„Wir schaffen das“

Persönliche Genese eines einfachen Satzes

Drei Worte, die es in sich haben. Sie sind nicht neu, gehören zum sprachlichen Alltag. Ihre Wirkung aber, in diesem weltpolitischen Zusammenhang und zu jenem Zeitpunkt, war enorm.

Als die Bundeskanzlerin die Kurzbotschaft in der Bundespressekonferenz am 31. August 2015 aussprach, wollte sie Mut machen und Kräfte mobilisieren; sie setzte auf das „Wir“, auf das Menschliche in Gesellschaft und Politik, und sie verwies auf all das, was „wir“ schon „geschafft“ haben. Die Reaktionen aus Gesellschaft und Politik, die in die publizierte Wahrnehmung katapultiert wurden, waren jedoch bei Weitem nicht alle positiv. Viele waren ablehnend bis geringschätzig. Die Stimmen derer, die sich mit der Botschaft solidarisierten, waren und wurden immer leiser und wenig medienträchtig.

Wer immer Angela Merkel inner- oder schwesterparteilich ohnehin an den Kragen wollte, interpretierte die drei Worte als Einladung an alle Geflüchteten und solche, die eine Flucht in Erwägung ziehen. Aus dem Oppositionslager tönten besserwissende Kommentare wie „naiv, falscher Zeitpunkt, falsches Signal, verängstigend, irritierend“. Wasser auf die Mühlen der Rechten und Verstärkung der Fremdenfeindlichkeit wurden bemüht, Hasskommentare ausgelöst, die Kanzler*innenfrage mokant gestellt und was nicht alles sonst noch.

Gewählt wird die Partei der Kanzlerin kaum wegen dieses Satzes, das ist richtig. Wer sich ermutigt von ihm angesprochen fühlt, ist als Mitglied der CDU/CSU vermutlich eher in der Minderheit, wer links davon seine politische Heimat hat oder fühlt, sieht sich vom Kanzlerinnenwort vielleicht unterstützt und bestätigt, aber wechselt deshalb nicht das Lager. Warum darf aber eine Kanzlerin nicht einen Satz zu den Deutschen sprechen, der weitreichender ist als eine Wahlparole für ihre Partei und langlebiger als eine Wahlperiode?

Was hätte sie denn sagen sollen? Die Umkehrung des Satzes, etwa: „Wir schaffen das nicht“? Denen, die sich gegen die Botschaft stellten, ging es nicht um die Frage, ob die Aufnahme der Geflüchteten zu schaffen sei. Sie wollten das nicht schaffen müssen. Die Geflüchteten sollten draußen bleiben, ihre Verfolgung und ihr Tod wurden dabei billigend weggeschwiegen, schlechthin ignoriert. Wortstark und laut war die Welle der Unmenschlichkeit, die sich gegenüber dem Kanzlerinnensatz aufbäumte und die suggerierte: Dieses „Wir“ sind nicht „wir“. Ohne uns, gegen uns.

Und jetzt, vier Jahre nach dem unvergessenen und vielzitierten Spruch? Die Zwischenbilanz zeigt: Ja, wir haben es geschafft. Insgesamt über eine Million Menschen wurde vorübergehend oder langfristig in Deutschland aufgenommen und gerettet, eine im Vergleich zu Zu- und Einwanderung vergangener Zeiten nach 1945 im Übrigen eher kleine Zahl. Eine riesige und in dieser Breite in der Bundesrepublik noch nie dagewesene Konjunktur des ehrenamtlichen Engagements hat Deutschland bewegt – und zwar über alle weltanschaulichen Unterschiede, über Alters- und Geschlechtergrenzen hinweg. Vor Ort, in den Kommunen, in Rathäusern, auf Marktplätzen, in überfüllten Unterkünften, in Turnhallen, in Ämtern und Behörden, vor Gerichten und Grenzanlagen war und ist sie unterwegs: Eine aktive Mehrheit der Deutschen, nicht laut, aber beharrlich, zuverlässig, manchmal penetrant und nörgelig, entschieden eintretend für all die humanen Werte, die der kleine Satz aufsaugen und bezeugen kann: Wir schaffen das. Sie schaffen das, sie machen das.

Die Bertelsmann-Stiftung (es ist schon eigenartig, wie die Stiftung eines auf Massenkonsum getrimmten Medienkonzerns zum sozialwissenschaftlichen Gewissen der Deutschen avanciert) hat mit dem Projekt „Ankommen in Deutschland“ (Ankommen im neuen Zuhause. Flüchtlingsintegration als Chance für weltoffene Kommunen, Gütersloh, Verlag Bertelsmann-Stiftung, 2019) Kommunen über ein Jahr lang aktiv bei der Integration durch eine intensive Prozessbegleitung unterstützt. Dabei wurde Kreativität und Intensität bei der Aufnahme und der Integration von Geflüchteten vor Ort gewichtet und dokumentiert. Erhoben wurden die Daten in armen und reichen, östlichen und westlichen, großen und kleinen Städten und Kreisen. Die Auswertung liegt jetzt vor und bestätigt, wie umfassend und vielfältig das Engagement mit Geflüchteten unsere Gesellschaft bereichert. Auf die Bilanz der organisierten Menschlichkeit kann Deutschland stolz sein und ist es doch zu wenig.

Ich bin froh, dabei zu sein und bei der Arbeit mit Geflüchteten mitzumachen. Dieses Land, das zwischen 1939 und 1945 mit systematischem Rassismus und bestorganisierter Massenvernichtung die Weltherrschaft erobern wollte, ist heute eines, in dem Menschen aus Diktaturen Zuflucht suchen. Gewiss, das ist auch ein Zeichen dafür, wieviel Ungerechtigkeit auf diesem Planeten von uns und anderen forciert und zugelassen wird, so dass die „Wahl“ des sicheren Zufluchtsortes immer auch eine Entscheidung aus der Not heraus ist. Aber trotzdem rangiert Deutschland mit seiner demokratischen Integrität neben anderen europäischen Ländern in der Perspektive der Flüchtenden vorn.

Ich muss hinzufügen, um eine Schieflage des Textes zu verhindern: Wie wir das schaffen in Deutschland, ist nicht nur glänzend. Die NSU-Morde, die Pegida, die AFD, das (nicht flächendeckende) Gefälle der Menschlichkeit, der Alltagsrassismus, die Kriminalisierung der Seenotrettung, das Verschließen der on Fluchtwegen, das Herausgerede auf eine „europäische Lösung“ und ihre gleichzeitige Verhinderung, teilweise tendenziöse Justiz und leider auch vorhandene Behördenwillkür sind da, regen auf, sind oftmals beängstigend stabil und sind die deutsche Kehrseite. Das Positive verdient aber alle Aufmerksamkeit in gleicher Weise, und ja: Wir schaffen das.

Ich habe Angela Merkel nicht gewählt. Außer bei Willy Brandt in den 1970ern mache ich mein Kreuz permanent bei den Grünen, manchmal die linke Faust in der Tasche. Aber die Kanzlerin hat mich hier und da erreicht, ganz unmittelbar. Das erste Mal passierte es wie ein Schauer, der nicht nach Willen oder Entscheidung fragt: 1992, deutscher Jugendhilfetag in Hamburg, Merkel war Jugend- und Frauenministerin. Ihr Bein war nach einem Bruch frisch gegipst, sie wurde durch die Ausstellungshallen geschoben, zeigte sich humpelnd auf der Bühne, sagte wenig, was sie sagte, war geschraubt, inhaltsarm und trotzdem richtig.

Die Ministerin mit Gipsbein glänzte nicht, auch nicht im Mitleid. Sie berührte – nicht nur mich. Und dann der Satz 2015. Ich weiß nicht, ob sie ihn heute bereut oder nicht. Er ist einer der besten politischen Sätze, die die Gegenwart hat.

Danke dafür, Frau Bundeskanzlerin Dr. Angela Merkel.

Markus Schnapka, Bornheim (Rhein-Sieg-Kreis)

(Anmerkungen: Erstveröffentlichung im September 2019. Der Autor ist Sozialarbeiter, Landesrat a.D., zuständig für das Landesjugendamt Rheinland, Sozialdezernent a.D. in Bornheim, Mitglied von Bündnis 90/Die Grünen und hat berufliche Erfahrungen auf Bundes-, Länder- und kommunaler Ebene. Freiberuflich arbeitet er für die Bertelsmann Stiftung, zuletzt bei der Evaluation des Projekts „Ankommen in Deutschland“.)