Underdogs
Perspektiven einer gesamtdeutschen Geschichtsschreibung
„Wenn man sich als Underdog fühlt, wie es die Abgehängten unter den Ostdeutschen tun, gibt es zwei mögliche Reaktionen darauf, dass sich eine aus der eigenen Gruppe anderswo Ruhm erarbeitet. Man kann stolz sein, dass es ‚eine von uns‘ geschafft hat. Oder wütend werden und sagen: Das ist keine mehr von uns. Es ist das gegenseitige Unglück von Angela Merkel und den Ossis, dass sich viele für Zweiteres entschieden.“ (Martin Machowecz, Die Entfremdung, in: ZEIT Online vom 7.10.2018)
Wie viele Menschen in „Ostdeutschland“ fühlen sich als „Underdog“? Wie viele haben den Eindruck, dass ihre Lebensleistung von ihren Landsleuten im „Westen“ nicht geschätzt, sondern abgewertet würde? Folgt man*frau den gängigen Berichten über mehr oder weniger aktuelle Forschungsprojekte, eine ganze Menge, vielleicht mehr als die Hälfte. Aber wie kam es zu einer solchen Enttäuschung, die sich bei manchen als Ressentiment und Hass verfestigte? Die Kunstfiguren „Ossi“ und „Wessi“ spiegeln sich in der Kunstfigur, als die die Bundeskanzlerin wahrgenommen wird. Angelehnt an das Willy Brandt zugeschriebene legendäre Diktum lässt sich die Frage erörtern, was da eigentlich zusammengewachsen ist und ob es tatsächlich auch zusammengehört.
Ein kurzer Herbst der Anarchie
Am 9. November 1989 regierte die Hoffnung, am 7. Dezember nahm der Zentrale Runde Tisch seine Arbeit auf, am 18. März fand die erste demokratische Wahl zur Volkskammer statt. Doch wenige Tage später fand der Verfassungsentwurf des Zentralen Runden Tisches seinen Weg in die Papierberge der Geschichte. Er wurde gegenstandslos – wie so manches andere auch. Einerseits war die Volkskammerwahl die Erfüllung der demokratischen Träume in der DDR, andererseits war sie der Beginn eines Abstiegs vom selbstständigen Staat zur mehr oder weniger randständigen Provinz eines großen anderen Landes. Die DDR wurde zu „Ostdeutschland“. Zwischen Mauerfall und Volkskammerwahl lagen etwas mehr als vier Monate.
Es blieb die Erinnerung an einen kurzen Herbst des Aufbruchs, der Anarchie. Christoph Dieckmann grenzt die Zeit des kurzen Herbstes der Anarchie auf fünf Tage ein: „Der 4. November 1989 war das Volksfest der Friedlichen Revolution. Der 9. November bedeutete ihr Ende.“ (Rendezvous mit dem Klassenfeind, in: Andreas H. Apelt / Robert Grünbaum / Jens Schöne, Hg., Erinnerungsort DDR – Alltag – Herrschaft – Gesellschaft, Berlin, Metropol Verlag, 2016). Am 9. November 1989, auch noch nicht im Dezember 1989, rechnete kaum jemand damit, dass sich die Deutsche Einheit am 3. Oktober 1990 – wie es in den offiziellen Reden oft so heißt – „vollenden“ würde. Wirtschafts- und Währungsunion, Einigungsvertrag, 2+4-Verhandlungen – all das stand in den Sternen, die aber wie Kometen in einer ungeheuren Geschwindigkeit, die in der Welt des Kalten Krieges niemand jemals geahnt hätte, auf das bisher verschlossene und eingemauerte Universum der DDR zurasten. Der Quasi-Staatsbesuch von Erich Honecker in der Bundesrepublik Deutschland im Jahr 1987 schien den Status Quo der beiden deutschen Staaten ebenso wie den der Teilung Europas durch den „Eisernen Vorhang“ auf Dauer zu bestätigen.
30 Jahre später gibt es eine emotional und kontrovers geführte Debatte über die Frage, wie das Selbstbewusstsein der Ostdeutschen durch den rasanten Vollzug der Einheit beschädigt worden wäre. Nicht, dass es sich um eine neue Kontroverse handelte, sie wurde schon zum 10, 15., 20. oder 25. Jahrestag der Friedlichen Revolution konstatiert, scheint sich jetzt jedoch zu einer größeren Bewegung auszuwachsen. Letztlich haben die Wahlergebnisse in den ostdeutschen Bundesländern sowie zum Deutschen Bundestag im Jahr 2017 Politiker*innen und Journalist*innen aufgeschreckt.
Exemplarisch für die aktuelle Debatte nenne ich zwei prägnant formulierte Bücher: „Die Übernahme – Wie Ostdeutschland Teil der Bundesrepublik wurde“ von Ilko-Sascha Kowalczuk (München, C.H. Beck, 2019) und „Das unzufriedene Volk – Protest und Ressentiment in Ostdeutschland von der friedlichen Revolution bis heute“ von Detlef Pollack (Bielefeld, transcript, 2020).
Während Ilko-Sascha Kowalczuk im Modus eine engagierte Philippika mit einem Hauch von Sarkasmus präsentiert, versucht Detlef PolIack einen versöhnlichen, abwägenden Ton. Letztlich geht es aber beiden um die Frage des Verhältnisses von Erfolgen und Misserfolgen. Ilko-Sascha Kowalczuk beklagt das aggressive Vorgehen des „Westens“, dass den Menschen im „Osten“ Sicherheit und Würde genommen habe, sodass der Eindruck entstehen könnte, es wären fast nur Misserfolge zu verzeichnen. Detlef Pollack benennt ausführlich die Erfolge des Wandels, obwohl auch er die Gefühle vieler Ostdeutscher anerkennt, die den Eindruck haben, zum zweiten Mal einen Krieg verloren zu haben. In der Tat entwickelte und verstetigt sich bei vielen Menschen in „Ostdeutschland“ das Gefühl, zwei Kriege alleine verloren zu haben, den Zweiten Weltkrieg und den Kalten Krieg.
Ilko-Sascha Kowalczuk verwendet den Begriff der „Übernahme“ im doppelten Wortsinn, im Sinne einer „Übernahme“ des „Ostens“ durch den „Westen“ sowie im Sinne einer „Übernahme“ der Sicht des „Westens“ auf den „Osten“ im „Osten“. Die Veränderungen waren so fundamental, dass sie sich im Alltag jeder einzelnen Familie auswirkten: „Verrückte Geschichten, wie in vielen, vielen anderen Familien alles auch in unserer gebündelt, Anpassung und Selbstbehauptung, Mitmachen und Widerspruch, Überzeugung und Verrat – immer wieder auch in einer Person, in einer Biographie.“ Aber zu verführerisch war das „Heilsversprechen“ aus dem „Westen“: „Der Wahlausgang am 18. März 1990 war ein Hinweis, wie stark die ostdeutsche Gesellschaft bereit war, die Diktatur gegen neue Heilsversprechen einzutauschen, statt sich ihre Zukunft selbst zu gestalten. (…) Die Zukunft sollte jetzt und heute beginnen. Kanzler Kohl war der gute Onkel aus dem Westen, der die Geschenke verteilen würde. Freiheit hieß für die meisten richtiges Geld zu besitzen.“
All die guten Wünsche erfüllten sich nicht von einem Tag auf den anderen, zunächst geschah etwas anderes: viele verloren ihren Arbeitsplatz, Unternehmen wurden – so hieß es im Jargon der Bürokratie der Treuhand – „abgewickelt“, Westprodukte dominierten dank der D-Mark die Auslagen der Geschäfte und wurden begierig konsumiert, während sogenannte „Ostprodukte“ keinen Absatz mehr fanden, nicht einmal in den benachbarten Staaten des ehemals „sozialistischen Lagers“, denn der 1:1-Wechselkurs machte sie dort unbezahlbar. Im Grunde praktizierten die Menschen in der DDR eine Variante der „Einheit von Wirtschafts- und Sozialpolitik“, die Erich Honecker seinerzeit verkündet hatte, und mussten aus dem Traum der Freiheit erwachend feststellen, dass von dieser „Einheit“ nur „Wirtschaftspolitik“ übriggeblieben war. Ilko-Sascha Kowalczuk bezeichnet „Ostdeutschland (…) bei allen Besonderheiten und Spezifika als Laboratorium der Globalisierung“, es war ein Paradies für Anhänger*innen neoliberaler Wirtschaftspolitik.
Die Menschen in „Ostdeutschland“ mussten sich damit auseinandersetzen, dass die DDR-Wirtschaft marode war, dass die Staatsverschuldung dramatische Ausmaße aufwies, dass viele Betriebe nicht profitabel waren. Doch wer war verantwortlich? „Kennzeichen von Ostdeutschen war es, sich dafür rechtfertigen zu müssen, ostdeutsch zu sein. Dafür gab es zwei Strategien, die Herkunft zu leugnen oder unentwegt darüber zu reden.“ Da die erste Option für die Menschen, die nicht von „Ost“ nach „West“ migriert waren, kaum realisierbar war, blieb die zweite, die sich dann in einer heute noch gängigen kollektiv angenommenen und verbreiteten Erzählung verfestigte, sie wären „Deutsche zweiter Klasse“. Das sarkastische Fazit von Ilko-Sascha Kowalczuk: „So viel Kollektivismus im Osten gab es bisher noch nie.“ Und dies galt auch im „Westen“, eine vergleichbare Einigung stellt Thomas Abbe fest: „Nichts hat die Westdeutschen so geeint wie der Beitritt der Ostdeutschen.“ (Die Konstruktion der Ostdeutschen, in: Aus Politik und Zeitgeschichte 41-42, 2004, zitiert nach Ilko-Sascha Kowalczuk, Die Übernahme.) Viele Menschen im „Westen“ genossen ihre Überlegenheit.
Befreit und ausgeliefert
Detlef Pollack nennt zu Beginn seines Buches sein Anliegen, „die These (zu) testen, dass die politische und soziale Macht der ostdeutschen Bevölkerung weithin unterschätzt wird.“ Der „Opferdiskurs“ erscheint als „ein besonders wirkungsvolles Instrument, Berücksichtigung einzufordern.“ Schon in den frühen 1990er Jahren entwickelte sich für viele im „Osten“ der Eindruck, dem „Westen“ ausgeliefert zu sein.
Joachim Gauck (*1940) formulierte das Unbehagen einer misslungenen Transformation bereits zum 10. Jahrestag des Mauerfalls: „Sie hatten vom Paradies geträumt und wachten in Nordrhein-Westfalen auf.“ (zitiert nach: Christoph Dieckmann, Rendezvous mit dem Klassenfeind, in: Andreas H. Apelt / Robert Grünbaum / Jens Schöne, Hg., Erinnerungsort DDR – Alltag – Herrschaft – Gesellschaft, Berlin, Metropol Verlag, 2016). In dieser Rede spricht er davon, dass sich viele Menschen in Ostdeutschland nach 1990 „fremd im eigenen Land“ gefühlt hätten und nach wie vor fühlten, eine Formulierung, die sonst von Rechtspopulist*innen zum Thema Ein- und Zuwanderung benutzt wird.
Oft zitiert werden Äußerungen von Petra Köpping (*1958), in den Jahren 2014 bis 2019 Sächsische Ministerin für Gleichstellung und Integration, die in der Regel in dem folgenden Appell zusammengefasst werden: „Integriert doch erst mal uns“. Diesen Satz hat Petra Köpping nicht selbst so formuliert, sie entnahm ihn Zuschriften, die sie per Mail vor allem von ostdeutschen Männern erhalten hatte und die sie zum Anlass nahm, ihre Aufgabe als Integrationsministerin neu zu definieren. Sie löste mit dieser zugespitzten Interpretation ihres Amtes Kontroversen über die Berechtigung und Wirkungen eines solchen Frust-Diskurses aus.
Es ist gefährlich, antidemokratische Positionen und Wahlentscheidungen ausschließlich auf „Frust“, „Sorgen und Nöte“ zurückzuführen. Anne Hähnig, Autorin des zitierten ZEIT-Artikels, benennt das von Petra Köpping ausgelöste Dilemma: „Eines streitet nicht einmal Köpping ab: Es sind große Hoffnungen, die sie weckt bei den Männern, die in ihrem Büro sitzen, die zu ihren Veranstaltungen kommen. Und vielleicht große Enttäuschungen, wenn irgendwann alle merken: Ja, sie hat zugehört, vielen Hunderten. Aber nichts ist passiert. Köpping wird ein Problem bekommen, wenn es irgendwann weder einen Gerechtigkeitsfonds gibt noch eine sogenannte öffentliche Debatte. Wenn alles versandet.“ Die Frage, wann etwas als „versandet“ gilt, wird möglicherweise von jedem*jeder anders beantwortet, je nach Grad der eigenen Frustrationstoleranz oder positiv formuliert je nach Höhe der eigenen Ansprüche.
Ute Frevert, die sich intensiv mit der politischen Bedeutung von Gefühlen auseinandersetzt, stimmt in ihrem Essay „Aufbruch 1989: Hoffnungen, Erfolge, Enttäuschungen“ (in: Robert Grünbaum / Jens Schöne / Heike Tuchscheerer, Hg., Revolution! 1989 – Aufbruch ins Offene, Berlin, Metropol, 2020) dieser Analyse zu: „Üblicherweise beendet sie (Petra Köpping, NR) das Gespräch mit einer Diagnose, für die es keine Therapie gibt. Wer seinen Arbeitsplatz verloren hat und Sozialhilfe bezieht, wird mit dem Satz beschieden, ihm sei die Würde genommen worden.“ Wer persönliche Niederlagen einstecken musste und sich für seine Leistung nicht anerkannt fühlt, bekommt gesagt, ihm wie vielen Ostdeutschen stecke der ‚Stachel der Demütigung im Fleisch‘.“ Petra Köpping – so Ute Frevert – verstärke mit ihrer Strategie „Opfermentalität“ und „Ressentiment“, sie bestätige „den Wunsch nach Trotz und Rache“, der sich letztlich im Wahlverhalten in den ostdeutschen Bundesländern spiegele. Jeweils etwa ein Viertel der Bürger*innen wählte die Partei, die auf dieser Mischung negativer Gefühle surft, die AfD.
Politik ist kein Therapiegespräch. Aber wie soll gelingen, was auch mit groß angelegten Wohnungsbau- und Sozialprogrammen nicht gelingen dürfte, zumindest nicht von einem auf den anderen Tag? Zu bedenken wäre auch das Tocqueville-Paradox, auf das Naika Foroutan hinwies (in: „Die postmigrantische Gesellschaft – Eine Versprechen der pluralen Demokratie“, Bielefeld, transcript Verlag, 2019): mit wachsendem Wohlstand wachsen die Ansprüche, aber auch Unmut und Ressentiment. Selbst bei zumindest teilweiser Erfüllung der Ansprüche prägt die Erinnerung an die Zeit der Entbehrung nach wie vor die Einstellungen der Vergangenheit, bestätigt und verstärkt sie sogar. Letztlich hechelt die von Petra Köpping vertretene Politik diesen Ansprüchen immer hinterher.
Diese Gefühle sind auch denen nicht fremd, die keinerlei Sympathie für der AfD nahestehende Positionen hegen, aber gleichwohl die Frontstellung „West gegen Ost“, „Ost gegen West“ teilen. Christoph Dieckmann beschreibt in seinem Essay „Rendezvous mit dem Klassenfeind“ die Stimmungslage aus der Perspektive eines Menschen, der die Vereinigung der beiden deutschen Staaten angesichts des Erbes deutscher Geschichte zunächst skeptisch reagierte: „Ich stand der deutschen Vereinigung skeptisch gegenüber. Ich ersehnte Weltöffnung und die ost-west-versöhnte Freiheit der Vernunft, ich fürchtete Neo-Nationalismus und Remilitarisierung. Die erste Befürchtung zerstreute sich. Der Westen gewann den Kalten Krieg. Bedauerlicherweise konnte er nicht aufhören zu siegen.“
Christoph Dieckmanns Sätze sind die Sätze eines Ostdeutschen. Als Westdeutscher teile ich jedoch seine Einschätzung. Ich hatte damals, als sich die Demonstrationszüge formierten, in denen die D-Mark gefordert wurde, als wäre sie die Vorbotin des irdischen Paradieses, ähnliche Gefühle. Aus heutiger Sicht würde ich allerdings den Begriff „Westen“ durch den Begriff „Neoliberalismus“ ersetzen, aber möglicherweise haben sich diese beiden Begriffe als Synonyme herausgestellt.
Die „verhandelte Revolution“ – im Gedächtnis nicht vorhanden
Markus Meckel hat den Sammelband „Revolution! 1989 – Aufbruch ins Offene“ mit einer Reflexion über das Problem der verdrehten Erinnerung eingeleitet. Möglicherweise erklärt seine Analyse, wie es zu anti-westlich formulierten und anti-demokratisch konnotierten Einstellungen kommen konnte. Markus Meckel stellt fest, dass es „noch keinen Konsens über die Interpretation von 1989/90, ja über die schieren Abläufe zwischen dem Sommer 1989 und dem 3. Oktober 1990“ gibt. Er nennt zwei prominente Beispiele, die zeigen, dass die Missachtung der Leistungen der demokratischen Opposition in der DDR Methode hatte.
- Das erste Beispiel ist Oskar Lafontaine: „Ich erinnere mich an eine Rede im Deutschen Bundestag aus dem Jahr 1993. Dort holte der damals amtierende Bundesratspräsident Oskar Lafontaine sein verspätetes Bekenntnis zur Deutschen Einheit nach. Er erklärte, er freue sich, dass 17 Millionen Ostdeutsche durch die Einheit die Freiheit bekommen haben. Ich schaute mich damals im Plenum um, doch niemand schien zu merken, was er gerade gesagt hatte. Er hatte das Verhältnis von Freiheit und Einheit völlig verdreht! Denn es war doch ganz anders! Mit der Friedlichen Revolution haben wir uns die Freiheit selbst erkämpft! Und damit stießen wir das Tor zur Deutschen Einheit auf. Die erkämpfte Freiheit ermöglichte die Einheit!“ Vier Ausrufezeichen illustrieren das Ungehörte, im doppelten Wortsinn Unerhörte. Gesamtdeutsche Geschichte wurde zum Erbe des „Westens“, die Freiheit zum Gnadenerweis auf der Grundlage von Artikel 23 des Grundgesetzes.
- Das zweite Beispiel ist Helmut Kohl: „Wie schon erwähnt, heißt es in Deutschland und Europa üblicherweise, Helmut Kohl habe die Deutsche Einheit ‚gemacht‘. Dabei wird jedoch vergessen, dass die Deutsche Einheit das Ergebnis von Verhandlungen war – von zwei demokratischen deutschen Regierungen miteinander und mit den Alliierten. Damit dies möglich war, musste eben vorher in der DDR eine demokratische, freie Wahl stattfinden. Nur eine legitimierte DDR-Regierung konnte und durfte doch diese Verhandlungen führen.“ Es sollte niemand vergessen, dass die von Helmut Kohl geführte westdeutsche Bundesregierung in der anstehenden Wahl zum Deutschen Bundestag mit hoher Sicherheit abgewählt worden wäre, wenn es nicht die Deutsche Einheit gegeben hätte. Helmut Kohl und die CDU haben im Grunde von der Einheit profitiert, anders gesagt: ohne den Kampf der Menschen in der DDR um ihre Freiheit hätte Helmut Kohls Zeit als Bundeskanzler acht Jahre früher geendet, ohne den erfolgreichen Freiheitskampf in der DDR hätte er nie Gelegenheit erhalten, über die „Deutsche Einheit“ zu verhandeln.
Der Mythos der vom westdeutschen Bundeskanzler in und für Ostdeutschland geschaffenen Freiheit wirkt auch auf internationaler Ebene. Markus Meckel: „Es war in etwa in der Zeit des 9. November (der 9. November 1999, NR), als die Bundesregierung Michail Gorbatschow, George Bush und Helmut Kohl einlud, um den Mauerfall zu begehen. Ich fragte mich, was diese drei Staatsmänner mit dem 9. November 1989 zu tun hätten. Sie haben doch alle erst im Nachhinein erfahren, was in jener Nacht passiert war. (…) Tadeusz Mazowiecki, der als erster nichtkommunistischer Ministerpräsident für die Umbrüche in Mitteleuropa 1989 dagegen eine zentrale Rolle spielte, war im letzten Augenblick auch noch eingeladen worden – aber nicht, um etwas zu sagen.“
In der Tat hätte Tadeusz Mazowiecki die Festrede halten müssen, vielleicht gemeinsam mit Gyula Horn und Vertreter*innen der Bürgerbewegung in der DDR. Und Papst Johannes Paul II. hat mit Sicherheit mehr zum Mauerfall beigetragen als die alliierten Staatschefs zusammengenommen. Meines Erachtens entschied der 4. Juni 1989 darüber, dass die Grenze zwischen West- und Ostdeutschland geöffnet werden konnte. Der 4. Juni 1989 – das war der Tag der ersten freien Wahl zu einem zumindest halbwegs demokratisch zusammengesetzten polnischen Parlament, dem Sejm, das Tadeusz Mazowiecki zum ersten nicht-kommunistischen Ministerpräsidenten in der bisherigen Einflusssphäre der Sowjetunion wählte. Der 4. Juni 1989 war aber auch der Tag, an dem Panzer die friedlichen Proteste gegen die kommunistische Diktatur auf dem Platz des Himmlischen Friedens in Beijing niederwalzten. Der polnische 4. Juni wurde zum Signal in Osteuropa und in der DDR, der chinesische – nicht zuletzt durch den Gewaltverzicht Gorbatschows – wurde es nicht.
Markus Meckel plädiert für eine polnische Formel für die Phase zwischen Friedlicher Revolution und Deutscher Einheit, die Zeit zwischen dem 9. November 1989 und dem 3. Oktober 1990: „Der frühere polnische Botschafter in Deutschland, Marek Prawda, hat den Runden Tisch Polens einmal eine ‚verhandelte Revolution‘ genannt. Ich finde das ausgesprochen passend. Damit hatte Polen nämlich die Kriterien gesetzt: Die Friedlichkeit des Prozesses durch Verhandlungen.“ Die „unterschiedliche(n) Perspektiven“ von West- und Ostdeutschen erklären sich – so Markus Meckel – vielleicht daraus, dass die Ostdeutschen sich die Freiheit aktiv erkämpften, während die Westdeutschen „Freiheit und Demokratie hingegen nach 1945 als ein Geschenk bekommen“ hatten. Dieser Unterschied ist aus meiner Sicht fundamental.
Versagte Augenhöhe – vergessene Erfolge
In seiner Autobiographie mit dem Titel „Zu wandeln die Zeiten“ (Leipzig, Evangelische Verlagsanstalt, 2020) dokumentiert Markus Meckel, wie sich die DDR-Regierung nach dem 18. März 1990 um eine „Einheit“ auf Augenhöhe bemühte. Ziel war ein „aufrechter Gang in die deutsche Einheit“, „eine Solidarität, die unsere Selbstbestimmung anerkennt“. Markus Meckel berichtet, dass es eine Fülle von Vorgängen gab, in denen die (westdeutsche) Bundesregierung die ebenso demokratisch gewählte (ostdeutsche) Regierung überging, um mit den Alliierten Fakten zu schaffen. „Nicht klar war mir damals, in welch hohem Maße zwischen den westlichen Partnern die zentralen Verhandlungsgegenstände oft schon bis ins Detail vorbesprochen und z.T. bereits festgelegt worden waren. Heute kann man dies vielfach nachlesen.“
Während Oskar Lafontaine versuchte, die Ost-SPD „zu überreden, dem Einigungsvertrag nicht zuzustimmen“, schufen Helmut Kohl und Hans-Dietrich Genscher Fakten. Weder Regierung noch Opposition im westdeutschen Bundestag erkannten, was für die Ostdeutschen wichtig war. „Wir hatten (…) durchaus einiges und Wichtiges erreicht. Dazu gehörte u.a. der Bestand der Bodenreform. Wer den Einigungsvertrag scheitern ließ, konnte sich doch ausrechnen, dass in einem Überleitungsgesetz, verabschiedet vom Bundestag mit den vorhandenen Mehrheiten, manches, das in den Vertrag hineinverhandelt werden konnte, dann nicht mehr vorkommen würde.“
Ein Punkt, der bei den Verhandlungen um den Einigungsvertrag eine Rolle spielte, war „die Möglichkeit der Abtreibung bis zur 12. Schwangerschaftswoche“. Die liberale Regelung der DDR, die sogenannte „Fristenlösung,“ wurde zwar nicht durchgesetzt, wohl aber eine Übergangslösung von zwei Jahren, nach der sich dann eine „für den Westen bis dahin unvorstellbare(n) Neugestaltung des Abtreibungsrechts“ ergab. „Letztlich sollte – wie bis dahin in der DDR – die Entscheidung bei der Frau liegen, ob sie die Schwangerschaft austrägt.“ Diverse nach wie vor gegebene Schikanen sind davon unbenommen, die Rechtslage ist – abgesehen von dem sogenannten „Werbeverbot“ – eindeutig, dank eines Verhandlungserfolgs der DDR-Regierung.
Ein weiterer Erfolg, den die demokratisch gewählte DDR-Regierung, vor allem dank der ostdeutschen SPD mit dem Außenminister Markus Meckel, erreichte, führte dazu, dass sich die westdeutsche Bundesregierung heute noch mit falschen Federn schmückt. Es ging um „legale Einwanderungsmöglichkeiten für Juden aus der Sowjetunion“. „Am 11. Juli (1990) beschloss der Ministerrat dann eine ‚Regelung zur Aufnahme ausländischer jüdischer Bürger in die DDR“. Dies gefiel der Bundesregierung nicht. Es gab Anweisungen, „restriktiv mit der wachsenden Zahl von Asylanträgen umzugehen. Es sollte eine konkrete Verfolgungssituation nachgewiesen werden müssen.“ Nicht nur weil ein solcher Nachweis in der NS-Zeit bedeutet hätte, dass Jüdinnen*Juden einen Asylantrag erst nach Inhaftierung in einem Konzentrationslager hätten stellen können, weil die für Jüdinnen*Juden gängigen Schikanen, Misshandlungen, Verfolgungen, An- und Übergriffe im Alltag nicht zugereicht hätten, war das Ansinnen der damaligen Bundesregierung zynisch. Es gelang ihr zwar, nach dem Rücktritt von Markus Meckel Lothar de Maizière zu überzeugen, „die weitere Bearbeitung von Asylanträgen zu stoppen, also weitere Aufnahmen zu verhindern“, doch nachhaltigen Erfolg hatte sie nicht: „Die Bundesregierung konnte es sich nach der Vereinigung gegenüber der jüdischen Welt nicht leisten, diese Einwanderung zu stoppen.“
Viel schwieriger waren die Verhandlungen über die Mitgliedschaft des vereinten Deutschlands in der NATO und der Verzicht auf Atomwaffen. Durchsetzbar war – allerdings auch gegen den Widerstand von Helmut Kohl – die Anerkennung der polnischen Westgrenze. Helmut Kohl pokerte, wissend, dass es in seiner Partei zu viele Mitglieder und Wähler*innen gab, die im Schulterschluss mit den Vertriebenenverbänden die polnische Westgrenze bekämpften. Die polnische Westgrenze wurde schließlich anerkannt, doch Helmut Kohl verkaufte dies in der Öffentlichkeit als „Preis der deutschen Einheit“. Die Unterschiede der Erinnerungskultur in Ost und West wurden deutlich. Markus Meckel: „Hier war kein neuer Preis zu zahlen, hier galt es, die Folgen des von uns zu verantwortenden Krieges anzuerkennen. In Polen und bei den Nachbarn konnte diese Redewendung auch so gehört werden, dass – sobald wir Deutschen die Einheit haben – eine Diskussion darüber entstehen kann, ob der Preis nicht zu hoch gewesen ist.“
Gerade in der Außenpolitik war die Bundesrepublik Deutschland, vor 1989 und seit 1989, nur selten stringent (eine Ausnahme bildet aus meiner Sicht die Zeit von Joschka Fischer als Außenminister). Durchweg prägte die deutsche Außenpolitik eine merkwürdige Einseitigkeit der Sicht auf Diktaturen, auch schon vor 1989. Peter Steinbach hat in seinem Fazit „25 Jahre nach dem Ende der DDR“ (in: Andreas H. Apelt / Robert Grünbaum / Jens Schöne, Hg., Erinnerungsort DDR – Alltag – Herrschaft – Gesellschaft, Berlin, Metropol, 2016) auf diesen Grundwiderspruch „westlicher“ Menschenrechtspolitik hingewiesen: „Besonders deutlich zeigte sich die westliche Indifferenz gegenüber Diktaturen in Lateinamerika, Afrika und Asien. (…) Entscheiden abgelehnt wurden im Westen die diktatorischen Systeme des europäischen kommunistischen Machtbereichs.“ Vielleicht ist „Indifferenz“ ein Euphemismus. Es gab führende deutsche Politiker, die die gute Luft in dem Stadion lobten, in dem Pinochet nach seinem Putsch seine Gegner*innen gefangen hielt, und die Beiträge Henry Kissingers und des amerikanischen State Departments zu dem ein oder anderen Militärputsch können inzwischen als bekannt vorausgesetzt werden.
Die Stasi in der Kuschelwelt
Detlef Pollack schreibt: „Die DDR wurde zu einem umkämpften Gut, das die Ostdeutschen gegen westliche Vorurteile verteidigen wollten.“ Im Westen verstanden nur wenige, warum dies so ist, denn dort ergingen sich die leitenden Medien ebenso wie die Mehrzahl der Politiker*innen darin, die Defizite, Vergehen und Verbrechen des Ostens aufzulisten. Mit Recht spricht Detlef Pollack von einer „aufgeheizten Atmosphäre“ und einer „Jagd nach Stasi-Mitarbeitern“.
Detlef Pollack abonnierte bereits 1990 die FAZ, weil er diese offenbar für das Leitmedium der neuen Wirtschaftspolitik hielt. Dort las er, was alles in der untergehenden DDR im Argen lag, in der Wissenschaft, in der Kunst, der Literatur und in den Kirchen, die kurz zuvor noch für ihr Engagement gegen die SED-Diktatur gelobt worden waren: „Woche um Woche brachte die FAZ Artikel, die die Verstrickungen von Geistlichen mit der Stasi belegen sollten, die Mutmaßungen über Fälle, in denen die Betroffenen noch nicht überführt worden waren, anstellten und differenzierende Positionen diskreditierten.“ Die Unschuldsvermutung, eine zentrale Säule des freiheitlich-demokratischen Rechtsstaats, galt offenbar für jemanden, der aus der DDR kam, nicht. Die Debatten um Manfred Stolpe und Gregor Gysi waren nur zwei dieser mit wenig Sachkenntnis und viel Selbstgerechtigkeit geführten Debatten. „Dass die Kirchenleute mit dem Staat und auch mit der Stasi hatten reden müssen, um das Leben der Kirchen und der Christen in der DDR zu erleichtern, war unsereinem völlig klar. Deshalb betrieben sie aber noch lange nicht das Geschäft der SED.“ Das galt natürlich auch für Anwälte.
Als gelernter „Westler“ wage ich zu behaupten, dass diese Debatten viel damit zu tun hatten, dass Menschen aus dem „Westen“ ihren Besitzstand und ihre Chancen gegen Menschen aus dem „Osten“ zu sichern trachteten. Wer ein wenig in die Vergangenheit geschaut hätte, hätte sich gewundert: wären die Deutschen nach 1945 so radikal mit den Verstrickungen der deutschen Eliten in das NS-Regime umgegangen wie die Westdeutschen (verbündet mit manchen Ostdeutschen) nach 1989 mit den Ostdeutschen, wäre die Politik der jungen Bundesrepublik anders verlaufen und die SED hätte weniger Anlass gehabt, deren Verstrickungen mit der alten NS-Nomenklatura anzuprangern. Um die Bürger*innen der DDR, die wirklich unter den Schikanen und Verfolgungen durch die Stasi gelitten hatten, inhaftiert, in den Westen abgeschoben oder in den Suizid getrieben wurden, ging es in dieser Debatte kaum. Die Ostdeutschen, auch die, die weder Täter*innen noch Opfer waren, wurden in den Westmedien durchweg „ein beliebtes Objekt abwertender Kritik und herablassender Belehrung.“ Die Westdeutschen profitierten davon. Ilko-Sascha Kowalczuk: „Mit der Vereinigung von 1990 holte sich die Bundesrepublik zynisch gesprochen, die ‚Anderen‘, die man zur Selbstbestätigung (und zum Selbstbetrug) benötigt, ins eigene Haus.“
Detlef Pollacks Verdienst ist es, die gängigen Bilder der DDR zu dekonstruieren. „Die konkurrierenden Deutungen des Umbruchs stehen unvermittelt nebeneinander und schließen sich teilweise nicht einmal aus. (…) Jeder hat halt seine Wahrheit, und die eine Erzählung, die für alle zutrifft, gibt es nicht.“ Die DDR war kein homogenes Land, in dem die Stasi alles dominiert hätte, in der die Menschen keinerlei Möglichkeiten gehabt hätten, ein Privatleben zu führen, in der niemand hätte irgendwohin reisen dürfen. Andererseits hatte die Auseinandersetzung mit den Machenschaften der Stasi auch – so Ilko-Sascha Kowalczuk – „eine hohe Integrationsfunktion“. Die berüchtigte Liebeserklärung ihres Chefs Erich Mielke vor der Volkskammer „war zugleich die beste Steilvorlage für die SED-Führung um Krenz und Modrow, nun fortan neben Honecker die gesamte Schuld auf das MfS abzuwälzen. Ein Vorgang, der prächtig funktionierte und es bis heute tut: Die SED wurde entlastet, die Blockflöten stellten sich als Saubermenschen und bald sogar nicht wenige als verkappte Widerständler dar, und die Stasi wurde zum Sündenbock für das gesamte Unrecht abgestempelt.“ Dies war durchaus eine Variante der Methode, die schon nach 1945 ehemalige Nationalsozialist*innen erfolgreich anwandten.
Die Kehrseite des Mythos, dass allein die Stasi an allem Unglück der DDR schuld gewesen wäre, ist der Mythos, dass die DDR das Land der kuscheligen Nischen gewesen wäre, in denen sich alle wohlfühlen durften, die der SED nicht in die Quere gaben. Es gab jedoch nichts, keine Äußerung, keine Handlung, die nicht für das tägliche Leben, die eigene Karriere hätte nachteilig ausgelegt werden können. Alles Private war tendenziell politisch. Die DDR war eine Diktatur, und Diktaturen zeichnen sich durch Willkür aus. Ein und die selbe kritische Bemerkung kann geduldet werden, sie kann aber auch zu Verfolgung, Verhaftung und Verurteilung als Staatsfeind*in führen. Die DDR war eine gespaltene und in sich widersprüchliche Gesellschaft. Detlef Pollack: „Anders als häufig angenommen war die DDR keineswegs eine homogene, sondern eine hochfragmentierte Gesellschaft, sozial inkohärent wie wenige andere Gesellschaften, gekennzeichnet durch eine Spaltung zwischen der abgehobenen kleinen Politkaste und der politisch angepassten Dienstleistungsklasse von Funktionären, Lehrern, Richtern und Verwaltungsangestellten auf der einen Seite und der breiten Masse von politisch Indifferenten, sich am System reibenden technischen Professionseliten, systemkritischen Arbeiterschichten, Aussteigerszenen und vielen anderen Submilieus auf der anderen.“
Wer ist, wer war das Volk?
Detlef Pollacks Analyse dreht sich um die Begriffe „Wir“ und „Volk“. Die drei Kapitel seines Buches tragen die Überschriften „Wir sind das Volk“, „Wir sind ein Volk“ und „Wir war’n das Volk“. Die Überschriften suggerieren ein Bild der Ostdeutschen nach dem Kaspar-Hauser-Prinzip, wie es Peter Handke in seinem 1968 aufgeführten Sprechstück beschrieb, der Ostdeutsche als jemand, der werden möchte, wie vorher ein anderer gewesen ist, aber dann – dies wäre der zweite Teil einer ostdeutschen Kaspar-Hauser-Variante – enttäuscht, dass er nicht so werden konnte, wie ein Kaninchen vor der Schlange vor dem scheinbar übermächtigen „Wessi“ erstarrt („Das Kaninchen bist du!“). Das Gegenbild dazu wäre das Priming, ein Begriff, der in der Biologie und in der Psychologie verwendet wird. Die Zuschreibungen, die jemand von außen erfährt, bestimmen mit der Zeit Charakter, Selbstverständnis und Verhalten.
Die drei Kapitelüberschriften ergeben aber auch einen dialektischen Aufbau, dem allerdings die Synthese fehlt. Anders gesagt: Synthese ist eben nicht früher oder später – wie in der DDR-Interpretation des Marxismus-Leninismus impliziert – das Ende der Geschichte mit teleologisch-eschatologischem Charakter. Im Gegenteil: das, was sich aus These und Antithese – ich bleibe in dem Bild – ergibt, ist das Ergebnis einer Reduzierung von Komplexität: „Das Volk war unbefangener (als die Bürgerrechtler*innen, NR) und weniger prätentiös. Es begriff, dass es auf Unterstützung aus dem Westen angewiesen war und dass in der Wiedervereinigung die einfachste Lösung der angestauten Probleme bestand.“ Gerd Poppe mahnte noch „die Akzeptanz einer spezifischen DDR-Identität“ an (zitiert nach Detlef Pollack), für die Demonstrant*innen des Frühjahrs 1990 war dies kein Anliegen mehr. Dies scheint sich inzwischen geändert zu haben. Ständig erleben wir Debatten darüber, worin eine „DDR-Identität“ bestanden haben könnte und wie sie sich heute noch auswirkt.
Doch wie fing es an? Das was die Bürgerbewegung in der DDR vor dem 9. November 1989 forderte, und das, was anschließend auf den Demonstrationen als Forderung an den „Westen“ formuliert wurde, gehört – so Detlef Pollacks Analyse – untrennbar zusammen. „Wie die Transparente und Losungen auf den Demonstrationen im November und in den Folgemonaten zeigen, gingen die Forderungen nach Demokratie und freien Wahlen, die Empörung über den Ruin der DDR-Wirtschaft und der Wunsch nach Einführung der Marktwirtschaft Hand in Hand.“ Ob jemand durchblickte, was „Marktwirtschaft“ alles bedeuten kann, darf bezweifelt werden. Es ging um die Verwirklichung eines Bildes vom „Westen“, das sich über die Werbesendungen des Westfernsehens, über die Angebote der aus dem Westen in die DDR gereisten westlichen Vertreter*innen und Berater*innen und letztlich auch über die Erfahrung der gefüllten Regale der westlichen Kaufhäuser festsetzte.
Gleichzeitig wurde und wird die eigene Stärke überschätzt. „Verleugnung des jahrelangen Opportunismus und eine gewisse Neigung zur Selbstüberschätzung gehören mithin von Anfang an zum politischen Aufbruch in der DDR.“ Dies gilt – so Detlef Pollack – auch für die oppositionellen Bürgerrechtler*innen. Vom Ergebnis her gesehen hatten sie in der Tat Erfolg, es bestätigte sich offenbar, „dass die Sehnsucht nach Freiheit die Welt verändern könne“. Ausgereicht hätte dies jedoch nicht, Detlef Pollack betont, „dass man genau dies aus dem Umbruch in der DDR nicht lernen kann.“ Ich halte es eher mit dem Satz Lenins, dass Revolutionen immer dann Erfolg haben, wenn die unten nicht mehr wollen und die oben nicht mehr können. Diese zweite Bedingung entschied in der Tat auch im Herbst 1989 über den weiteren Verlauf der Geschichte der DDR, gestärkt durch die Fesseln, die die Haltung Gorbatschows der SED anlegte, der klarmachte, dass die Sowjetunion den Lauf der Dinge in den Staaten des sogenannten „Ostblocks“ eben den Staaten selbst überlassen wolle. Die SED war sprachlos und im Grunde nicht mehr regierungsfähig.
Detlef Pollack benennt neben der Haltung Gorbatschows die „Fluchtbewegung“ als entscheidenden Faktor, durch den die oppositionelle Bürgerbewegung ihre Macht entfalten konnte. „Die Fluchtbewegung verband die voneinander separierten unterschiedlichen Kommunikationsräume miteinander. An die Stelle fragmentierter Wirklichkeitskonstruktionen setzte sie einen einheitlichen Interpretationsrahmen. Die von ihr ausgehende Botschaft lautete: Die da oben sind am Ende. Diese Botschaft wurde über die westlichen Medien millionenfach in die Stuben der DDR-Bürger transportiert.“ Wer glaubte, die Ablösung der SED als herrschender Partei löse die Probleme der DDR, erlag jedoch einer Selbsttäuschung. Virulent war in den Demonstrationen der ersten Monate des Jahres 1990 die Parole „Kommt die D-Mark, bleiben wir, kommt sie nicht, dann kommen wir“. Im „Westen“ wurde die Parole durchaus als Drohung verstanden. Die „Ostdeutschen“ waren im „Westen“ eben nicht unbedingt geliebte Geschwister. Wiedersehen machte Freude, aber müssen die auch gleich dableiben und uns dann auch noch auf der Tasche liegen?
Insofern müssen wir uns nicht wundern, dass in den 2010er und den beginnenden 2020er Jahren diejenigen, deren Wünsche sich nicht erfüllten, die statt im „Paradies“ im sehr irdischen „Nordrhein-Westfalen“ gelandet waren, in ihrem Gefühl ständiger Benachteiligung und Diskriminierung Strategien anwenden, von denen sie glauben, dass sie in den 1980er Jahren gewirkt hätten. Dass die Demonstrationen von Pegida an Montagen stattfanden, war mehr als ein Zitat. Es hatte Methode. Die Bundesregierung wird – unbeschadet der Tatsache, dass sie jederzeit auch abwählbar ist – mit der SED-Diktatur identifiziert, und Plakate der AfD während der Landtagswahlen in Brandenburg, Sachsen und Thüringen des Jahres 2019 mit der Aufschrift „Wende 2.0“ dokumentierten die Gleichsetzung von „Westen“, „Demokratie“ und „Benachteiligung“.
Die Perspektive: gesamtdeutsche Geschichtsschreibung
Sobald im „Westen“ über die diversen Wahlergebnisse in den ostdeutschen Ländern und Kommunen gesprochen wird, wird schnell vermutet, dass dieser Zuspruch zur AfD dem vorangegangenen Zuspruch zur SED entspräche, als wäre in der Zwischenzeit nichts geschehen. Detlef Pollack kritisiert, dass viele Analyst*innen der aktuellen ostdeutschen Entwicklungen Wahlentscheidungen und Demonstrationen als Erbe der Unterdrückung in der DDR verstehen: „So arbeiten sie mit an der Reproduktion des Ostdeutschen, der sich als Opfer der Einheit versteht und als benachteiligtes und entmündigtes Wesen stilisiert und darauf besteht, der bleiben zu dürfen, der er ist.“
Sein Fazit ist ein Auftrag an den Diskurs, den Ostdeutsche aber zunächst unter sich selbst führen sollten: „Ich denke, sie sollten sich von ihrer Neigung zum Selbstmitleid lösen und sich vor allem eines erlauben: ein kritischeres Verhältnis zu sich selbst oder genauer: zu dem, was sie für ihre eigene Identität halten. Auf diese Weise wäre es vielleicht möglich, dass sich die Ostdeutschen weniger aus der Differenz zum Westen begreifen und von dort her ihre gesellschaftliche Relevanz zu gewinnen versuchen, sondern mehr als Teil einer offenen Gesellschaft.“ Ostdeutsche sollten Realitätsgehalt und Wirkungen des „Opferdiskurses“ reflektieren.
Ein vergleichbarer Diskurs müsste jedoch auch im „Westen“ initiiert werden. Mit Herleitungen anti-demokratischer Einstellungen aus der DDR-Geschichte und die Leugnung tatsächlicher Benachteiligungen und Missachtung in den 1990er und 2000er Jahren entsteht kein Verständnis für die Mentalitäten in Ostdeutschland und schon gar kein Dialog zwischen Ost und West. Die DDR lässt sich weder aus Stasi noch aus Datsche, weder aus der maroden Infrastruktur noch aus der vorhandenen sozialen Absicherung erklären.
Insofern sollte der Erklärungsansatz von Detlef Pollack mit all seinen differenzierenden Aspekten die politischen und medialen Debatten inspirieren und nicht zuletzt auch entschärfen. Vielleicht entsteht so ja mit der Zeit ein gesamtdeutscher Blick auf die gemeinsame Geschichte von West und Ost, BRD und DDR, von Gesamtdeutschland zwischen 1945 und heute, mit allen gegenseitigen Spiegelungen, Wechselwirkungen, Zuschreibungen und Konstrukten scheinbarer Wirklichkeit und Wahrheit, der auch die Nebenwirkungen der Friedlichen Revolution benennt, die für viele Ostdeutsche als Hauptwirkungen wahrgenommen werden. Revolutionen waren in Deutschland noch nie populär. Die Lenin zugeschriebene Aussage, dass in Deutschland niemals eine Revolution in einem Bahnhof stattfinden könne, weil sich die Deutschen erst eine Bahnsteigkarte kaufen müssten, traf vielleicht zu. Die Ostdeutschen kauften sich im Herbst 1989 keine Bahnsteigkarten. Die Tragik lag vielleicht darin, dass von ihnen spätestens ab dem 3. Oktober 1990 verlangt wurde, sich – im übertragenen Sinne – eine ganze Kollektion von Bahnsteigkarten zuzulegen, von denen sich viele im Nachhinein als wertlos herausstellten.
In dieser Perspektive treffen sich Detlef Pollack und Ilko-Sascha Kowalczuk, der eine „DDR-Aufarbeitung“, fordert, die „die ganze Palette der DDR-Gesellschaft und die Transformationsgeschichte miteinander verknüpft.“ Ilko-Sascha Kowalczuk fährt fort: „Wenn wir Forscherinnen und Forscher es schaffen, ostdeutsche Geschichte, die Hoffnungen, Träume, Aufbrüche und Enttäuschungen als einen Fluss im Strom der Zeit des 20. Jahrhunderts zu erzählen, aufzuarbeiten, dann sind wir auch nicht mehr weit entfernt von der schon lange geforderten gesamtdeutschen Geschichte. Bundesdeutsche und DDR-Geschichte, deutsche und europäische, europäische und globale Geschichte gehören zusammen, mehr als es den damals Verantwortlichen lieb und den Zeitzeugen bewusst war. (…) Und die DDR eben auch als eine Gesellschaftsgeschichte in einer Parteidiktatur, in der vielmehr möglich war, als nur ‚Täter‘ oder ‚Opfer‘ zu sein. Die meisten waren weder das eine noch das andere, ganz viele aber beides.“ Ohne ein solches differenzierendes Geschichtsverständnis droht ein „Jahrhundert des Autoritarismus“, möglicherweise zunächst in der Variante des „Autoritarismus von unten als Forderung gesellschaftlicher Protestbewegungen“, in denen sich mit der Zeit jedoch die autoritären Führungspersönlichkeiten herausbilden. Die Popularität des Vladimir Vladimirowitsch Putin in manchen ost- und westdeutschen Milieus sollte Warnung genug sein.
Norbert Reichel, Bonn
(Anmerkung: Erstveröffentlichung im März 2021, Internetverweise wurden am 15. September 2022 überprüft.)