Was ist Recht, was ist Unrecht?

Was Debatten und Diskurse über Israel und Gaza zeigen

„Ich ging hinunter in die Wüste / um meinen Brüdern beim Kampf zu helfen / Ich wusste, dass sie nicht im Unrecht / Ich wusste, dass sie nicht im Recht waren.“ (Leonard Cohen)

Dies sind Verse einer unveröffentlichten Strophe des Liedes „Lover, Lover, Lover“, die Leonard Cohen in sein Notizbuch schrieb, als er 1973 während des Yom-Kippur-Krieges in Israel vor Soldaten sang (zitiert nach: Matti Friedman, Wer durch Feuer – Krieg am Jom Kippur und die Wiedergeburt Leonard Cohens, übersetzt aus dem Englischen von Malte Gerken, Hentrich & Hentrich 2023)

Dieses Wissen begleitet viele von uns in unseren Zweifeln, die von Tag zu Tag wachsen, wenn wir Bilder aus Israel, aus Gaza, aus dem Westjordanland, seit der Nacht vom 12. auf den 13. Juni 2025 auch aus dem Iran sehen, darüber lesen und diverse, oft höchst kontroverse Kommentare zur Kenntnis nehmen. Manche schreiben und sprechen anmaßend, andere wirken resigniert. Es ist wahrscheinlich, dass sich in den Tagen, in denen dieser Essay geschrieben wurde, täglich oder gar stündlich etwas verändert, insbesondere im Hinblick auf den Krieg zwischen Israel und dem Iran.

Es gibt bestimmte Muster in den Debatten und Diskursen, die sich angesichts der Entwicklungen in Israel und Gaza ständig wiederholen und oft genug radikalisieren. Vielleicht nehmen sie kommende Debatten und Diskurse zum Thema Israel und Iran vorweg? Vielleicht gibt es auch keinen Unterschied? Eines ist Fakt: Israel wird vom Iran bedroht, der schon Hamas, Hisbollah und Huthi ausstattete und mit einer auf dem Palästina-Platz in Teheran ablaufenden Uhr seinen Bürger:innen zeigt, wie viele Jahre, Monate, Tage, Stunden und Minuten es noch dauert, bis Israel vernichtet sein wird. Und niemand, der sich an all diesen Debatten beteiligt, weiß wirklich, wie nahe der Iran bei seinem Bestreben nach nuklearer Bewaffnung ist, sodass auch niemand weiß, ob Israel im Juni 2025 den Iran mit guten Gründen angegriffen hat oder ob andere Gründe eine Rolle spielten als die, die die israelische Regierung anführt. Am Vernichtungswillen des Iran und seiner Proxys in der Region ändert das nichts.

Die große Heuchelei

Aber gehen wir einige Schritte zurück. Was geschah und geschieht eigentlich seit dem 7. Oktober 2023? Das Pogrom vom 7. Oktober führte dazu, dass der Antisemitismus weltweit explodierte, unmittelbar, ohne jede Zeitverzögerung, nicht nur in palästinensischen Kreisen, auch in vielen sich links oder liberal verstehenden Milieus, mitunter sogar fahrlässig ignoriert von verschiedenen westlichen Regierungen wie in Spanien oder in Irland. Diese Explosionen des Antisemitismus vermögen zum Teil das Verhalten der israelischen Regierung und Netanjahus erklären. Aber das Verständnis für die Art und Weise, wie Israel seine Selbstverteidigung praktiziert, scheint in vielen westlichen Ländern zu schwinden, nicht nur in der Bevölkerung und in den Medien, auch bei Regierungen. Was auch immer geschieht, der Diskurs ist vergiftet. Die Debatte läuft wieder und wieder auf die eine Frage hinaus, was Israel darf, was nicht, ob und wo es sich zu Recht selbst verteidigt, ob und wo es zu weit geht. Aber auf der anderen Seite resignieren manche und sagen, dass Israel eigentlich nur noch alles falsch machen kann.

Die ZEIT hat am 28. Mai 2025 einen Text über die Radikalisierung des Diskurses Ende Mai veröffentlicht: „Wie wir über Gaza sprechen“. Lenz Jacobsen, Nils Markwardt, Alisa Schellenberg, Johannes Schneider und Bernd Ulrich sprachen jeweils unterschiedliche Aspekte an. Der Modus, in dem zum Thema Gaza beziehungsweise Israel in den Debatten – wenn er überhaupt den Begriff Debatte verdient – vorherrscht, ist durchaus vergleichbar mit dem Modus mancher Debatte während der Coronapandemie oder nach dem russländischen Überfall der Ukraine am 24. Februar 2022. Recht oder Unrecht? Welche Frage! Johannes Schneider: „Schon in der Coronapandemie ging es nicht in erster Linie um ein nüchternes Abwägen verschiedener Risiken, sondern um Wahrheit und Wirklichkeit überhaupt, und das auch noch in Bezug auf das Verhältnis des Staates zum eigenen Körper. Im Ukrainekrieg bemerkten die Deutschen dann, dass sie gar keine gemeinsamen Lehren aus der NS-Zeit gezogen hatten, sondern zutiefst widersprüchliche. Passte vorher noch alles einigermaßen zusammen – gegen Faschismus sein und für den Frieden –, beschimpfen sich Menschen im Angesicht Wladimir Putins gegenseitig als Kriegstreiber und Feinde der Freiheit.“

Bernd Ulrich rät mit Recht zu mehr „Demut“. In der Tat: Wir sollten vielleicht erst einmal zugeben, wie verunsichert wir sind, wie wenig wir aus der Ferne verlässlich beurteilen können, was in Israel, Gaza und im Westjordanland geschieht. Das ist der Inhalt der Botschaften von Leonard Cohen und Bernd Ulrich. Was ist Recht? Was Unrecht?

Eine differenzierende Einordnung der israelischen Politik wäre jedoch auch notwendig, wenn der 7. Oktober 2023 gar nicht stattgefunden hätte. Es geht letztlich nicht nur um die aktuelle israelische Politik und das Vorgehen der IDF seit dem 7. Oktober, sondern auch um die Frage, ob und wie Israel mit der Regierung Netanjahu sich im Kreis rechtsorientierter bis rechtsextremer Parteien wiederfindet, die uns in den westlichen Demokratien bedrängen. In einem Gespräch mit Soja Zekri für die Süddeutsche Zeitung vom 9. Juni 2025 brachte es Susan Neiman auf den Punkt: „Seit Jahren umarmen die Rechtsparteien der Welt jede rechte Regierung in Israel, um von ihrem eigenen Rassismus oder Protofaschismus abzulenken. Man sieht es derzeit im großen Stil bei Donald Trump.“ Eva Illouz verwies am 3. April 2025 in einem Gastbeitrag für die Süddeutsche Zeitung auf die neuerlichen Sympathien zwischen Rechtsextremen in Europa und Rechtsextremen in Israel. Bildungsminister Yoav Kish (Likud) hatte ihr den ihr von einem wissenschaftlichen Komitee zugedachten Israel-Preis verweigert, weil sie sich mit ihrer Unterschrift für Untersuchungen zu Kriegsverbrechen der israelischen Selbstverteidigungskräfte in Gaza gefordert hatte: „In derselben Woche, in der mir der Israel-Preis verweigert wurde, empfing die israelische Regierung Vertreter rechtsextremer Parteien aus der ganzen Welt. Zwei rechtsextreme Politiker aus Frankreich, Jordan Bardella des Rassemblement National und Marion Maréchal, Mitglied des Europäischen Parlaments, zogen durch die Straßen von Jerusalem. Ihre Partei und die Ideen, die sie vertreten, verteidigen eine christliche Zivilisation, die Juden in der Vergangenheit als gefährlich und minderwertig angesehen hat. Viele ihrer Wähler sind antisemitisch eingestellt. / Der israelische Minister für Diaspora-Angelegenheiten, Amichai Chikli (zurzeit Mitglied des Likud, NR) erwägt sogar den Aufbau von Beziehungen zur AfD, einer Partei, die nicht einmal versucht, die Nationalsozialismus-Nostalgie einiger ihrer Mitglieder zu verheimlichen. Ich könnte mir vorstellen, dass einige von ihnen heimlich darüber lachen, dass israelische Juden sie jetzt mit Verbündeten verwechseln und dass Israel ihnen einen moralischen Status verleiht, der ihnen in ihrer eigenen Gesellschaft verwehrt bleibt.

Susan Neiman sagte im Gespräch mit Sonja Zekri auch manche Dinge, über die zu debattieren wäre, aber warum auch nicht. Darüber kann man reden, darüber muss man reden. Hier geht es aber um den Kern ihrer Aussagen: Sie hat recht, dass die auch oder vielleicht gerade in Deutschland virulente „Mischung von Philosemitismus und Antisemitismus“ unerträglich ist. Man könnte auch von Heuchelei sprechen, nicht zuletzt in der Verwendung des ohnehin diffusen Begriffs der sogenannten „Staatsraison“. Letztlich landet jedes Wort auf der sprichwörtlichen Goldwaage, die aber eben nur für dieses Edelmetall funktioniert.

Falsche Freunde

Christopher Browning ging im New York Review of Books unter der Überschrift „Trump, Antisemitism & Academia” der Frage nach, wie ehrlich es das große Vorbild der Rechtsextremen und Rechtspopulist:innen dieser Welt, Donald Trump, es mit dem Antisemitismus meine, den er ständig als Grund nennt, um Harvard und andere Universitäten zu maßregeln, indem er ihnen Mittel entzieht, Staatsaufsicht verordnet oder untersagt, ausländische Studierende aufzunehmen. Browning verweist zum Beispiel auf Trumps Wahlkampf im Jahr 2016, als er Hillary Clinton vor einem Hintergrund mit 100-Dollarscheinen und einem Davidstern zeigte, dazu die Porträts von drei zufälligerweise jüdischen Finanzexperten: Janet Yellen, George Soros und Lloyd Blankfein. Am 6. Januar 2021 zeigten sich die Proud Boys und der Aufschrift „6MWE“ (= „6 Million Weren’t Enough“) auf ihren Sweatshirts. Brownings Fazit: „His campaign against campus antisemitism is simply a hypocritical pretext for his assault on American higher education.” (Eine deutsche Übersetzung des Textes von Browning erschien am 30. März 2025 in der Süddeutschen Zeitung.)

All diese Verbindungen zwischen Trump, europäischen und israelischen Rechtsextremisten und Rechtspopulisten motivieren manche Linke und Liberale nun leider nicht, sich mit der israelischen Zivilgesellschaft zu solidarisieren, die die Freilassung aller Geiseln, ein Ende der Kriegshandlungen in Gaza (und im Westjordanland), und nicht zuletzt die Aufgabe der auch nach dem 7. Oktober nicht aufgegebenen Rechtsreformen der Regierung Netanjahu fordert. Im Gegenteil: Alle Israelis, alle Jüdinnen und Juden dieser Welt werden immer wieder in Sippenhaft genommen und da stört es offenbar nicht, wenn sich eine der scheinbar linken Ikonen der Pro-Palästina-Proteste, Greta Thunberg, auf ihrer Schiffreise nach Gaza mit Hisbollah-Aktivisten und -Verehrern zeigt (nachzulesen und zu sehen in dem oben zitierten Interview mit Susan Neiman).

Stefan Dietl beschäftigt sich regelmäßig mit der völkischen Ausrichtung der Partei, so beispielsweise in seinem Buch „Die AfD und die soziale Frage“ (Münster, Unrast Verlag, 2017), in dem er den „völkischen Antikapitalismus“ in der Partei seziert. Offiziell behauptet die Partei natürlich etwas anderes. AfD’ler:innen versuchen durchweg – wie auch andere Antisemit:innen – den in der Partei vertretenen Antisemitismus abzustreiten. In seinem neuen Buch „Antisemitismus und die AfD“ (Berlin, Verbrecher Verlag, 2025) beschreibt Stefan Dietl in acht Kapiteln, welche prominenten Platz Antisemitismus in der AfD einnimmt. „Bewusst oder unbewusst geht man damit der Selbstdarstellung der AfD auf den Leim.“ Der Antisemitismus sei, so Dietl in seinem neuen Buch „der blinde Fleck im Kampf gegen die AfD“. In vielen Äußerungen werde deutlich, dass Jüdinnen und Juden nach Auffassung der Partei nicht zur „deutschen Volksgemeinschaft“ gehören. Dietl nennt mehrere Beispiele, die Affäre um Wolfgang Gedeon, die zu einer zeitweisen Spaltung der baden-württembergischen Landtagsfraktion führte, die aber inzwischen wieder zueinander gefunden hat, die Äußerungen von Stefan Brandtner nach dem Mordanschlag auf die Synagoge in Halle, die Bezeichnung von Juden als „Tätervolk“ – bezogen auf die frühe Sowjetunion – durch Martin Hohmann sowie die Abwertung der deutschen Erinnerungskultur (nicht nur) durch Alexander Gauland und Björn Höcke.

Gedenkveranstaltungen in Bundestag und Landtagen werden von AfD-Abgeordneten regelmäßig boykottiert, antisemitische Äußerungen von der Parteiführung regelmäßig bagatellisiert. Zum AfD-Programm gehören Geschichtsrevisionismus, der Kampf gegen den sogenannten „Schuldkult“ und nicht zuletzt der Kampf gegen die sogenannten „Globalisten“, für die namentlich wie auch in anderen Ländern George Soros als Gallionsfigur genannt wird. „Tatsächlich thematisiert die AfD Antisemitismus jedoch ausschließlich in externalisierter Form, also bei gesellschaftlichen Minderheiten oder im Zusammenhang mit Migration. Antisemitische Ressentiments und Stereotype in der Mehrheitsgesellschaft werden hingegen nicht angesprochen oder sogar geleugnet. Öffentlich positioniert sich die AfD immer dann gegen Judenhass, wenn sie dies mit dem Kampf gegen Einwanderung verbinden kann.“ Der Antisemitismus in den eigenen Reihen wird von AfD’ler:innen sozusagen ausschließlich auf die Gruppe der Muslim:innen projiziert, obwohl man bei genauerem Hinsehen in vielen Punkten Einigkeit zwischen eigenen und islamistischen Auffassungen zugeben müsste, beispielsweise im Familienbild. Dabei passt der von linker beziehungsweise anti-kolonialistischer Seite praktizierte Antisemitismus der AfD gut ins Konzept. Es sind eben nicht nur die Muslime, sondern auch die Linken. Mit wohlmeinender Bildung lässt sich – so Stefan Dietl – Antisemitismus nicht wirksam bekämpfen. Antisemitismus ist auch nicht – wie manche Linke und Liberale meinen – eine Spielart von Rassismus, sondern ein „Welterklärungsmodell“. Es geht somit ums Grundsätzliche.

Als gäbe es so etwas wie Kollektivschuld

Über die Folgen der Art und Weise der aktuellen Debatten sprach Regisseurin Adriana Altaras in einem Gespräch mit May Zehden (dokumentiert auf mena-watch): „Doch mit dem weiteren Verlauf des Kriegs im Gazastreifen kippte die Stimmung erneut. Kritik richtete sich nicht mehr nur gegen Israels Regierung, sondern zunehmend pauschal auch gegen jüdische Kulturschaffende. Ich selbst wurde bislang nicht angefeindet, aber ob ich vielleicht stillschweigend aus Projekten herausgehalten werde, das weiß man nie. Besonders belastend ist, dass ich inzwischen bei fast jedem öffentlichen Auftritt auf Israel angesprochen werde – unabhängig vom eigentlichen Thema. Ich bemühe mich dann um Differenzierung, um Deeskalation. Aber so schnell, wie sich die Lage verändert, kommt man mit dem Einordnen kaum hinterher.“

Dies ist nur ein Beispiel für viele. Schon am 7. Oktober 2023 begann es, dass alle Israelis, alle Jüdinnen und Juden gleichermaßen angefeindet und für alle Unbilden der Besatzungspolitik (NB: Gaza war kein besetztes Gebiet, sondern wurde 2005 von dem damaligen Premierminister Ariel Sharon gegen den Widerstand der dortigen Siedler geräumt!) verantwortlich gemacht wurden, vor allem aus einer Szene, die sich eigentlich den Menschenrechten verschrieben hatte, aber diese offenbar nur Palästinenser:innen zugestehen wollten, nicht jedoch Jüdinnen und Juden, ungeachtet der Staatsangehörigkeit, ungeachtet ihrer Einstellungen. Unter den am 7. Oktober Ermordeten und Verschleppten waren viele, die sich für einen Frieden zwischen den Menschen in Israel und in den palästinensischen Gebieten einsetzten.

Offenbar hat die Solidarisierung mit (den) Palästinenser:innen bei manchen Linken und Liberalen etwas Identitätsstiftendes. Die Frage sollte erlaubt sein, warum alles Unbill, das den Menschen in den palästinensischen Gebieten geschieht, in toto Israel zugeschrieben wird, nicht aber der Hamas und den anderen Terrorgruppen, die ihre eigenen Leute unterdrücken. In der Tat sollte auch die Frage gestellt werden können, warum so viele Deutsche meinen, sich zum Thema Israel / Gaza äußern zu müssen, obwohl es in der Welt noch viele andere Regionen gibt, in denen schrecklichste (kann man dieses Wort überhaupt steigern?) Dinge geschehen, im Sudan, in Myanmar, im Jemen, in Äthiopien, in Eritrea, in Somalia und nicht zuletzt angesichts des russländischen Terrors in der Ukraine oder in Belarus.

Ein Beispiel für die vielen Absurditäten dokumentierte Monika Schwarz Friesel in ihrer Rede zu einer Gedenkveranstaltung im österreichischen Parlament mit dem Titel „Warum die schwarze Antwort des Hasses auf dein Dasein, Israel?“ (auch abgedruckt in: Die Welt 22. Juni 2024): „Publiziert werden dabei von den Medien selbst die krudesten Ideen, zum Beispiel seit einigen Jahren Aussagen des postkolonialen Ansatzes, der die Shoah relativiert und Israel delegitimiert. Diese geschichtsverfälschende Schablone liefert längst nicht nur israelfeindliche, sondern auch kollektiv gegen alle Juden gerichtete Diskreditierungen, wenn zum Beispiel Anne Frank posthum als ‚weißes Kolonial-Mädchen‘ bezeichnet und ihr Tagebuch verbrannt wird. Das saliente Symbol für das jüdische Leben und Überleben in der Welt ist Israel und daher der Stachel im Geist aller modernen Antisemiten.“ Vor allem der Begriff des Genozids geht vielen schnell von den Lippen, wenn es um Israel geht, so Tania Martini in ihrem Beitrag „In diesen Tagen“ zu dem von ihr und Klaus Bittermann herausgegebenen Band Nach dem 7. Oktober, Essays über das genozidale Massaker und seine Folgen (Berlin, Edition Tiamat, 2024): „Das Wort Genozid aber ist zu einem modischen Kampfbegriff geworden, der den Blick auf die eigentlichen Intentionen und Taten verstellt, welche einen tatsächlichen Genozid definieren.“  

Me Too Unless You‘re a Jew

Wer auf die Geiseln und den Terror der Hamas verweist, muss in Deutschland und manch anderen westlichen Staaten riskieren, angegriffen zu werden. Das rote Hamas-Dreieck, das ein eindeutiger Mordaufruf ist, findet sich immer wieder auf Plakaten, an Haustüren und in Hörsälen. Ein Fall für viele: Der Student Lahav Shapira wurde am 2. Februar 2024 von seinem Kommilitonen Mustafa A. lebensgefährlich verletzt. Der Täter wurde am 17. April 2025 zu drei Jahren Haft verurteilt. Für den Tagesspiegel sprach Alexander Fröhlich mit Lahav Shapira: „Ich hatte mehrere Metallplatten, ja fast einen halben Baumarkt im Gesicht. Das Metall wurde ein halbes Jahr nach der Tat entfernt. Es können sich immer noch Narben bilden, es dauert, bis alles verheilt. Meine Nase war komplett zermatscht, die Augenhöhle war gebrochen, eine Mittelgesichtsfraktur. Das war ein schmerzhafter, langwieriger Prozess. Und ich habe auch Glück gehabt. Ich hatte eine minimale Hirnblutung, das hätte für mich auch tödlich ausgehen können.“ Der Täter versuchte vergeblich, die antisemitische Motivation seiner Tat zu leugnen. Es sei ihm nur um die Kommunikationsformen in einer von Lahav Shapira administrierten Whats-App-Gruppe gegangen. Er versuchte sogar, seinem Opfer Geld zuzustecken, um seine Untat wieder gutzumachen, was Lahav Shapira jedoch ablehnte. Nach dem Angriff habe ihn die Uni-Leitung unterstützt. Die Universität verhalte sich nicht kohärent und erwecke den Eindruck, dass sie „sich um den Schutz jüdischer Studierender nicht wirklich kümmert.“ So habe sie im Dezember 2023 bei einer Hörsaalbesetzung die Polizei wieder weggeschickt Lahav Shapira verweist auch darauf, dass ihm vorgeworfen wurde, die rechte Regierung in Israel zu unterstützen, was nicht stimmt. Im Gegenteil: „Ich habe in den Chats deutlich gemacht, dass ich im Nahostkonflikt sowohl für Zweistaatenlösungen einstehe und Mitleid mit Zivilisten in Gaza habe. Hass und Antisemitismus sind der falsche Weg, um Palästinenser zu unterstützen. Ich habe auch Posts gelöscht, wenn Nazikram geteilt beziehungsweise Inhalte der rechtsextremen Grauen Wölfe aus der Türkei geteilt werden. Oder wenn über Schulen in Neukölln rassistische Klischees bedient werden.“

Nach dem Angriff „hat sich die komplette Berliner Politik hingestellt und gesagt, der Angriff werde schnell und effektiv verfolgt. Das Gegenteil war der Fall. Bei der Polizei musste mein Anwalt schon stark nachhaken, dass das notiert wird, was ich sage. Auch sonst musste mein Anwalt Druck machen – zum Beispiel für eine rechtsmedizinische Untersuchung, damit die Auswirkungen des Angriffs festgestellt werden.“ Die Tat hätte am Landgericht verhandelt werden sollen, wurde jedoch wegen dortigem Personalmangel am Amtsgericht verhandelt. Wie schwierig die Beweisführung in einem solchen Fall ist, dokumentiert Jan Heidtmann in der Süddeutschen Zeitung. Entscheidend für das Urteil war der Nachweis des antisemitischen Motivs, weil dann gemäß § 46 StGB eine Bewährungsstrafe – so der Vorsitzende Richter – nicht mehr in Betracht kommt. Das Gericht ging in seiner Urteilsbegründung davon aus und ging im Strafmaß sogar über den Antrag der Staatsanwaltschaft (zwei Jahre und vier Monate Haft) hinaus.

Hannah Shapiro (der Name ist ein Pseudonym) berichte in der Jüdischen Allgemeinen vom 23. Juli 2024 (aktualisiert am 31. Juli 2024) über die Mischung von Schweigen und Voyeurismus in den Straßen Berlins, die ihr „Deutschlandbild“ verändert habe: „Vor anderthalb Wochen wurden mein Freund und ich auf dem Weg zum Schabbat-Essen von palästinensischen Demonstranten in Mitte angegriffen, als wir anhielten, um ein Eis zu essen. Wir wurden ohne Zustimmung gefilmt, angeschrien und mit Vergewaltigung bedroht. Ich wurde bespuckt, weil ich eine Davidstern-Halskette trug. Mein Freund wurde geschlagen und an den Haaren zu Boden geschleift. / Wir sind beide Amerikaner und leben seit fünf Jahren in Berlin. Die Leute fragen mich immer wieder, ob ich von dem Angriff überrascht sei. Doch das Einzige, was mich wirklich schockiert, ist, dass die Menschen so wenig Ahnung davon haben, was täglich in Berlin passiert. / Während Juden wieder einmal in den Schatten gedrängt werden, sind die Menschen auf den Straßen von Berlin still. Niemand, der sah, wie die Männer uns angriffen, tat etwas. Keiner rief die Polizei. Mein Freund lag in einem Scherbenhaufen und schützte seinen Kopf, während ich zur Polizei rannte. Niemand fragte, ob er Hilfe brauchte. Die Polizei brachte uns in die Eisdiele, um uns vor dem Mob draußen zu schützen, der ‚Eine Lösung! Eine Lösung!‘ skandierte. Währenddessen liefen die Leute weiter an dem Mob vorbei, um sich ein Eis zu bestellen – so als würde nichts passieren.“

Man muss es leider immer wiederholen. Was haben Jüdinnen und Juden in Deutschland mit der Regierung Netanjahu zu tun? Ist es wirklich notwendig zu betonen, dass sie nichts damit zu tun haben? Eben wie Lahav Shapira oder Hanna Shapiro. Aber es reicht wohl, als jüdisch wahrgenommen zu werden, um in Mithaftung genommen zu werden.

Doron Rabinovici fasst in seinem Beitrag „Im Morgengrauen“ zu dem bereits zitierten Band von Tania Martini und Klaus Bittermann die katastrophalen und verlogenen Einstellungen mancher Aktivist:innen in folgendem Statement zusammen, das aus einer Begegnung mit einer sich propalästinensisch äußernden Aktivistin entstand und keines weiteren Kommentars bedarf: „Die Aktivistin erklärte, es sei falsch, die Kibbuzniks zu ‚humanisieren‘. Solche Äußerungen sind zwar Randerscheinungen, doch sie sind zugleich Teil einer Tendenz, das antisemitische Wesen der Hamas und ihrer Massaker zu beschönigen oder nicht wahrzunehmen. Wir erleben einen Prozess der Irrealisierung. Was den Opfern widerfuhr, wird nicht anerkannt. Das ist die zweite Auslöschung ihrer Existenz. Wie wollte sonst erklärt werden, dass internationale Frauenorganisationen und darauf spezialisierte UN-Organisationen wochenlang zu den Vergewaltigungen und den Verstümmelungen von Geschlechtsteilen schwiegen, obgleich ihnen Berichte von Überlebenden und Beweise für diese Verbrechen vorgelegt wurden? Israelische Feministinnen prägten daraufhin den ironischen Slogan: ‚Me Too Unless You’re a Jew‘.“

Zweifel in Israel

Recht und Unrecht? Recht oder Unrecht? Bleiben wir in beziehungsweise bei Israel und Gaza. Welche Konsequenzen haben Berichte, dass in Israel Menschen gegen die Politik Netanjahus demonstrieren, die Freilassung der Geiseln, ein Ende des Krieges und die Bewahrung des Rechtsstaats fordern? Selbst israelische Soldaten stellen das Beharren der Regierung auf weiteren Angriffen in Gaza in Frage wie beispielsweise Uri Schneider in „Das Parlament“ berichtete. Das ist keine unbedingt neue Entwicklung, denn diverse Entlassungen von Spitzenpersonal in Armee und Geheimdienst bis zum Verteidigungsminister sprechen dafür, dass Netanjahu immer schon Schwierigkeiten hatte, alle Sicherheitskräfte und Armeeangehörigen auf seine Linie zu verpflichten. Im Zweifel entschied er sich immer im Sinne seiner rechtsextremen Koalitionspartner.

In der Juniausgabe 2025 der Blätter für deutsche und internationale Politik berichtet Ignaz Szlacheta unter der Überschrift „Künstliche Einheit, tiefe Spaltung: Holocaustgedenken in Israel“ über die in Israel gerade zurückliegenden „zehn Tage des Erinnerns an die Shoah und das Heldentum“. Es beginnt jedes Jahr mit dem Yom HaShoah und endet mit dem Unabhängigkeitstag, „einer der emotionalsten Abschnitte des jährlichen Gedenk- und Feiertagszyklus in Israel.“ Doch dieses Jahr war alles anders. Benjamin Netanjahu und seine Frau Sara verhielten sich gelinde gesagt respektlos. Sie kamen zur zentralen Gedenkveranstaltung zu spät. Netanjahu sagte in einer Konferenz am 1. Mai 2025, dass die Befreiung der Geiseln und die Freigabe der Leichen der ermordeten Geiseln „ein wichtiges Ziel (sei), das wichtigste Ziel aber sei der ‚totale Sieg“. Was auch immer er unter „total“ verstehen mag. Seine Frau ließ in einer kleinen Zwischenbemerkung durchblicken, dass von den 24 noch lebenden Geiseln einige weitere inzwischen verstorben oder ermordet worden wären. Trump sprach inzwischen übrigens auch von nur noch 21 lebenden Geiseln. Niemand weiß, wer noch lebt. Aber was ist mit der Rückgabe der Toten? Sollen sie keine würdige Beerdigung erhalten?

Gegen das Verhalten der israelischen Regierung wenden sich viele Israelis. Die Demonstrationen in Tel Aviv und anderswo werden nach wie vor sehr gut besucht. Es ist mitunter ungefähr so, als wenn jede Woche – anteilig zur Bevölkerungszahl – zwischen fünf und zehn Millionen Menschen am Brandenburger Tor gegen die deutsche Regierung demonstrierten. Dies war schon vor dem 7. Oktober so, so ist es bis heute. Ignaz Szlacheta zitiert Amir Kochavi, den Bürgermeister von Hod HaSharon: „Die jüdische Tradition lehrt uns ‚Nie wieder‘. Allerdings gilt dies nicht nur für uns, sondern für alle Völker.“ Er fuhr fort: „Wir dürfen im Angesicht der Gräueltaten, die an Menschen anderer Nationalitäten verübt werden, nicht schweigen – auch wenn sie in unserem Namen veröffentlicht werden.“

Unter denen, die sich weigerten, an der von der Transportministerin Miri Regev organisierten zentralen Veranstaltung zum Unabhängigkeitstag teilzunehmen, waren auch mehrere Künstler:innen sowie die fünf Späherinnen von Nachal Oz, die von der Hamas verschleppt und inzwischen freigelassen wurden. Das Israelisch-Palästinensische Forum hinterbliebener Familien (es gibt auch eine deutsche Sektion) organisierte eine eigene Veranstaltung in der Beit Samuel Synagoge in Ra_ananaa. Israelis und Palästinenser betrauerten in hebräischer und arabischer Sprache ihre toten Angehörigen. Ignaz Szlacheta stellt fest, dass in den sozialen Netzwerken auf diese gemeinsamen israelisch-palästinensischen Initiativen „vor allem Gewalt und Hass“ folgten.

Trotz allem: Die vielen differenzierten Stimmen der israelischen Literat:innen, die unter anderem Volker Weidermann in der ZEIT vom 5. Juni 2025 porträtierte, müssten eigentlich allen, die sehen wollen, zeigen, dass Israel nach wie vor die einzige Demokratie in der Region ist, in der Kritik an der Regierung möglich ist, ungeachtet so mancher Schikanen, die auch feststellbar sind, hoffentlich aber nicht eskalieren. Kontroversen werden ausgetragen. Leider gibt es immer wieder Versuche, den ein oder anderen zu delegitimieren, wie es kürzlich Philipp Peyman Engel erleben musste. Wir sollten erst einmal zuhören, was sie zu sagen haben, auch wenn sich zum Beispiel Philipp Peyman Engel, der Chefredakteur der Jüdischen Allgemeinen und Omer Bartov grundsätzlich kaum auf eine gemeinsame Wortwahl einigen dürften. Das müssen sie auch nicht, aber vielleicht wäre es möglich, sich auf folgende Formel zu einigen, in den Worten von Omer Bartov (am 12. Juni 2025 in der ZEIT): „Der Krieg braucht ein politisches Ziel. Und dieses Ziel sollte sein, eine andere gemäßigte palästinensische Organisation zu finden, die Gaza regiert.“ Greta Thunbergs Aufrufe zu „mehr Wut“ werden sicherlich nicht dazu beitragen.

However, we should talk

Die ZEIT zeigt in unregelmäßigen Abständen mit Gesprächen, Reportagen oder Kommentaren, dass und wie sich über das Thema differenziert berichten und diskutieren lässt. In ihrer Streit-Rubrik vom 5. Juni 2025 diskutierten Tom Segev und Volker Beck miteinander. Es gab fundamentale Unterschiede in den Haltungen und Analysen der beiden, die sich aber wiederum aus der Innensicht in Israel (Tom Segev als Autor einer Reihe von historischen Büchern über die Geschichte Israels und Palästinas in den letzten 100 Jahren) und aus der Funktion (Volker Beck als Vorsitzender der deutsch-israelischen Gesellschaft) erklären lassen.

Beachtenswert sind schließlich mehrere in der Jüdischen Allgemeinen dokumentierte Debatten. Dort stritten am 11. Juni 2025 Ayala Goldmann und Daniel Killy über die Berechtigung von Sanktionen gegen die beiden rechtsextremen Minister der israelischen Regierung Itamar Ben-Gvir und Belazel Smotrich, wie sie zuletzt einige Staaten, Australien, Großbritannien, Kanada, Neuseeland und Norwegen verhängt hatten. Ayala Goldmann plädierte dafür, Daniel Killy dagegen (ich teile die Auffassung von Ayala Goldmann, auch wenn ich die Argumente von Daniel Killy sehr ernst nehme). Kontrovers diskutierten in der Jüdischen Allgemeinen Hamed Abdel-Samad und Henry M. Broder am 11. Juni 2025 im Gespräch mit Philipp Peyman Engel. Beide sind gut miteinander befreundet und schaffen es, bei allen gegensätzlichen Positionen zu Israel und Gaza stets im Respekt vor der Position und der Persönlichkeit des anderen zu argumentieren.

Ein weiteres Vorbild wären Navid Kermani und Natan Sznaider. Ihr Briefwechsel wurde nach über zehn Jahren vom Hanser Verlag unter dem Titel „Israel – Eine Korrespondenz“ im November 2023 neu aufgelegt. Am 27. Februar 2024 veröffentlichten die beiden in der Süddeutschen Zeitung den gemeinsam geschriebenen Beitrag „Lass uns reden, Freund“. Sie beschreiben ihre unterschiedlichen Analysen und Meinungen, wissend, dass es auf viele Fragen (zumindest jetzt noch) keine Antwort gibt, vielleicht auch, weil niemand so genau erkennt, wer in Europa, in den arabischen Staaten, auch in den USA als Verbündete in Frage käme, sodass letztlich die Radikalen in der israelischen Regierung und die Hamas ihre Agenda ungestört fortsetzen können. Das gemeinsame Fazit von Kermani und Sznaider: „Wir sind davon überzeugt, dass der permanente Krieg und der absolute Sieg, der Israelis wie Palästinensern von unverantwortlichen Führern versprochen wird, keine lebenswerten Optionen sind. Deshalb ist es für uns auch keine Alternative, proisraelisch oder propalästinensisch zu sein. Wenn es so weiterläuft wie jetzt, also mit Autopilot, werden beide Völker nur immer weiter und weiter um ihre Toten weinen. Welche Massaker und welche Kriege braucht es noch, damit der Letzte begreift, dass das Existenzrecht der einen das Existenzrecht der anderen bedingt?“

We should talk – in der Tat, auch wenn wir uns die Gesprächspartner:innen nicht danach aussuchen können und sollten, ob sie unsere vorgefasste Meinung teilen. Natan Sznaider befasste sich in der Juniausgabe 2025 des Merkur in seinem Essay „Die Welt vor Gaza: Normalität und Gewalt“ mit dem von Pankaj Mishra veröffentlichten Buch „Die Welt nach Gaza“ (Frankfurt am Main, S. Fischer, 2025): „Es ist ein gutes Buch, weil der Autor klar Position gegen Gewalt bezieht, es ist ein schlechtes, weil Pankaj Mishra diese Gewalt nicht als Schlüssel der Region versteht, sondern in Dichotomien denkt und demzufolge nur eine Seite ausübt und die andere sie erleidet.“ Für Pankaj Mishra ist Israel der Täter, sind die Palästinenser die Opfer. Für die Geiseln – so Natan Sznaider – interessiert er sich „so gut wie gar nicht“.

Natan Sznaiders Eindruck: „Ich will mich mit Mishra streiten, aber sein Buch verschließt sich. Ich will ihm nicht seine Parteilichkeit nehmen, im Namen der palästinensischen Opfer zu sprechen. Sie brauchen in der Tat Sprecher und Sprecherinnen, gerade in Deutschland, wo ihre Perspektive oft nicht zu Wort kommt und gehört wird. Es geht nicht um Konsens um Genauigkeit, sondern um Pluralität und Rechenschaftspflicht. Dabei geht es auch um Identitätspolitik und die Frage, wie vermeidbar diese ist. Mishra tut so, als argumentiere er universell. Aber können wir Unterschiede zwischen Gruppen ignorieren, wenn Erinnerungen trennen und dialogische oder multidirektionale Erinnerungen nur begrenzt möglich sind? Einmal artikuliert, konstituieren sich Identitäten als politische Tatsachen.“

Erinnerungen trennen nicht nur Palästinenser und Israelis, sie trennen auch Israelis sowie Jüdinnen und Juden in der Diaspora und sie trennen auch verschiedene Gruppen von Palästinensern. Das Elend mag vielleicht auch darin liegen, dass die Geschichtsauffassung der Hamas viel zu oft als allgemein gültige palästinensische Auffassung postuliert wird. Das ist sie nicht. Auch bei manchen israelischen Gruppierungen ist Ähnliches festzustellen. Es gibt eben viele verschiedene „Geschichtsinterpretationen“, „Mishra erkennt aber nicht einmal die Möglichkeit dieser beiden Interpretationen an.“ Es ist letztlich auch ein Streit um Erinnerungen. Mishra – so Sznaider – „sieht nur ein monolothisches Israel, das es nicht gibt. Und ohne die Beteiligung von uns Israelis wird diese neue Welt nicht entstehen. Es ist sehr schade, dass Mishra sich dem verschließt.“ Aber wie wäre es mit folgendem Vorschlag: „Die gegenseitige Anerkennung der erlittenen Katastrophen mag ein kleiner Schritt aus der Spirale der Gewalt sein.“

Bündnispartner in Gaza: Demonstrationen gegen die Hamas

Fakt ist: In Gaza demonstrieren Menschen gegen die Hamas, es gibt „Wut“ gegen die Hamas! Schon in den vergangenen 15 bis 20 Jahren gab es immer wieder solche Demonstrationen. Sabine Brandes berichtete in der Jüdischen Allgemeinen: „Wir wollen leben“ über die brutalen Reaktionen der Hamas: „Die Schergen der Terrorgruppe folterten und ermordeten den 22-jährigen Oday Nasser Al-Rabay, der sich laut Angaben seiner Familie an den Protesten beteiligt hatte. Die Leiche wurde vor seinem Haus abgelegt. Eine klare Warnung. Und dennoch wurden bei der Beerdigung Dutzende dabei gefilmt, wie sie riefen: ‚Hamas raus!‘“ Hilfe für die Zivilbevölkerung lande bei der Hamas. Ein Gesprächspartner sagte: „Sie nehmen sämtliche Hilfslieferungen sofort in Beschlag. Zuerst verteilen sie es an ihre Leute, den Rest werfen sie auf den Schwarzmarkt, wo wir es für horrende Preise kaufen müssen. Umsonst bekommen wir nichts.“ Ein Kilo Mehl koste zurzeit 150 Dollar.

Regelmäßig berichtet die Plattform mena-watch über die Demonstrationen gegen die Hamas. Mohamed Altlooli: „Der Aufstand klopft an die Tür der Hamas“. „Mittlerweile sehnen sich viele nach einem Ende der Hamas-Diktatur oder würden es sogar vorziehen, von Israel regiert zu werden. So haben viele junge Menschen ihre Bereitschaft zum Ausdruck gebracht, mit den israelischen Behörden zusammenzuarbeiten, um den Gazastreifen zu verwalten und zu regieren, würde dies zu einem Ende der Hamas-Herrschaft führen.“ Bassem Eid, palästinensischer Menschenrechtsaktivist im Westjordanland, forderte: „Es ist an der Zeit, auf die Menschen im Gazastreifen zu hören anstatt auf die Terroristen, die deren Leben kontrollieren. Die anhaltenden Proteste der Menschen gegen die Hamas sind erst der Anfang. Sie sind sich sehr wohl bewusst, dass nicht nur die entführten Israelis, sondern die gesamte Bevölkerung des Gazastreifens von der Terrororganisation als Geiseln benutzt werden. Es ist an der Zeit, auf diese authentischen Stimmen zu hören und die Menschen zu befreien, indem die Hamas endgültig zerschlagen wird.“ (Alexander Gruber übersetzte die Texte, die mena-watch vom Jewish News Syndicate übernommen hatte.)

In der ZEIT berichtete am 18. April 2025 Yassin Musharbash: „Ich will dem Monster nicht noch einmal begegnen.“ Er zitiert im Titel eine WhatsAPP von Mohamed AlBorno, einer der Organisatoren der Proteste gegen die Hamas: „Das Ziel bestand darin, den Krieg zu beenden und dass Zivilisten als menschliche Schutzschilde benutzt werden, dass Flüchtlingsunterkünfte und Krankenhäuser für militärische Operationen genutzt werden, was Israel einen Vorwand liefert, Zivilisten zu attackieren. Die Hamas stiehlt Hilfsgüter, verkauft sie und nutzt den Krieg, um zu foltern, zu töten und ihre Gegner zu misshandeln.“ Er widersprach einer Behauptung der Hamas auf Al-Dschasira, die Palästinenser wären bereit, das Leben ihrer Kinder im Krieg gegen Israel zu opfern: „Das ist etwas, was wir vollständig zurückweisen. Wir sind Menschen. Wir wollen leben. Wir wollen nicht für die Hamas sterben.“ Mohamed beschreibt, wie er bei Protesten im Jahr 2017 von der Hamas gefoltert wurde und dass er wieder auf der „roten Liste“ der Hamas stehe. Dies bedeute Hinrichtung oder zumindest Brechen der Beine.

Mohammed Altlooli informierte am 30. April 2025 auf der Plattform mena-watch über weitere Demonstrationen am 27. April 2025 in Beit Lahia im Norden des Gaza-Streifens. Diesmal demonstrierten Hunderte von Frauen und Kindern. Die Hamas versuchte die Demonstrierenden einzuschüchtern, die Demonstration verlief jedoch friedlich. Der Beitrag zeigt auch Bilder und Videos von den Demonstrationen. Am 21. Mai 2025 berichtete Mohammed Altlooli auf mena-watch erneut: „Gaza wurde gekidnappt, die Jugend ist die Alternative zur Hamas“. Er sprach mit Mohammed Sawalmeh, einer prominenten Stimme der Opposition gegen die Hamas: „Meine Opposition begann, als ich erkannte, dass sich hinter der ‚Widerstandsrhetorik‘ der Hamas ein autoritäres und repressives Projekt verbirgt, das keine anderen Stimmen duldet. Ich stellte fest, dass Andersdenkende ausgeschlossen werden und die Menschen als Schutzschilde benutzt werden und keine Priorität haben.“ Er bestätigte Berichte, dass die Hamas Nahrung und Medikamente systematisch verknappe, und alle, die sie kritisieren, bedrohe. Mohammed Altlooli berichtete am 3. Juni 2025, dass die Hamas an den Verteilungsstellen Zivilist:innen beschieße. „Ein junger Mann aus Khan Yunis erklärte: ‚Wir verlangen keine Wunder – lasst uns einfach die Hilfe in Ruhe annehmen. Die Hamas will uns durch Hunger kontrollieren.‘“

Wie erfolgversprechend die Demonstrationen in Gaza und wie weit sie das tatsächliche Meinungsbild der palästinensischen Bevölkerung in Gaza widerspiegeln, vermag niemand einzuschätzen. Immerhin „bilden sich erste friedliche Bewegungen, die jedoch aufgrund der Angst noch begrenzt sind“, darunter viele junge Menschen in Gaza und in der Diaspora.

Die Frage ist aber mehr als berechtigt, wann der Westen diesen palästinensischen Widerstand gegen die Hamas ebenso laut unterstützt wie er die Lage der palästinensischen Zivilbevölkerung in Gaza (und in der Westbank) anprangert. Von den angeblich „propalästinensischen“ Demonstrierenden ist da wohl nichts zu erwarten, ganz in der Tradition eines Dieter Kunzelmann und seiner Kolleg:innen der 1968er Zeit. Izzy Salant konstatiert auf mena-Watch (ebenfalls vom Jews News Syndicate übernommen und übersetzt): „Das lautstarke Schweigen der Palästina-Solidarität“. Dies belege, dass es den sogenannten pro-palästinensischen Protesten in Europa, in den USA und anderswo nicht um die Menschen in Palästina gehe, sondern nur um anti-israelische Propaganda. Er zitiert den aus Gaza stammenden, in Syracuse (NY) lebenden Dichter Mosab Abu Toha: „Die meisten Menschen solidarisieren sich mit Gaza und nicht mit den Menschen im Gazastreifen.“ Am 19. April 2025 gab es eine erste Solidaritätsdemonstration in Stuttgart, organisiert vom Gaza Youth Movement, allerdings leider mit geringer Beteiligung, weil die Hamas auch in Deutschland Menschen bedroht, die sich gegen sie stellen. Thomas von der Osten-Sacken berichtete auf jungle-blog und mena-watch.

Wer auf dem Laufenden bleiben will, schaue regelmäßig in die jeden Donnerstag erscheinenden Informationen der Plattform mena-watch. Nicht nur Mohammed Altlooli berichtet dort regelmäßig.

Und die Geiseln?

Sie spielten und spielen in Deutschland kaum eine Rolle: Nicht einmal diejenigen, die die deutsche Staatsangehörigkeit haben. In Israel erinnert die Zivilgesellschaft täglich an die Geiseln, auch in den jüdischen Gemeinden in Deutschland geschieht dies. Vor den Synagogen sehen wir die Bilder der noch nicht befreiten Geiseln, natürlich mit Polizeischutz. Über ein Beispiel für das Engagement in Israel für die Geiseln berichtete  Amelie Botbol auf mena-watch (eine Übernahme vom Jewish News Syndicate). Der Pianist Alon Ohel ist nach wie vor in der Gewalt der Hamas. Seine Mutter Idit Ohel setzt sich weltweit für seine Befreiung ein. In einer Aktion wurden 50 gelbe Klaviere, davon 34 in Israel, aufgestellt: „Alon, du bist nicht allein.“ So war auf den Klavieren zu lesen. Seine Verletzungen – so berichteten inzwischen befreite Geiseln – sind lebensgefährlich: „Er wird bis heute unter schlimmsten Bedingungen festgehalten. Er wurde geschlagen, ist mit Ketten an den Beinen fixiert und kann sich kaum bewegen. Er wird ausgehungert. Er schläft auf dem Boden und kennt den Unterschied zwischen Tag und Nacht nicht. Seine Entführer machen das Licht nicht aus, weil sie ihn foltern wollen.“

Was bleibt? Der Appell muss noch viel lauter werden! Bring them home now! All of them! Und nicht zuletzt mein Appell an alle, die es mit dem liberalen und demokratischen Rechtsstaat ernst meinen: Unterstützt die demokratischen Kräfte in Israel, in Gaza und in den palästinensischen Autonomiegebieten, nicht zuletzt im Iran! Und wenn wir debattieren, tun wir das am besten im Geiste der von Leonard Cohen bezwungenen Zweifel und der von Bernd Ulrich empfohlenen „Demut“.

Norbert Reichel, Bonn

(Anmerkungen: Erstveröffentlichung im Juni 2025, Interzugriffe zuletzt am 18. Juni 2025. Das Titelbild zeigt die Mahnwache der Omas gegen Rechts in Hannover am 20. Februar 2025 anlässlich des Gedenkens an Oded Lifschitz, Shani, Ariel und Kfir Bibas. Foto: Bernd Schwabe. Wikimedia Commons, Creative Commons Attribution Share Alike 4.0.)