Wider den Diskurs der Negativität
Tocqueville, die Thermodynamik und das Drei-Körperproblem
Seit einiger Zeit erleben wir, dass so manche Politik nach der Devise „Haltet den Dieb“ betreiben und kommentieren. Aber wer ist der „Dieb“? Urban Priol karikierte dies in seinem Jahresrückblick 2023 mit dem schönen Titel „Tilt“: der Habeck ist an allem schuld, der war das. Bernd Ulrich hatte in der ZEIT eine andere Antwort und lobte die Grünen. Klar, die Grünen haben einiges falsch gemacht, sie hätten die drei Atomkraftwerke länger laufen lassen können, das Gebäudeenergiegesetz (vulgo: Heizungsgesetz) war handwerklicher Murks, aber sie stellen die richtigen Fragen, die andere nicht zu stellen wagen, geschweige denn zu beantworten geruhen. Bernd Ulrichs Fazit: „die Wut gegen die Partei ist eine Verdrängungsenergie. Man könnte auch sagen: Voodoo. Diese Puppe möchte man wirklich nicht sein.“
Same Procedure as Every Year?
Auch dem Bundeskanzler geht es nicht besser als seinem Vize. Sein Problem beschreibt Alan Posener in der ZEIT: „(…) wir haben einen Kanzler, der Angst vor der eigenen Courage hat; der gelernt hat, dass man dem Volk nichts zumuten darf, dass Ruhe die erste Politikpflicht ist.“ Hier ging es konkret um die Eindämmung der russländischen Aggression gegen die Ukraine, die eine Aggression gegen das gesamte freie und demokratische Europa ist. Aber eine gemeinsame Sicherheitspolitik liegt in weiter Ferne, obwohl viele Bürger:innen weiter denken als manche Politiker:innen: „In einer Umfrage im Sommer 2022 sprachen sich 81 Prozent der Befragten für eine gemeinsame Verteidigungs- und Sicherheitspolitik der EU-Mitgliedstaaten aus. Präsident Emmanuel Macron fordert das schon lange. Die Antivisionärin Angela Merkel ließ ihn zappeln. Ihr Nachfolger verfolgt anscheinend die gleiche Linie. Und verpasst nicht nur eine historische Chance, sondern verrät die letzte, beste Hoffnung der Welt: das europäische Modell der Freiheit.“ Diese Analyse ließe sich auf manch andere Probleme übertragen: Klimaschutz, Landwirtschaft, Pflegenotstand. Immer wieder verkünden Umfragen, dass es Mehrheiten in der Bevölkerung gibt für mehr Klimaschutz, für mehr Tierwohl, für Ökolandbau, für gesundes Essen.
Aber die Zaghaftigkeit dieser und vorangegangener Bundesregierungen, die niemand besser verkörpert als der Bundeskanzler, ist ein wesentlicher Grund dafür, dass Kleinigkeiten wie die durchaus sinnvolle Streichung eines kleinen Steuervorteils zur Existenzbedrohung hochstilisiert werden können. Wie lautete noch ein Wahlkampfslogan der Grünen? „Bereit, weil ihr es seid“? Wie konnte so viel Bereitschaft zerstört werden oder gab es sie gar nicht? Wer aber glaubt, versprechen zu können, dass sich zur Bewältigung der anstehenden politischen Aufgaben für niemanden etwas ändern müsste, stiehlt sich aus der Verantwortung und sorgt dafür, dass Demagogie regiert, von A wie Aiwanger bis W wie Wagenknecht und Weidel. Erstaunlich ist allerdings auch, dass es CDU und CSU als Oppositionsparteien zu gelungen ist, dass sich kaum noch jemand daran erinnert, welche Partei in den 16 Jahren vor der „Ampel“ im Bundeskanzleramt, in Landwirtschafts- und Verkehrsministerium, lange Jahre auch im Wirtschafts- und Energieministerium regierte.
Die Correctiv-Recherche
Doch mit der Correctiv-Recherche über ein rechtsextremes Treffen änderte sich manches. Das Berliner Ensemble präsentierte eine szenische Lesung mit der Correctiv-Recherche (es beginnt bei Minute 17). Correctiv hat auch ein Making-Of seiner Recherche veröffentlicht. Fast alle Zeitungen berichteten, hier nur eine kleine Auswahl: die Süddeutsche Zeitung, die ZEIT, der Tagesspiegel und die taz. Der Tagesspiegel hat mit potenziell von den geplanten Deportationen Betroffenen gesprochen. Eine Unterschriftenliste von Campact mit der Forderung nach einem Parteiverbot genießt großen Zuspruch, eine weitere Liste fordert, dem thüringischen Parteivorsitzenden der AfD nach Art. 18 GG bestimmte Grundrechte, so die Wählbarkeit in ein politisches Amt, zu entziehen. Weitere Recherchen folg(t)en, so in ZEIT online zur Teilnahme des AfD-Bundesvorsitzenden an Treffen mit Rechtsextremen. Als Ausblick in ein Nachbarland sei erwähnt, dass die österreichische FPÖ die AfD auch bei ihren Ausweisungsplänen unterstützt. Cathrin Kahlweit berichtete.
Maria Mast sprach für die ZEIT mit dem Historiker Markus Roth. Markus Roth warnt angesichts der naheliegenden historischen Vergleiche davor zu glauben, allein durch eine historische Einordnung ließen sich Rechtsextremismus, Rassismus, Antisemitismus mit ihren Planungen einer „ethnischen Säuberung“ – so nennt Ronen Steinke in der Jüdischen Allgemeinen die Pläne treffend– erfolgreich bekämpfen. Nun sind die Positionen der Identitären Bewegung, anderer rechtsextremer Gruppen und mancher AfD-Politiker:innen durchaus bekannt. Volker Weiß beschrieb in der Süddeutschen Zeitung die Geschichte der rechtsextremen Sprache. Kaum lag der Correctiv-Bericht vor, wurde „Remigration“ von der Gesellschaft für deutsche Sprache zum Unwort des Jahres gewählt, vor „Sozialklimbim“ und „Heizungsstasi“.
Ist „Remigration“ – AfD-Programm? Alice Weidel behauptet nein, hat sogar ihren persönlichen Referenten, der an der Potsdamer Veranstaltung, über die Correctiv berichtet hatte, teilgenommen hatte, von seinen Aufgaben entbunden. Im AfD-Programm steht auch nichts dieser Art. Von manchen Aktiven der Partei hört man jedoch anderes: Die Brandenburger AfD-Landtagsfraktion stellte sich nach einem Bericht der ZEIT hinter die Inhalte des Treffens: „Die Deportationsforderung sei ‚kein Geheimplan, sondern ein Versprechen‘, sagte der Vorsitzende der AfD-Fraktion im Brandenburger Landtag, Hans-Christoph Berndt, laut Rundfunk Berlin-Brandenburg (RBB).“ Da schwadroniert schon jemand, man müsse das Straßenbild mit den vielen ausländischen Restaurants ändern. Es häufen sich Hinweise auf AfD-Vertreter:innen, die sich für Gewalt gegen Andersdenkende und von ihnen für Migrant:innen gehaltene Menschen aussprechen, sogar Tipps geben, wie sich Gewalt organisieren ließe oder – falls in Parlamenten vertreten – offensiv diejenigen unterstützen, die sich entsprechend äußeren, auch solche, die wegen solcher Äußerungen oder gar Taten vor Gericht stehen, so beispielsweise in Bayern oder in Berlin.
All dies passt zu dem, was der thüringische Landesvorsitzende der AfD, der nach einem Gerichtsurteil als „Faschist“ bezeichnet werden darf, schon mehrfach deutlich geschrieben und gesagt hat, zum Beispiel, dass man sich von Menschen, die nicht zu dem Deutschland passten, das die AfD sich vorstelle, „trennen“ müsse, und dass es bei einer „Remigration“ auch „unschöne Szenen“ geben werde. Spiritus Rector des Potsdamer Treffens war Martin Sellner, er forderte einen nordafrikanischen „Musterstaat“, wo alle hingebracht werden sollten – die Rede war von zwei Millionen Menschen –, die „remigrieren“ müssten, einschließlich derjenigen, die Migrant:innen unterstützen, eine Art erweiterter Madagaskar-Plan der Nazis. Für die Umsetzung solle eine Expertenkommission gegründet werden, zu der prominent Hans-Georg Maaßen gehören solle.
Es geht ums Ganze!
Das Problem liegt jedoch – und damit bin ich wieder bei dem zu Beginn zitierten Kommentar von Bernd Ulrich – auch noch woanders. Viele Menschen bezweifeln die Steuerungsfähigkeit der Regierungen in Bund und Ländern, sie glauben aber an eine Macht, die alles regeln könne. Der Historiker Martin Sabrow schrieb im Tagesspiegel, dass vielen nicht klar sei, wie Politik in einem freiheitlich-demokratischen Rechtsstaat funktioniere: „Nur Diktaturen können sich im Vollbesitz politischer Steuerungskräfte wähnen und beziehen daraus ihre Attraktivität, die freilich so rasch dahinschmelzen kann wie die der SED-Herrschaft in ihrer Handlungsohnmacht am Ende der 1980er Jahre. Die mit den Namen deutscher Bundeskanzler verbundenen Leistungen hingegen stellten politische Aushandlungsprozesse dar, die erst im Nachhinein den Eindruck unbeirrter Durchsetzungskraft vermitteln, tatsächlich aber nur in langwierigen Auseinandersetzungen realisiert werden konnten.“
Ich erlaube mir eine Parallele aus der Physik und eine weitere aus der Frühzeit der politischen Wissenschaften als diese noch nicht so bezeichnet wurden. Der zweite Satz der Thermodynamik besagt, dass sich im Grunde alles in Richtung von Unordnung bewege. Chaos ist auch das Markenzeichen des Dreikörperproblems. Lassen sich bei zwei Himmelskörpern die Bahnen dieser Körper noch berechnen, ließen, ist dies bei drei Himmelskörpern nicht mehr den Fall. Der chinesische Science-Fiction-Autor Cixin Liu hat dies in seinem Roman „Die drei Sonnen“ auf die Beziehung der Erdenmenschen zu außerirdischen Zivilisationen bezogen. Manchmal wirkt es in der Tat so, als handele es sich bei der „Ampel“ (drei Körper!) um sich zum ersten Mal begegnende Außerirdische. „Mars attacks“?
Aber bei allen Analogien zur Physik sollte die Frage aus historisch-politischer Sicht vielleicht anders formuliert werden. Es geht letztlich darum, wer was warum als Unordnung und was als Ordnung empfindet. Hier kommt das Tocqueville-Paradox ins Spiel. Erstaunlicherweise werden Menschen, wenn sie durch die Einführung der Demokratie mehr Mitwirkungsrechte erhalten und wenn ihr Wohlstand steigt, nicht zufriedener. Im Gegenteil: sie werden unzufriedener und kritischer gegenüber dem Jetzt und machen die Regierungen für alles, was ihnen als Grund der Unzufriedenheit gelten mag, verantwortlich.
Einen aktuellen Beleg für diese These bietet eine in ZEIT Online veröffentlichte Recherche von Tilman Steffen, der eine bayerische und einen thüringische Gemeinde besuchte. Römhild in Thüringen ist relativ wohlhabend, dem Ortskern „sieht man seine Fördermillionen“ an, die örtlichen Steuereinnahmen steigen. Ganz anders im fränkischen Hochheim, einem Ort, den man tatsächlich als „abgehängt“ bezeichnen könnte, wenn man diesen Begriff überhaupt verwenden möchte. Die These, dass die AfD von Menschen gewählt würde, die nur schlecht über die Runden kommen, ist wohl nicht haltbar. Stattdessen erleben wir ein Lehrbeispiel für das Tocqueville-Paradox: Mit dem Erfolg und der Verbesserung der Lebenslage verstärkt sich die Unzufriedenheit, weil im Zuge des Aufstiegs neue Abstiegsängste entstehen. Möglicherweise hat dies aber auch etwas damit zu tun, dass die demokratischen Parteien auf der bayerischen Seite eine andere Präsenz zeigen als auf der thüringischen? So kann der Eindruck entstehen, die AfD hätte Lösungen für diverse Probleme, auch wenn – so in der Reportage von Tilman Steffen zu lesen – es denen, die sie wählen wollen, schwerfällt, welche zu nennen. Die Probleme werden in beiden Gemeinden durchaus ähnlich gesehen, aber die Schlussfolgerungen sind andere, wie sich in Wahlentscheidungen zeige. Das Parteiprogramm der AfD, das extrem neoliberale und rassistische Elemente miteinander verbindet, durchaus vergleichbar zur österreichischen FPÖ, scheint keine Rolle zu spielen. Es dürfte auch kaum bekannt sein.
Olaf Scholz und Friedrich Merz bilden eine neue Variante der viel geschmähten GroKo. Sie verharmlosen das Problem. Der Bundeskanzler argumentiert gerne, dass die AfD mit ihren Positionen den „Wohlstand“ gefährde. Damit geht er dem Tocqueville-Paradox in die Falle. Wohlstand könnte es auch ohne Demokratie geben, obwohl sehr unwahrscheinlich ist, dass eine Umsetzung des AfD-Programms „Wohlstand“ sichert. Eher dürfte das Gegenteil der Fall sein. Aber ist es wirklich nur die Frage der Sicherung von „Wohlstand“? Auch der Vorsitzende der CDU scheint noch nicht so ganz verstanden zu haben, was sich da tut. Während sein Parteikollege Hendrik Wüst die AfD eine „Nazi-Partei“ nannte, bezeichnete er die AfD sinngemäß als Indikator der Probleme des Landes, die zu lösen wären, mit dem unausgesprochenen Subtext, dass natürlich nur er derjenige wäre, der dazu in der Lage wäre. Das Magazin „Quer durch die Woche“ mit Christoph Süß bot am 17. Januar 2024 in einer sehenswerten Dokumentation unter anderem ein Gespräch mit Gerhart R. Baum. Es geht ums Ganze!
Lob des demokratischen Streits
Vor allem aber die zahlreichen Demonstrationen machen Mut. Im Internet gibt es inzwischen eine Liste von Demonstrationen gegen die AfD, sodass man erfährt, wo in der Nähe eine Demonstration stattfindet. Geschieht jetzt das, was der Ostbeauftragte der Bundesregierung Carsten Schneider schon am 2. Januar 2024 in der Süddeutschen Zeitung forderte? „Die stille Mitte muss sich erheben, um diese Demokratie zu erhalten.“ Wir erinnern uns an Gerhard Schröders Appell nach dem Anschlag auf die Düsseldorfer Synagoge vom 2. Oktober 2000? An den von ihm am 4. Oktober 2000 geforderten „Aufstand der Anständigen“? Auf jeden Fall hat Martin Roth recht: „Die große Frage ist, ob die Empörung nachhaltig sein oder verfliegen wird.“
Ich erlaube mir zu ergänzen: es geht auch darum, welche Empörung nachhaltiger sein wird? Erleben wir mit den Demonstrationen gegen die Anti-Demokrat:innen der AfD eine Empörung, wie sie in Israel bis zum 7. Oktober 2023 jeden Samstag gegen die drohende Abschaffung von Demokratie und Gewaltenteilung zu sehen war? Oder wirkt das Tocqueville-Paradox so stark, dass sich der schon so lange gepflegte Diskurs der Negativität verstetigt und uns dem Abgrund näherbringt? Jeden Tag einen Schritt weiter? Es gibt Alternativen! Demokratische Alternativen! Michel Friedman brachte sie in einem Buchtitel mit zwei Worten auf den Punkt: „Streiten? Unbedingt!“ (Berlin, Dudenverlag, 2021). Der letzte Satz dieses Buches ist Programm: „Nie schweigen“.
Norbert Reichel, Bonn
(Anmerkungen: Erstveröffentlichung im Januar 2024, Internetzugriffe zuletzt am 21. Januar 2024.)