vorerst dennoch.

Der Konflikt zwischen Prag und Bratislava schuf zudem eine neue Achse in der Struktur der Visegrad-Staaten. Während bis zum Herbst 2023, also vor dem Regierungsantritt Donald Tusks in Warschau und Robert Ficos in Bratislava, die Vierergruppe in Ungarn und Polen auf der einen Seite und Tschechien und Slowakei auf der anderen Seite aufgeteilt war, änderte sich die Situation nun. Dies zeigte sich in sehr fotogener Weise, als die Regierungschefs der vier Länder im Februar 2024 zusammentrafen und nach den offiziellen Verhandlungen getrennte Wege gingen. Donald Tusk fuhr zum Präsidenten Petr Pavel auf die Prager Burg. Orbán und Fico hingegen besuchten den ehemaligen Staatspräsidenten Tschechiens, Miloš Zeman – berüchtigt für seine prorussische Haltung und sein distanziertes Verhältnis zur liberalen Demokratie.

Ausgesprochen gute Beziehungen zwischen Tschechien und der Slowakei bestehen im Bereich der Kultur. Doch auch hier besteht eine gewisse Asymmetrie: Tschechische Filme laufen regelmäßig in slowakischen Kinos, umgekehrt gilt das eher selten. Und zahlreiche slowakische Künstler:innen zieht es an tschechische Institutionen, während weniger Tschechen und Tschechinnen sich in Richtung Südosten begeben. Auf der medialen Ebene gibt es Kooperationen, so zum Beispiel zwischen den beiden Zeitungen bzw. Nachrichtenportalen Deník N (tschechisch) und Denník N (slowakisch).

Grundsätzlich ist das gegenseitige Interesse ausgesprochen groß, und seit der Zuspitzung der politischen Situation in der Slowakei im Jahr 2023 wächst das gegenseitige Interesse in Medien und Zivilgesellschaft noch weiter. Zeitungen berichten regelmäßig über das jeweilige Nachbarland, podcast-Moderatoren laden gegenseitig Gäste ein und führen die Gespräche selbstverständlich in beiden Sprachen, es gibt einen gemeinsamen „Tschechoslowakischen Podcast“ des tschechischen Journalisten Erik Tabery und des slowakischen Autors und Journalisten Martin M. Šimečka.

Als im Sommer 2024 der Leiter des Nationaltheaters und die Direktorin der Nationalgalerie in der Slowakei entlassen wurden, gab es laute Proteste und Solidaritätsbekundungen aus Tschechien. Ein Interviewband mit der ehemaligen Staatspräsidentin Zuzana Čaputová erschien kürzlich aus Gesprächen Čaputovás mit Tabery, ein neuer Dokumentarfilm mit dem Titel „Prezidentka“ läuft mit Erfolg in tschechischen Kinos. Die aktuell so intensive Zusammenarbeit auf medialer und intellektueller Ebene speist sich auf tschechischer Seite aus Besorgnis und Solidarität, aber auch aus der brennenden Frage, ob der Tschechischen Republik womöglich eine ähnliche Lage bevorsteht wie sie aktuell in der Slowakei zu beobachten ist: eine gegen den liberalen Rechtsstaat gerichtete Machtpolitik.

Wie unterschiedlich denken die Menschen in den beiden Ländern wirklich?

Die slowakische Präsidentin Zuzana Čaputová gratuliert ihrem tschechischen Kollegen Petr Pavel am 28. Januar 2023 in Prag zur Amtsübernahme. Foto: TASR – Petr David Josek.

Angesichts von so viel Gemeinsamkeit scheint die in deutschen Medien zuweilen gestellte Frage nachvollziehbar, warum diese beiden einander so ähnlichen Gesellschaften so unterschiedliche Wege gehen. Diese Annahme enthält zwei Prämissen, die beide eine Überprüfung verdienen. Sind es tatsächlich fundamental unterschiedliche, ja gegensätzliche Wege, die Tschechien und die Slowakei gerade einschlagen? Zwar ist auf der Regierungsebene ein Auseinandergehen zu erkennen:

Während Prag voller Überzeugung an der Westbindung festhält, betreibt die Regierung in Bratislava eine sogenannte „Außenpolitik in alle vier Himmelsrichtungen“. Praktisch ist dies nichts anderes als eine eindeutige und aus europäischer Sicht alarmierende Hinwendung zu Moskau und Peking. Dieser Dualismus allerdings beruht tatsächlich auf konkreten Entscheidungen der jeweils aktuellen Regierung; bis Herbst 2023 gehörte die Slowakei mit einer klaren pro-europäischen Haltung zu den solidarischsten Unterstützern der Ukraine. Umgekehrt war der bereits erwähnte ehemalige Staatspräsident Miloš Zeman ein starker Befürworter Putins, und auch Andrej Babiš ließ während seiner Zeit als Premierminister keine Gelegenheit aus, sich zumindest rhetorisch gegen Brüssel zu stellen.

Darin eine fundamentale kulturelle Richtung zu erkennen, erscheint nicht unproblematisch. Die beiden Gesellschaften werden gern zwar als „prorussisch“ (im Falle der Slowakei) beziehungsweise „europäisch“ (im Falle Tschechiens) eingeschätzt; doch Umfragen zeigen Nuancen, keine fundamentalen Unterschiede. In einer Umfrage aus dem Frühjahr 2024 äußerten sich sogar deutlich mehr Slowaken positiv zur Europäischen Union (48 Prozent) als Tschechen (nur 33 Prozent). Zwar sind die Anhänger der Smer-Regierung, also immerhin ein knappes Viertel der Wähler, tatsächlich ausgesprochen pro-russisch eingestellt, doch antiwestliche Haltungen findet man auch bei den Anhängern tschechischer Parteien und Einzelpersonen, so bei den Unterstützern des neuen politischen Aufsteigers Filip Turek und des Altpremiers und Altpräsidenten Václav Klaus. Ein völliges Auseinandergehen der beiden Gesellschaften ist aus den zahlreichen Umfragen zum Krieg Russlands gegen die Ukraine oder zur Zukunft in EU und NATO nicht zu erkennen.

Historische Ungleichzeitigkeiten

Auch zu hinterfragen ist die zweite Prämisse: Die häufig zu hörende Annahme, die beiden Länder seien einander kulturell und vor allem historisch so nah. Diese Interpretation überschätzt die gemeinsame Staatlichkeit im 20. Jahrhundert und ignoriert die Jahrhunderte zuvor, in denen Böhmen und Mähren als Regionen mit eigener staatlicher Tradition seit dem 16. Jahrhundert Teil der Habsburgermonarchie waren. Die Slowakei hingegen bildete als „Oberungarn“ eine wirtschaftlich nicht unwichtige, aber administrativ undefinierte Region im Königreich Ungarn. Es sind der Einfluss der nationalen Bewegungen des 19. Jahrhunderts und die Legitimierungsbemühungen der Tschechoslowakei, die bis heute die Slowakei oft als einen Teil der tschechischen Geschichte erscheinen lassen. Die Geschichtswissenschaft allerdings beschreibt die frühe slowakische Geschichte zunehmend und immer expliziter als einen Bestandteil der Geschichte Ungarns. Wie der tschechische Historiker Jan Rychlík formuliert: „Die Geschichte der Slowakei und der Slowaken hatte bis zur Entstehung der Tschechoslowakei mit der tschechischen Geschichte nur wenig gemein“.

Und auch die tschechoslowakische Erfahrung war keine homogene und konfliktfreie. Der gemeinsame Staat wurde vor dem Hintergrund einer sprachlichen Nähe und gelegentlicher Zusammenarbeit der nationalen Bewegungen im 19. Jahrhundert gegründet. Die eigentliche Motivation aber war eine pragmatische: 1918 brauchte man eine Gruppe, die rein quantitativ bedeutsam genug war, einen Nationalstaat zu legitimieren. Die Tschechen in Böhmen und Mähren waren im Vergleich zu der großen deutschen Bevölkerung zu wenige, also argumentierte man mit einer größeren „tschechoslowakischen“ Nation. Das Verhältnis von Tschechen und Slowaken in der Tschechoslowakei war und blieb dann weitgehend asymmetrisch, was sich in einer Dominanz der tschechischen politischen Tradition, der Geschichtsbilder, der administrativen und wirtschaftlichen Macht ausdrückte. Und auch in der Außenwahrnehmung: Gerade aus deutscher Perspektive erschien „slowakisch“ oftmals eher wie ein bloßes Suffix alles Tschechischen.

Landkarte 1939 / 1940. Wikimedia Commons.

Zudem gab es nicht wenige Erfahrungen, die unterschiedlich erlebt und gewertet wurden. Dazu gehört das Trauma von München 1938, das aus tschechischer Perspektive reine Destruktion war, für die Slowaken aber auch die Basis für den ersten als souverän gekennzeichneten (allerdings faschistischen und vom Deutschen Reich abhängigen) Staat bildete. Zugleich enthält die slowakische Geschichtskultur mit der Erinnerung an den Nationalaufstand gegen die faschistische Regierung und die deutsche Besatzung im Jahr 1944 ein kämpferisches Element, wie es der tschechischen Tradition fehlt. Dass dieser von verschiedenen Gruppen geführte Aufstand jahrzehntelang (und heute wieder) vor allem dem Einfluss der Sowjetunion zugeschrieben und damit im Sinne einer engen slowakisch-russischen Verbindung interpretiert wurde, ist hochproblematisch, hat aber das kollektive Gedächtnis geprägt. Und schließlich erscheint die Niederschlagung des Prager Frühlings im Sommer 1968 aus slowakischer Sicht nicht nur als Trauma, die darauffolgende „Normalisierung“ nicht nur einen historischen Niedergang. Denn 1968 brachte auch eine Föderalisierung der zuvor zentralistisch organisierten Tschechoslowakei und damit – bei aller Repression durch Partei und Staatspolizei – eine Verbesserung des nationalen Status für die Slowaken.

Vor diesem Hintergrund muss auch das heutige Verhältnis gesehen werden. Die slowakische Regierung nutzt die historischen Konfliktpunkte aus. Ficos Kranzniederlegung an Husáks Grab kann nur als Provokation der tschechischen Seite und zugleich symbolische Hinwendung zur Zeit vor 1989 gelten, ebenso die Weigerung, den 17. November als Erinnerung an kommunistisches Unrecht und den Kampf dagegen zu begehen. Die Regierung betont all die historischen Elemente, mit der eine Nähe der Slowakei zu Russland konstruiert werden kann: Den Feiertag der byzantinischen Missionare Kyrill und Method, den Nationalaufstand von 1944, die Schlacht bei Dukla im Herbst 1944 und die Unterstützung slowakischer Kämpfer durch die Rote Armee.

Interessant ist dagegen die neue tschechisch-slowakische Gemeinsamkeit, die im kulturellen und vor allem journalistischen Bereich deutlich wird. Die gemeinsame Vergangenheit wird als Hintergrund wahrgenommen, aber nicht als Grundlage der Zusammenarbeit. Viel wichtiger als die Konstruktion einer vergangenen Einigkeit erscheint eine gegenwärtige und künftige Zusammenarbeit: Das gemeinsame politische und gesellschaftliche Interesse, der Wunsch, Mitteleuropa europäisch und demokratisch zu gestalten und dafür solidarisch Kräfte zu bündeln. Wenn dies etwas pathetisch klingen mag, so ist das begründet in der aktuellen Notwendigkeit, die slowakische und womöglich bald auch die tschechische Gesellschaft vor einem Abrutschen in autokratische Strukturen zu bewahren. Ein wenig Pathos kann da durchaus hilfreich sein.

Martina Winkler, Universität Kiel

Die Autorin veröffentlichte zuletzt im Demokratischen Salon im März 2024 den Essay „Die autoritäre Drohung – Robert Ficos Angriffe auf Demokratie und Rechtsstaat in der Slowakei“.

(Anmerkungen: Erstveröffentlichung im Dezember 2024, Internetzugriffe zuletzt am 2. Dezember 2024. Das Titelbild zeigt eine Demonstration für die Tschechoslowakei und ein Referendum vom 10. Februar 1991 in Bratislava. Foto: Wikimedia Commons.)