Wie Erdoğan die Wahlen gewonnen hat
Und warum die Opposition scheitern musste
Wer hätte damit gerechnet? Abermals ist dem sieggewohnten türkischen Staatspräsidenten Recep Tayyip Erdoğan ein Wahlerfolg gelungen. Und das zwei Mal: Während im ersten Wahlgang seine Partei AKP mit den mit ihr koalierenden Kleinstparteien eine Parlamentsmehrheit erobert hat, gewann Erdoğan am 28. Mai 2023 in der Stichwahl gegen seinen Kontrahenten Kemal Kılıçdaroğlu mit einem deutlichen Vorsprung von vier Prozentpunkten. Wurde vor den Wahlen noch zumeist davon ausgegangen, es würde die schwerste Wahl in seiner politischen Karriere werden, so zeigt das Ergebnis: Leicht war es zwar nicht, aber so schwierig wiederum auch nicht. Trotz aller Unkenrufe bleiben Erdoğan und seine AKP an der Macht. Dies lag allerdings nicht daran, dass deren Politik auf besonders große Zustimmung gestoßen wäre. Vielmehr überzeugte die türkische Opposition eine Mehrheit nicht und die Wähler entschieden sich deshalb mehrheitlich für das Bekannte und mehr oder minder Bewährte. Nach den Wahlen zeigt sich aber bereits jetzt, dass die AKP und Erdoğan nicht einfach so weitermachen können wie bisher.
Doch wie gelang dieser Wahlsieg, mit dem viele nicht gerechnet hatten? Und wie geht es in der Türkei nach den Wahlen weiter? Eine Erklärung in zwölf Thesen.
1. Erdoğan und die AKP haben die Wahlen trotz ausbleibender neuer Visionen gewonnen
Zu den Wahlverlierern gehören eindeutig zahlreiche Meinungsforschungsinstitute. So war im März noch die Rede davon, die türkische Opposition führe deutlich mit teils über zehn Prozentpunkten. Solche Umfragen führten allerdings zur Fehleinschätzung im Oppositionslager, wo verfrüht Euphorie ausbrach. Warum sich anstrengen, wenn die Umfragen einen deutlichen Sieg prognostizieren?
Dieser Umstand deckte sich auch mit den seltsamen Zügen innerhalb des Oppositionsbündnisses: Monatelang bereitete man sich auf einen Regierungswechsel vor und erarbeitete statt einer Strategie, wie die Wahlen gewonnen werden könnten, ein Regierungsprogramm. Statt der Bevölkerung im Wahlkampf vorzustellen, was konkret sich bei einem Regierungswechsel ändern würde, behalf die Opposition sich lediglich mit Parolen und vagen Andeutungen. So gelang ihr nicht wirklich, das eigene Programm offenzulegen und sich als eine wählbare Alternative darzustellen.
Der AKP und Erdoğan kam schließlich die Selbstbeschäftigung des Oppositionsbündnisses mit der Frage entgegen, wer nach dem erwarteten Wahlsieg welches Amt übernehmen sollte. Die AKP mag arm an Visionen gewesen sein, aber bei der Opposition sah es kaum besser aus. Somit konnte aus dem Regierungslager die effektive Propaganda gegen die Opposition aufgefahren werden, diese sei unfähig, das Land zu regieren.
2. Die Opposition war zwar geeint, doch das hat nicht ausgereicht
Obwohl das Oppositionsbündnis mit einer langen Vorlaufzeit in den Wahlkampf zog, als „Bündnis der Nation“ auftrat und sich geeint darstellte, blieb bis Anfang März unklar, wer überhaupt dessen Präsidentschaftskandidat werden soll. Insgesamt achtzehn Arbeitstreffen reichten nicht aus, um die wichtigste Frage zu klären.
So waren in der engeren Auswahl zunächst die populäreren Oberbürgermeister Ekrem Imamoğlu (Istanbul) und Mansur Yavaş (Ankara). Beide Kandidaten schnitten in Umfragen besser ab als der schließlich zum Kandidaten ernannte Vorsitzende der größten Oppositionspartei CHP, Kemal Kılıçdaroğlu. Eine fatale Entscheidung Es gelang Kılıçdaroğlu trotz all seiner Mühen nicht wirklich, neue Wählergruppen zu erreichen. Mit seinem Gestus, alle Wählermilieus einzuschließen – von kemalistischen bis zu islamistischen Wählern –, blieb er hinter allen Erwartungen zurück.
So entsprechen die in der Stichwahl errungenen 48 Prozent in Summe exakt den Stimmenanteilen der Opposition bei den Wahlen 2018 – mit dem Unterschied, dass die Opposition damals mit drei Kandidaten ins Rennen zog und nicht, wie dieses Mal, geeint auftrat. Intransparenz, was das eigene Programm betrifft, und ein unpopulärer Kandidat machten es dem Oppositionsbündnis nicht einfach, die Wahlen zu gewinnen. Allein darauf zu hoffen, es würden sich schon Wechselwähler finden, die aufgrund der ökonomischen Krise und des schweren Erdbebens im Februar der AKP und Erdoğan die rote Karte zeigen werden, war naiv. Und naiv war es auch zu glauben, Erdoğan könne am Wahltag mit fast jedem Kandidaten besiegt werden.
3. Die kurdische HDP wurde nicht zur Königsmacherin
Alle Hoffnung auf einen Sieg legte die Opposition schließlich auf die pro-kurdische HDP, die jedoch aufgrund eines Parteiverbotsverfahrens als Grüne Linkspartei (YSP) antrat. Sie verzichtete zugunsten des Oppositionskandidaten Kılıçdaroğlu auf einen eigenen Kandidaten und trat mit einem eigenen Wahlbündnis an. Zwar ließ diese Entscheidung die Erwartung aufkeimen, die HDP würde als Königsmacherin die Wahlen entscheiden, doch die Propaganda von Erdoğan ließ die Gelegenheit nicht ungenutzt, die Opposition in die Nähe von Terroristen zu rücken.
Diese Schmähung sprach nicht nur die weit verbreiteten nationalistischen Sentimentalitäten an, sondern zielte unmittelbar als Appell an (vermeintliche) Sicherheitsgefühle. Irrationale Ängste, das Land werde gespalten oder der Führer der PKK, Abdullah Öcalan, freigelassen, wurden von der AKP gezielt geschürt, und so wurden nicht etwa die Wähler der pro-kurdischen HDP, sondern jene der rechtsextremen Parteien zu den Königsmachern. Zur Wahlschlappe trug darüber hinaus auch bei, dass im mehrheitlich von Kurden bewohnten Südosten der Türkei die Wahlbeteiligung deutlich geringer war als im Landesdurchschnitt.
4. Ehemalige AKP-Wähler stimmten für kleinere Parteien
Jene Wähler, die in Umfragen angaben, bei diesen Wahlen nicht mehr die AKP, sondern für eine andere Partei votieren zu wollen – ihr Anteil wurde auf knapp zehn Prozent geschätzt –, wechselten nicht zu den oppositionellen, sondern zu jenen Kleinstparteien, die mit der AKP koalieren.
Dies bestätigt der Wahlausgang: Die AKP hat deutlich verloren. Kam sie im Jahr 2018 noch auf 42 Prozent der Stimmen, so erreichte sie jetzt nur ein Ergebnis von 35 Prozent – das schlechteste Resultat seit 2002. Die verlorenen Wähler wechselten zu den Kleinstparteien wie der islamistische Yeniden Refah Partisi, der kurdisch-islamistische HÜDAPAR oder der national-faschistische BBP.
Die Kleinstparteien, die sich im Lager der Opposition um die CHP versammelten, gingen im Gegensatz dazu überwiegend leer aus. Sie konnten keine Stimmenzuwächse verzeichnen. Dabei traten insbesondere die von der AKP sich abgespaltenen Parteien DEVA um den ehemaligen Außen- und Wirtschaftsminister Ali Babacan und Gelecek Partisi um den ehemaligen Ministerpräsidenten Ahmet Davutoğlu mit der Erwartung an, sie wären für Wechselwähler attraktiv. Das Gegenteil traf ein: Beide Parteien traten nicht mit ihrem eigenen Parteilogo an, sondern kandidierten zum Missfallen traditioneller CHP-Wähler über die Wahllisten der CHP.
5. Die ökonomische Krise hatte wenige Auswirkungen auf das Wahlverhalten
Die Wahlen fanden unter dem Eindruck verschiedener Krisen statt, die das Land politisch wie ökonomisch lähmen. Seit mehreren Jahren kann sich die Wirtschaft nicht erholen, hohe Inflationsraten, die Abwertung der Landeswährung Lira und wachsende Arbeitslosigkeit bringen die ökonomischen Aktivitäten nahezu zum Stillstand. Das weckte die Erwartung einer Wechselstimmung.
Obwohl in Umfragen fast 75 Prozent der Befragten angaben, die aktuelle Wirtschaftskrise gehöre zu den größten Problemen des Landes, wirkte sich diese auf das Wahlergebnis nicht aus. Die Unzufriedenheit mit der Wirtschaftspolitik der Regierung führte nicht dazu, am Wahltag mit ihr abzurechnen.
Wahltagbefragungen ergaben stattdessen, dass viele der Unzufriedenen offenbar glaubten, eine Krisenlösung könne nur mit der AKP und mit Erdoğan gelingen. Anders gesagt, sprachen viele Wähler der Opposition die Lösungskompetenz ab. Das spiegelte sich dann in den Wahlergebnissen: Zwar verlor die AKP insbesondere in den von den Krisen am stärksten betroffenen Großstädten, insgesamt konnte sich Erdoğan aber halten. Er genießt offensichtlich weiterhin das Vertrauen vieler Bürger, zur Lösung der Krise beitragen zu können.
Ein seltsames Paradox: Ausgerechnet den Verantwortlichen wurde zugetraut, die maßgeblich von ihr verursachte Krise lösen zu können. Der Vertrauensvorschuss gilt verstärkt in den von den beiden Erdbeben Anfang Februar betroffenen Gebieten im Südosten der Türkei. In diesen Provinzen konnten sowohl die AKP als auch Erdoğan mit deutlichem Vorsprung gewinnen.
6. Unter autokratischer Herrschaft ist der Wahlgang für die Opposition ein Kraftakt gewesen, dem sie nicht gewachsen war
Es ist eine Banalität, daran zu erinnern, dass die Türkei heute zunehmend autokratischer geworden ist und der Wahlwettbewerb schließlich nicht fair sein kann, wenn dem Amtsinhaber alle Herrschaftspraktiken einschließlich aller Staatsressourcen zur Verfügung stehen.
Der Opposition ist seit Jahren bekannt, dass nahezu 90 Prozent der Medien staatsnahe sind und die AKP nach über zwei Jahrzehnten an der Macht gut organisiert in den Wahlkampf zieht. Die Opposition hat offensichtlich aus den Wahlschlappen der letzten Jahre keine Lehren gezogen und hoffte, eine freie und faire Wahl sei in Autokratien möglich. Die Probleme des Landes zu thematisieren und einen Wahlkampf mit wirtschafts- und sozialpolitischen Themen zu führen war zwar richtig, gegen die bestehende irrationale Führerliebe der Türken konnte sie allerdings mit Argumenten nichts ausrichten.
Diese Führerliebe bleibt aber zuallererst der historisch älteren Staatsloyalität treu, die seit der Republikgründung tradiert wird. Zu den Leitideologien der CHP gehört der Etatismus. Erdoğan nutzt diese Loyalität, er ist inzwischen der Staat. Und ihren Staat sowie ihren Führer lieben sie im Milieu der Erdoğan-Wähler über alles. Das dürfte auch einer der Gründe sein, wieso ausgerechnet nach zwei schweren Erdbeben das Vertrauen in den Staat nicht wirklich erschüttert wurde. Er soll am Ende den Schaden, den er verursacht hat, wieder richten, so der Wunschglaube.
7. Die Opposition dominiert in den Großstädten und Industriezentren, ausschlaggebend war aber das Hinterland
Im Wahlverhalten zeigte sich eine deutliche Diskrepanz zwischen urbanen und provinziellen Wählern. Während die AKP in fast allen 23 Großstädten bis zu zweistellige Verluste einstecken musste (wie etwa in Kayseri und Konya) und die Opposition in den Metropolen wie Istanbul und Ankara nach wie vor führt, liegen die Hochburgen der AKP weiterhin in den Provinzen Zentralanatoliens und der Schwarzmeerregion. In diesen Gebieten, in denen rund 30 Prozent der Bevölkerung leben, hat die AKP ihre Wählerschaft konsolidieren können, die zudem opferbereiter denn je ihre Stimme der Regierung gaben.
Für die Wahlarithmetik bedeutete dies etwas Neues: Wahlentscheidend scheint nun das Hinterland, also Dörfer und klein- und mittelstädtische Gebiete, geworden zu sein, obgleich das ökonomische Elend in den Großstädten mit hohen Mieten, steigender Jugendarbeitslosigkeit und deutlich höheren Lebenshaltungskosten viel stärker zu spüren ist als in den Provinzen.
In den kleineren Städten ist der Anteil an Wohnungseigentümern größer, dadurch entfällt der Mietdruck. Die Lebenshaltungskosten sind dort vergleichsweise geringer, und im Ernstfall können sich die Provinzbewohner in die Dörfer zurückziehen und von Viehzucht und Ackerbau leben. Dass allerdings dieses gewissermaßen „städtische Bauernmilieu“, das zumeist auch als Großfamilie gemeinschaftlich wirtschaftet, um die Lebenshaltungskosten aufzuteilen, wahlentscheidend geworden ist und die Provinzbewohner mit ihrem Wahlverhalten zur Beibehaltung des Status quo beigetragen haben, wirft Fragen auf.
Der identitär gegen die Opposition geführte Wahlkampf, der Opferbereitschaft und Loyalität in den Vordergrund stellte, trug insbesondere in der Provinz Früchte, obwohl diese im Gegensatz zu den Industriezentren im Westen der Türkei kaum zum Reichtum des Landes beiträgt – sehr zum Unbehagen jener Großstadtwähler, welche die Regierungspolitik mehrheitlich nicht befürworten.
8. Die AKP wird sich neu erfinden müssen
Auf Dauer ist diese Diskrepanz nicht tragbar, zumal die Mittelschicht dahinschmilzt. Der AKP ist es in den vergangenen zwei Jahrzehnten gelungen, eine neue islamisch-konservative Mittelschicht als die neue Elite des Staates zu etablieren und zu seinem Rückgrat zu machen. Dieses Milieu setzt sich aus ehemals aus den Provinzen und Dörfern in die Großstädte gezogenen Aufsteigern zusammen, die in der Vergangenheit die AKP unterstützten, weil sie ihm zu seinem wirtschaftlichen Aufstieg verholfen hat. Diese neue Mittelschicht in den Großstädten ist stark von der Wirtschaftskrise betroffen, was zu den Verlusten der AKP in den Großstädten beigetragen hat.
Will die AKP weiterhin als eine „Partei des ganzen Volkes“ gelten und unterschiedliche Wählermilieus ansprechen, wird sie gegen das fast fatalistische Hinnehmen der Krise der letzten Jahre etwas unternehmen müssen. Dabei war gerade sie es, die mit ihrer Wirtschaftspolitik dazu beigetragen hatte, eine Krisenbewältigung zu verunmöglichen und stattdessen eine Lähmung wirtschaftlicher Aktivitäten bewirkte.
Die AKP ist im Zuge dessen als Partei fast bedeutungslos geworden und wird nur noch von der Person Erdoğan getragen, dem Frontmann, der seine Partei im Alleingang zum Wahlerfolg trägt und vom Wähler Loyalität und eine fragwürdige Dankbarkeit einfordert.
9. Im Jahr 2024 soll Istanbul zurückerobert werden
Wer Istanbul gewinnt, der gewinnt die Türkei. Dieser Politspruch geht auf Erdoğan zurück, der 1994 überraschend Oberbürgermeister in Istanbul wurde und von dort aus den Weg zum Minister- und Staatspräsidenten angetreten hat. Istanbul ist nicht irgendeine Großstadt, sondern die tragende Wirtschaftsmetropole der Türkei. Fast zwei Drittel des türkischen Bruttoinlandsprodukts werden im Großraum Istanbul erwirtschaftet.
Der Verlust Istanbuls an die Opposition bei den Wahlen 2018 war für Erdoğan und die AKP ein schwerer Verlust – nicht zuletzt, weil das von Erdoğan einst höchstpersönlich initiierte Patronagesystem, in dem die AKP und nahestehende Unternehmen kooperierten, um bei Ausschreibungen lukrative Projekte abzustauben, plötzlich gewissermaßen austrocknete.
Entsprechend lautet das Ziel des Regierungslagers für die anstehenden Oberbürgermeisterwahlen 2024 ganz klar die Rückeroberung Istanbuls. Erste Schritte wurden bereits im Dezember 2022 unternommen, als der amtierende Oberbürgermeister Ekrem Imamoğlu in erster Instanz zu einer Freiheitsstrafe und einem Politikverbot verurteilt wurde. Zwar zielte diese Strafe vor allem darauf ab, dem äußerst populären Bürgermeister die Kandidatur für das Amt des Staatspräsidenten zu versperren, aber für die AKP kann sich Imamoğlus Verurteilung auch bei der nächsten Bürgermeisterwahl als äußerst nützlich erweisen.
Viel kommt jetzt darauf an, ob das Berufungsgericht die Bestrafung von Imamoğlu bestätigt oder revidiert. Sollte das Urteil bestätigt werden, müsste Imamoğlu gezwungenermaßen vom Amt des Oberbürgermeisters zurücktreten und die AKP könnte sich die Mühe ersparen, einen Kandidaten ausfindig machen zu müssen, der in einer normalen Wahl gegen Imamoğlu gewinnen könnte. Spannend wird darüber hinaus auch das Rennen um das Bürgermeisteramt in der Hauptstadt Ankara.
10. Die Opposition wird keine Chance haben, solange sie nicht aus dem Wahlverhalten Lehren zieht
Die Wahlniederlage kam für das Oppositionsbündnis unerwartet, das sich auf einen Regierungswechsel eingestellt hatte. Aktuell sieht es nicht danach aus, als hätte die Opposition einen Plan in der Schublade, auf den sie jetzt zurückgreifen könnte. Ein solcher hätte zum Beispiel sein können, dass nach der Niederlage die Verantwortlichen rasch zurücktreten und damit den Weg für einen neuen Oppositionsführer frei machen.
Nichts dergleichen ist geschehen: Trotz der Niederlage hält der unterlegene Kandidat Kılıçdaroğlu am Vorsitz der größten Oppositionspartei CHP fest, und das, obwohl er in den vergangenen Jahren alle Wahlen verloren hat – dass er auch Erdogans Wunschkandidat gewesen ist, überrascht nicht. Vor seiner Kür zum Kandidaten der Opposition war monatelang darüber diskutiert worden, ob er denn wirklich der richtige sei. Insbesondere die mit der CHP zusammenarbeitende IYI-Partei um Parteichefin Meral Akşener zweifelte am Profil des Kandidaten. Eine seiner Schwächen offenbarte sich sodann bei den Wahlen: Für die türkisch-sunnitische Mehrheit ist ein alevitischer Kandidat offenbar nicht wählbar. Akşener hatte das im Vorhinein gesehen, doch die CHP-Führung ging fatalerweise davon aus, dass die Wirtschaftskrise und das schlechte Krisenmanagement nach den Erdbeben ausreichen würden, um die Regierung abzuwählen. Mitnichten – und nach erlittener Wahlniederlage verunmöglicht Kılıçdaroğlu seiner Partei mit seinem Ausharren als Oppositionschef den dringend gebotenen Neuanfang.
11. Ob Erdoğan nötige Reformen zulässt, bleibt offen
Auch Erdoğan weiß: das Wahlergebnis war knapp und keine deutliche Bestätigung seiner Politik. Entsprechend hat er bereits reagiert und personelle Änderungen in die Wege geleitet. Zwar wären diese sowieso vorgenommen worden – die AKP hält sich bei allen Personalbesetzungen an die Beschränkung der Amtszeit auf maximal drei Perioden –, doch es gab Überraschungen.
Bereits vor den Wahlen sickerte durch, dass Erdoğan mit dem ehemaligen Finanz- und Wirtschaftsminister Mehmet Şimşek Gespräche führe. Zwar sah es zunächst nicht danach aus, aber jetzt ist Şimşek doch als Minister zurückgekehrt, was hohe Erwartungen ausgelöst hat. Fraglich ist jedoch, ob er an bessere Zeiten anschließen kann, oder ob nicht die wirtschaftlichen Probleme doch eine Nummer zu groß sind. Zumal unklar ist, ob Erdoğan Şimşek überhaupt den Spielraum lässt, die nötigen Reformen in Angriff zu nehmen, also in wesentlichen Punkten die Politik zu revidieren, an der Erdoğan lange Jahre festgehalten und damit die Krise massiv verschärft hat.
12. Ob die Opposition die Wahlen überhaupt gewinnen wollte, ist fraglich
Eine gewagte These. Hypothetisch allerdings einmal angenommen, die Opposition hätte die Wahlen gewonnen: Welches Erbe hätte sie nach 21 Jahren AKP-Herrschaft jetzt übernommen? Ein gespaltenes Land, Dauerkrisen, schwerste Eingriffe in Freiheitsrechte, eine ausgehebelte Gewaltenteilung, dysfunktionale Institutionen, zerstörte Provinzen in den Erdbebengebieten, Wiederaufbau ungewiss. Dazu schwindende Devisenreserven der Zentralbank, Abwertung der Landeswährung, hohe Inflation und Arbeitslosigkeit.
Dieses Erbe wiegt schwer und es bräuchte Jahre, um all die verschleppten und angehäuften Probleme zu lösen. In wenigen Monaten stehen Provinzwahlen an, viele bedeutende Metropolen sind in der Hand der Opposition. Gegen wen würde sich der Zorn richten, wäre die Opposition in der Rolle der Regierung in harte Austeritätspolitik übergegangen?
Erdoğans Zukunft wird sich in den nächsten Monaten und Jahren daran zu messen haben, ob er seine Wahlversprechen einlösen können wird, das Land wieder vorwärts zu bringen. Vieles spricht dagegen.
Murat Yörük
Der Autor, geboren 1988, studierte Psychologie, Soziologie und Philosophie, ist freier Autor und schreibt überwiegend zur aktuellen Entwicklung in der Türkei und zur türkischen Außenpolitik.
(Anmerkungen: Erstveröffentlichung erfolgte in zwei Teilen auf der Plattform mena-watch. Wir danken dem Autor und Florian Markl, dem Geschäftsführer von mena-watch für die Überlassung der beiden Texte, die wir hier zu einem Text zusammengefügt haben. Erstveröffentlichung im Demokratischen Salon im Juli 2023, Internetzugriffe zuletzt am 22. Juni 2023. Alle Fotografien einschließlich des Titelbilds: Christopher Reichel.)