Zerrissen und verzweifelnd

Ein Gespräch mit Lamya Kaddor über ihre Reise nach Israel und Gaza

„Die gegenwärtige Krise in der Welt, im Nahen Osten oder in Israel / Palästina dreht sich nicht um die islamischen Werte und bestimmt auch nicht, wie einige Rassisten behaupten, um die arabische Mentalität. Es geht um den alten Kampf zwischen Fanatismus und Pragmatismus, zwischen Fanatismus und Pluralismus. Beim 11. September ging es nicht einmal um die Frage, ob Amerika gut oder schlecht ist, ob der Kapitalismus bedrohlich oder notwendig ist, ob die Globalisierung gestoppt werden sollte oder nicht. Es geht um den typisch fanatischen Anspruch: Wenn ich der Meinung bin, dass etwas schlecht ist, dann zerstöre ich es, zusammen mit allem, was es umgibt.“ (Amos Oz, Wie man Fanatiker kuriert – Tübinger Poetik-Dozentur 2002, Frankfurt am Main, edition suhrkamp, 2004)

Sätze aus dem Jahr 2002, etwas mehr als 21 Jahre später der 7. Oktober 2023, der eine Zäsur – oder wie Marina Chernivsky es in einer Tagung Anfang Dezember 2023 in Berlin sagte – „eine Ruptur“ bedeutet, die alles verändert. Das, was Amos Oz schrieb, passt jedoch nach wie vor. Das ist der Kontext des 7. Oktober 2023, über den wir reden müssen. Dies ist der Rahmen des hier dokumentierten Gesprächs mit der Duisburger Bundestagsabgeordneten Lamya Kaddor. Unser Gespräch fand am 21. Dezember 2023 statt.

Im Kibbuz Kfar Aza nach dem Massaker.

Anfang Dezember 2023 war Lamya Kaddor in Israel, an der Grenze zu Gaza, im Westjordanland, in Kairo. Es war ihre zweite Israelreise im Jahr 2023. Sie war nicht Teil einer Delegation, sondern reiste im Rahmen ihrer Berichterstattung zum Nahen Osten für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. In unserem Gespräch berichtet sie von ihrer Reise, den Menschen, die sie traf. Wie schwierig, wie bedrückend die gesamte Entwicklung in der Region ist, war auch daran zu merken, dass Lamya Kaddor während des gesamten Gesprächs innerlich sehr bewegt formulierte, gleichzeitig aber immer wieder klar die zahlreichen Widersprüche des Konflikts analysierte, die diesen nicht erst seit der Staatsgründung Israels vor 75 Jahren bestimmen. Mitunter spürten wir beide in unserem sich zeitweilig beschleunigendem Sprachtempo und angefasstem Tonfall die Verzweiflung, die einen überkommt, wenn man über dieses Thema zu sprechen versucht.

Lamya Kaddor ist zum dritten Mal Gast des Demokratischen Salons. Wir sprachen über den Islam in Deutschland, auch aus ihren Erfahrungen als Lehrerin für islamischen Religionsunterricht („Der Weg zur Vielfalt“) und über ihre politische Arbeit im ersten Jahr ihres Mandats im Deutschen Bundestag („Dialogpolitik – Eine konkrete Utopie?“). Sie versteht sich als progressive Muslimin, sie ist eine der Gründerinnen des Liberalen Islamischen Bundes (LIB). Am 18. Oktober 2023 veröffentlichte die ZEIT in ihrer Streit-Rubrik ein Gespräch zwischen Lamya Kaddor und Ali Mete, dem Generalsekretär von Millî Görüş. Es war ein schwieriges Gespräch, dessen Thematik und dessen Inhalte nach wie vor die öffentliche Debatte über den 7. Oktober 2023 und die Zeit danach in Deutschland prägen.

Israel und Gaza nach dem Massaker

Norbert Reichel: In unserem letzten Gespräch hast du über eine Reise nach Israel, in die palästinensischen Gebiete, den Libanon und in andere Länder des Mittleren und Nahen Ostens berichtet, doch nach dem 7. Oktober 2023 hat sich – so möchte ich es sagen – alles verändert. Welche Veränderungen hast du wahrgenommen? Vielleicht beginnen wir mit den außenpolitischen Veränderungen und kommen dann später zu den innenpolitischen Aspekten.

Lamya Kaddor: Es ist für mich ein historisches Ereignis, für mich persönlich, auch für mich, die ich keine jüdische Bürgerin bin, für mich als Politikerin und als jemand, der sich im interreligiösen Dialog engagiert und Freund:innen und Bekannte hat, die sehr unterschiedlich sind, darunter säkulare und sehr religiöse Menschen. Ich kann sagen, was an diesem Samstag politisch los war. Ich bin Berichterstatterin im Auswärtigen Ausschuss für die Region, war vorher schon mit den Themen betraut. Außenpolitisch stand die Annäherung zwischen Israel und Saudi-Arabien im Rahmen der Abraham Accords konkret an. Es gab eine Einigung, wie man sich diesen Annäherungsprozess vorstellte und was er beinhalten sollte. Dies wäre für die Region ein sehr sehr großer und entscheidender Schritt gewesen, hin zu mehr Stabilität in der Region, weil sich Staaten wie Saudi-Arabien und Israel annähern und konkret formulieren, wie sie das tun wollen.

Norbert Reichel: Ich habe in mehreren Gesprächen wahrgenommen, dass die arabischen Staaten der Region, Ägypten, Jordanien, Saudi-Arabien, die Golfstaaten, sich mit dem 7. Oktober in einer Zwickmühle wiedergefunden haben. Einerseits wollten sie die Vereinbarungen mit Israel, andererseits haben sie in den Bevölkerungen auch bedeutende andere Stimmungen, die sie in Schach halten müssen. Gegner der Vereinbarungen war und bleibt der Iran, Gegner bleiben die palästinensischen Organisationen wie die Hamas, die vom Iran unterstützt werden, nicht zuletzt auch Syrien, dessen Präsident sich im Grunde nur durch die iranische und russische Unterstützung halten kann.

Lamya Kaddor: Erst einmal würde ich deiner kurzen Beschreibung zustimmen. Aber wir müssen noch einige Puzzle-Teile ergänzen. Die Hamas hat nach dem 7. Oktober ihre eigenen Gründe für das Massaker genannt. Ich würde es als Massaker bezeichnen, die Hamas würde es anders bezeichnen, aber das ist mir egal, für mich ist es ein Massaker.

Ich war in den ersten Dezemberwochen, etwa acht Wochen nach dem Massaker, in der Westbank, in Israel und in Kairo. Ich muss sagen, dass mir viel Unverständnis für die deutsche Position entgegengebracht wurde. Nicht von israelischer Seite, die waren in der Regel hellauf begeistert, allerdings gab es von Angehörigen der Geiseln auch den dringenden Appell, dass wir uns stärker für die Freilassung der Geiseln einsetzen müssten und dies in der militärischen Auseinandersetzung nicht untergehen darf. Unsere Wahrnehmung ist ja sehr stark auf das Militärische fokussiert und das Geschehen im Gaza-Streifen. Es ist immer weniger – auch in der israelischen Öffentlichkeit – die Rede vom Leben der Geiseln, von der Befreiung, davon sie zurückzuholen. Das haben mir Angehörige, auch Hinterbliebene, als dringende Hausaufgabe mitgegeben, wir sollten auch Druck auf die Regierung Netanjahu ausüben.

Unsere von Israel aus als „unbedingt“ verstandene Solidarität wurde sehr gelobt. Ich würde sie nicht als „unbedingt“ bezeichnen. Sie ist unbedingt da, das Existenzrecht Israels ist unbedingt, auch die Sicherheit des Lebens in Israel, die Sicherheit jüdischen Lebens hier wie dort. Gleichzeitig kann uns das Leid der Palästinenser:innen nicht gleichgültig sein. Die Formel ist klar: Wenn Palästinenser:innen nicht in Sicherheit leben können, können auch Israelis nicht in Sicherheit leben, und andersherum auch: Wenn israelische Zivilist:innen nicht in Sicherheit leben können, wird es auch keine Zukunft für Palästinenser:innen geben.

Im Kibbuz Kfar Aza nach dem Massaker.

Ich habe einen Kibbuz besucht, den Kibbuz Kfar Aza. Das war in dieser Reise vielleicht der eindrücklichste Moment, der einen zerreißt. Kfar Aza liegt direkt an der Grenze zu Gaza. Der Zustand vor dem Massaker muss sehr harmonisch gewesen sein. Jetzt sind da zwei Grenzzäune, auch der eingebrochene Grenzzaun ist zu sehen. Dort sind über 50 Menschen ermordet worden. Der Kibbuz ist eine Geisterstadt, da lebt niemand mehr. Wir sind durch den Kibbuz gelaufen, Häuserzeilen, Straßen, vollständig ausgebrannt. Das Mobiliar befand sich zerstört auf den Wegen. Es gab auch einen entsprechenden Geruch, es sind über 50 Menschen ermordet worden. Wir konnten nur mit Schutzmontur durch den Kibbuz laufen, nur in Begleitung der IDF, denn vor dir ist der Krieg. Die Linie verlief direkt vor uns.

Diese Eindrücke sind wirklich schlimm, gleichzeitig hörst du ständig das Abschießen von Raketen, von Bomben, das Einschlagen der Bomben, die Erschütterung des Bodens. Das lässt einen nicht kalt. Du stehst an einem Ort eines fürchterlichen Massakers. Noch nie sind so viele Jüdinnen und Juden seit der Shoah an einem Tag ermordet worden. Und gleichzeitig weißt du, dass bei jedem Einschlag von Bomben auf der anderen Seite wahrscheinlich Dutzende von Menschen sterben werden, vor allem Kinder und Frauen. Das zeigt die Zerrissenheit, die in mir aufkam. Die war schon vorher da, aber das war sehr eindrücklich. Ehrlich gesagt.

Dann die folgenden Gespräche, vor allem im Westjordanland, wo die Siedlergewalt inzwischen eine Qualität erreicht hat, die vorher auch nicht da war. Es sind inzwischen über 250 Menschen auf palästinensischer Seite getötet worden. Von Siedlern. Das darf und kann nicht geduldet werden. Siedler sind dort tagsüber Siedler, abends ziehen sie sich die Reservistenuniform an und schikanieren Palästinenserinnen und Palästinenser.

In Kairo gab es noch ein anderes Puzzlestück. Du hast es angesprochen. Die arabische Nachbarschaft schaut sehr verklärt auf das, was da geschieht. Hochrangige Personen, auch religiöse Führer der Al-Azhar-Universität vertraten die Position, dass der 7. Oktober so nicht stattgefunden hätte, das wären Israelis gewesen, es gab Verschwörungserzählungen, es wäre ein Genozid an den Palästinensern. Das war für mich sehr ernüchternd. Das haben nicht alle so ausgesprochen. Gleichzeitig – unter der Hand – wurde mir natürlich gesagt, dass man froh wäre, wenn die Hamas erheblich zersetzt und zerstört würde. Wer sich mit militärischen Dingen beschäftigt, weiß, dass man eine Terrorzelle nicht komplett auslöschen kann, aber man kann sie zumindest erheblich schwächen.

Norbert Reichel: Wie es beispielsweise mit Al-Quaida und dem Islamischen Staat weitgehend gelungen ist, obwohl es auch wieder in einigen Gebieten eine Neuformierung gibt.

Lamya Kaddor im Gespräch mit der palästinensischen Gesundheitsministerin Dr. Mai Kaila. Sie zeigte zwei große Ordner mit Hunderten von Seiten von Listen mit Namen, Fundort und Alter der Toten in Gaza.

Lamya Kaddor: Ich hatte dann die Möglichkeit – das war für mich auch einer der persönlichen Schwerpunkte –, einen Menschen aus Gaza zu treffen, eine Ortskraft, deutscher Staatsbürger, der bei der Friedrich-Ebert-Stiftung arbeitete, der gerade evakuiert worden war. Eine halbe Stunde vor unserem Gespräch erhielt er eine SMS, dass seine Schwiegerfamilie in Gaza durch einen Bombenangriff ums Leben gekommen ist. Zehn Personen, von jetzt auf gleich, alle tot. Er selbst wurde evakuiert, weil er weiter nach Deutschland reisen wollte. Er musste sich diesen Sicherheitsinterviews unterziehen, von BKA und Verfassungsschutz, und hat total gebangt, dass er die Genehmigung zur Reise nicht bekommen würde, mit seiner Familie dableiben müsse oder weiß Gott wohin abgeschoben würde.

Ich habe gesagt, ich hätte volles Verständnis, wenn der Mann nicht mit mir reden wolle, weil seine Schwiegerfamilie gestorben ist. Für mich muss er das nicht machen. Er wollte aber reden. Ich traf ihn. Ich dachte, da sitzt jemand vor mir, total wütend, auch wirklich vorwurfsvoll mir gegenüber. Nein, er war völlig ruhig, fast verstörend ruhig und differenziert, muss ich sagen. Er sagte, das, was den Israelis am 7. Oktober passiert ist, ist schrecklich, ein Massaker, die Hamas, das sind „Primitivlinge“, so hat er sie auf Deutsch tatsächlich genannt. Die können keinen Staat führen, aber was können wir dafür? Er sagte: „Wir Gazaïs lehnen die Hamas ab, was können wir dafür, wir, die wir hier in Gaza leben und eingepfercht sind?“ Das ist mir überhaupt aufgefallen, je mehr ich mit Menschen spreche, die nah am Konflikt sind, nah am 7. Oktober: Da waren die Schwestern von zwei getöteten Kibbuz-Bewohnern, die Tochter, auch die Schwester eines Bruders, der noch Geisel ist, sie sagte: „Ich kann nicht trauern, ich komme überhaupt nicht zum Trauern. Weil ich mich um meinen Bruder sorge, der Depressionen hat, der unter Tage ohne Tabletten ist, ich habe Angst um ihn.“

Der Mann, der aus Gaza fliehen musste, er ist in der Lage zu sagen: „Das, was man den Israelis angetan hat, ist schrecklich, wir wollen die Hamas doch selbst nicht, aber wir müssen weiterkommen, setzt euch für eine Zwei-Staaten-Lösung ein.“ Je weiter die Menschen, mit denen ich sprach, vom Konflikt entfernt waren, desto verklärter war die Sicht, desto stärker waren Narrative wie: wir Deutschen würden jede pro-palästinensische Demonstration verbieten, wir Deutschen hätten den Israelis einen Blanko-Scheck ausgestellt, Gaza dem Erdboden gleich zu machen. Je mehr ich mit Menschen sprach, die näher am Konflikt waren, umso eher waren sie bereit, der anderen Seite Zugeständnisse zu machen. Sie sagten: „Die anderen leiden auch. Wir leiden alle.“ Das fand ich bezeichnend, je weiter ich vom Konflikt entfernt war, umso schwieriger wurde es.

Perspektiven?

Norbert Reichel: Einige meiner jüdischen Gesprächspartner:innen haben mir mehr oder weniger deutlich gesagt, es wäre völlig klar für sie, das Leid der Palästinenser:innen zu sehen und darüber zu sprechen, es würde ihnen aber immer schwerer gemacht.

Lamya Kaddor: Natürlich. Es ist ja nicht so, dass alle Israelis, geschweige denn alle Jüdinnen und Juden mit der Politik Netanjahus einverstanden wären. Ich war schon im Mai in Israel. Wir hatten seit Beginn 2023 die Demonstrationen gegen die Justizreform Netanjahus. Jeden Samstag Zehntausende, wenn nicht Hunderttausende von Menschen.

Norbert Reichel: Umgerechnet auf Deutschland wären das etwa zehn Millionen jeden Samstag vor dem Brandenburger Tor.

Lamya Kaddor: So ist es. Und wir wissen auch von mindestens zwei Ministern in dem Kabinett: Itamar Ben-Gvir und Belazel Smotrich, die rechter in ihrer Auffassung gar nicht mehr sein können. Gegen die wurde demonstriert. Dann kam der 7. Oktober, eine solche Zäsur, die auf der anderen Seite wieder Menschen zusammenschweißte, die an vielen Positionen eigentlich nicht mehr zusammen waren. Gleichzeitig erlebe ich, dass die Wut auf die Regierung Netanjahu sehr groß ist.

Wenn du den Konflikt von außen betrachtest, ich beispielsweise als Berichterstatterin, dann musst du dir dessen bewusst sein, das ist die rechteste Regierung, die Israel seit Staatsgründung je hatte. Und auf der anderen Seite, in Gaza, da regiert eine Terrororganisation, die jeden Monat in einem Koffer, in bar, 30 Millionen Euro aus Katar bekommt, sagen wir es mal so: bekam. Der ganze Disput, die ganze Politik, wird hier wie da mit Extrempositionen betrieben. Ich möchte jetzt eine Terrororganisation nicht mit einer demokratisch gewählten Regierung vergleichen, aber im Kern sind es Extrempositionen. Extrempositionen – das wissen wir hier in Deutschland auch – denen ist nicht am gesellschaftlichen Zusammenhalt gelegen, sondern an weiterer Polarisierung.

Du hast weder auf der einen noch auf der anderen Seite einen gesprächsbereiten Ansprechpartner, um auszuloten, an welcher Stelle man zusammenkommen könnte. Es hat sich in den letzten Jahren erst einmal auseinanderdividieren lassen statt sich aufeinander hin zu bewegen. Ich kann verstehen, dass jüdische Menschen immer mehr sagen, dass es immer schwerer wird, den Palästinenser:innen etwas zuzugestehen. Das verstehe ich sehr gut. Von der palästinensischen Seite höre ich das auch. Sie sagen, sie glauben nicht mehr an eine Zwei-Staaten-Lösung, die gebe es nicht mehr. Das ist fatal! Wir müssen schon – das ist Verantwortung von Politik – dafür sorgen, dass diese Positionen nicht noch weiter verhärten, und Sicherheit für beide Völker, für beide Menschengruppen, schaffen. Es ist schon klar, dass man für eine Zeit erst einmal auseinandergehen muss und dann, wenn man sich wieder sicher fühlt, einen Annäherungsprozess zu machen. Im Moment sind wir in einer Phase, in der Kampf, Lebensfeindlichkeit und Tod im Vordergrund stehen.

Norbert Reichel: So wie ich die Berichterstattung in Deutschland verfolge, habe ich den Eindruck, dass so manches in den Hintergrund gerückt ist. Dazu gehören angesichts der Angriffe der Hisbollah auch die Evakuierungen von etwa einer Viertelmillion Menschen aus dem Norden Israels. Das sind etwa 3 Prozent der Gesamtbevölkerung, umgerechnet auf Deutschland wären das etwa 2,5 Millionen Binnenvertriebene.

Lamya Kaddor: Das ist völlig richtig. Ich prophezeie, dass wir demnächst stärker auf den Norden blicken werden, weil die Angriffe der Hisbollah stärker werden und auch bedrohlicher für Israel. Die offizielle Zahl beträgt etwa 250.000 Binnenvertriebene. Das Hotel, in dem ich in Tel Aviv unterkam, war nur noch ein großes Wohnzimmer für Familien, die mit ihren Kindern und Haustieren dort unterkommen mussten. Die hatten noch Glück, dass sie in einem Hotel unterkamen…

Norbert Reichel: … und nicht in einer Zeltstadt…

Im Kibbuz Kfar Aza nach dem Massaker.

Lamya Kaddor: Genau. Ich muss sagen, mir taten diese Kinder leid, die nicht in die Schule gehen, Kinder, die auf Parkplätzen spielen mussten, keinen Alltag mehr finden. Das ist doch nicht ihr Alltag. Und die Eltern, die besorgt sind, die in riesigen Hallen kollektives Abendessen machen, weil es gar nicht anders mehr geht. Das Hotel ist ausgebucht, das muss man nachher komplett renovieren. Das sehen wir nicht. Wir sehen auch nicht die über 10.000 abgeschossenen Raketen der Hamas auf israelischen Boden. Die schlagen meistens nicht ein, aber wenn sie einschlügen, dann sähe es in Israel so aus wie in Gaza. Das darf man nicht vergessen.

Die Macht der Bilder macht ja etwas mit einem. Wir sehen den total zerstörten Gaza-Streifen. Das ist eine Katastrophe, dafür gibt es keine anderen Worte. Andererseits siehst du ein noch sehr intaktes Israel.

Norbert Reichel: Dank Iron Dome.

Lamya Kaddor: Dank Iron Dome. Aber du hast recht. Ich glaube, dass wir da medial nicht mehr so drauf schauen. Ich tue es immer noch. Aber in den meisten Medien ist das anders. Auch nach 75 Jahren. Der Konflikt hat ja nach denkwürdigen Logiken funktioniert: Da gibt es Krieg, Israel geht rein, Israel geht wieder raus, alles wird abgeschottet, die blöde Hamas oder wer auch immer soll machen, aber Israel will nichts damit zu tun haben, anders herum auch, die blöden Israelis, ein Scharmützel da, eins dort. Das ist schlimm, aber wir haben uns daran gewöhnt. Wir haben uns auch daran gewöhnt, dass es keine politische Lösung gibt. Das schlägt sich auch in der Medienberichterstattung ein Stück weit nieder.

Dazu diese Kriegsmüdigkeit. Dann haben wir noch den Krieg in der Ukraine vor der Haustür. Da ist auch eine Kriegsmüdigkeit eingetreten. Das will man auch verdrängen, das ist menschlich. Es sind auch schlimme Bilder, die man sieht, aus Gaza, auch aus der Ukraine waren sie schon schlimm, auch aus Syrien. Kein Mensch redet mehr über Syrien, aber da wird immer noch gekämpft. Die meisten Asylanträge werden von Syrerinnen und Syrern gestellt. Auch das fliegt immer wieder aus der Erinnerung.

Ich befürchte, dass sich auch der Krieg im Norden intensivieren wird. Wir blicken auch wieder auf die Huthi. Kein Mensch wusste, wer das war.

Neben dem deutschen Interesse an einer freien Schifffahrt und internationalem Handel gebietet es auch unsere Unterstützung für Israel, dafür zu sorgen, dass die Angriffe der Huthis auf internationale Handelsschiffe und insbesondere solche mit Israel-Bezug, aufhören. Insofern denke ich, dass wir auch hier in Zukunft eine Intensivierung der Auseinandersetzung sehen werden.

Norbert Reichel: Wenn ich dich eben richtig verstanden habe, haben deine arabischen Gesprächspartner offiziell dir etwas anderes gesagt als was sie dir dann hinter vorgehaltener Hand sagten. Ich habe den Eindruck, die Regierungen sind das eine, die Bevölkerungen das andere. Interessant ist in diesem Zusammenhang, dass Saudi-Arabien Huthi-Raketen abgeschossen hat. Abgesehen davon, dass Saudi-Arabien im Jemen die Huthi ohnehin bekämpft, ist das schon ein interessanter Eingriff. Entwickelt sich da etwas?

Lamya Kaddor: Vielleicht ein bisschen. Aber immer unter der Prämisse, dass das, was man da tut, der Sicherung des eigenen Machterhalts dient. Das ist das oberste Ziel. Da gibt es schon ein Interesse. Es gab ja auch die Annäherungen über die Abraham Accords. Der israelische Botschafter in Deutschland, Ron Prosor, hat immer wieder – noch im Sommer 2023 – gesagt, das, was für euch die „Zeitenwende“ in Deutschland mit dem Ukraine-Krieg ist, das sind für uns die Abraham Accords. Ihr müsstet einmal verstehen, was das für uns in der Region bedeutet. Deshalb möchte ich das noch einmal hervorheben. Was es in der arabischen Welt, der klassisch arabischen muslimischen Welt, auch im Sudan, bedeutet, was die Erfahrung mit dem IS, Al-Quaida, der Irak-Krieg, die Taliban, mit der Region gemacht hat, Al-Nusra in Syrien, die sind ja immer noch da, die beherrschen den Nordwesten von Syrien. Die richten sich ganz klar gegen die autoritären Herrscher, die auf der arabischen Halbinsel an der Macht sind. Sie sind eine existenzielle Bedrohung für die Machthaber. Also muss man einen Kurs finden, wie man mit diesen Terrorgruppen umgeht. Entweder kooperiert man mit denen, hat Assad ja zum Teil gemacht, oder man bekämpft sie, beim IS haben die meisten arabischen Länder gesagt, wir bekämpfen die.

Unter der Hand sagt dir die Bevölkerung, die ja auch sehr kritisch gegenüber ihren Machthabern ist, das Regime muss weg. Das sagen dir viele unter der Hand, nicht die Politiker, sondern Menschen auf der Straße, in den Geschäften, mit denen du einfach sprichst, die Hamas und all die Organisationen haben doch recht, dass Assad wegmuss oder irgendein anderer Machthaber. Gleichzeitig wird das von der politischen Seite anders gesehen, dass man nicht noch einen arabischen Frühling hervorruft. Das ist das Kalkül, die Hamas muss weg, damit ich meine eigene Macht erhalte. Das verstehen die Menschen vor Ort. Und unter der Hand sagen sie dir dann, es wäre schon gut, dass die Hamas weg wäre. Gerade Ägypten, das eine große Verantwortung in diesem Konflikt hat, hat Israel ein Jahr vor dem Massaker vor der Hamas gewarnt. Das ist belegt. Die israelische Regierung hat darauf nicht direkt reagiert. Dieses Versagen muss zügig aufgearbeitet werden und gleichzeitig sagt Ägypten, wir werden keinen Palästinenser, keine Palästinenserin aufnehmen. Sie haben jetzt ein paar Waisenkinder aufgenommen. Aber ihre Begründung lautet, wir wollen keine Ansiedlung auf dem Sinai, auch keine sich radikalisierenden Gruppierungen auf dem Sinai, die von dort Terror betreiben.

Norbert Reichel: Das gab es ja auch schon mit dem IS auf dem Sinai.

Lamya Kaddor: Und es würde eine Zwangsumsiedlung von Palästinensern bedeuten, und das wollen weder arabische Zivilisten noch die Regierungen. Natürlich sagen alle, die Palästinenser:innen haben alles Recht auf das Land, aber man möchte sich die Finger auch nicht allzu schmutzig machen. Also gibt man den Druck weiter, an uns Europäer, an die Amerikaner, um sich selbst ein Stück weit zu entlasten.

Norbert Reichel: Mir kommt das fast schon wie eine Art Mexican Standoff vor. Ich habe die arabischen Regierungen, die arabische Bevölkerung, ich habe Israel. Das macht es schwer, den Finger vom Abzug zu nehmen. Dann ist noch die Frage, wie sich Europa, die USA, Putin, Xi und nicht zuletzt der Iran positionieren. Welchen Einfluss haben wir aus Europa oder hat nur die USA einen nennenswerten Einfluss?

Lamya Kaddor in Kairo im Gespräch mit Hossam Zaki, dem stellvertretenden Generalsekretär der Arabischen Liga.

Lamya Kaddor: Den größten Einfluss haben sicherlich die USA. Das muss man schon so sagen. Aber auch unser Einfluss ist gar nicht so gering. Wir Deutschen hatten im Nahen Osten, auch in der arabischen Welt, ein hohes Ansehen. Die Nicht-Beteiligung am Irak-Krieg wird uns hoch angerechnet. Gleichzeitig ist auch das nach dem 7. Oktober völlig anders. Völliges Unverständnis. Ich habe mit dem stellvertretenden Chef der Arabischen Liga gesprochen, der für einen großen Teil der arabischen Staaten spricht. Großes Unverständnis, großes Unverständnis für unsere deutsche Position. Mit Menschenrechtsorganisationen in Ägypten haben wir gut zusammengearbeitet, weil wir in Ägypten immer deutlich gesagt haben, dass es nicht gehe, über 10.000 Menschen aus politischen Gründen zu inhaftieren, nach dem arabischen Frühling zum Beispiel. Die haben uns die Zusammenarbeit aufgekündigt. Sie sagen, wir hätten Doppelstandards. Sie sagen, ihr verteidigt zu Recht das Selbstverteidigungsrecht der Ukraine, ihr sagt auch, Menschenrechte sind wichtig, Zivilist:innen müssen geschützt werden, ihr tut alles, damit sich die Ukraine verteidigen kann, aber warum gilt das nicht für palästinensisches Leben? Das wurde mir dauernd entgegengehalten.

Ich finde, man kann schon Unterschiede zwischen der Ukraine und Gaza machen. Ich teile die Aussage überhaupt nicht, wir hätten der israelischen Regierung einen Blankoscheck gegeben, besonders hart gegen Palästinenser vorzugehen. Das haben wir nie kommuniziert und uns auch in der UN nicht so verhalten. Wir haben uns auch in der UN immer um eine ausgewogene Position mit unseren arabischen Partnern eingesetzt, für bessere Wortlaute gekämpft und teilweise auch erreichen können. Unser Handeln war steter Ausdruck des schwierigen Balanceaktes, unserer Verpflichtung der Solidarität mit Israel und andererseits der Solidarität mit dem Leid der palästinensischen Zivilbevölkerung. Wie kann es weitergehen, was können wir Europäer tun. Wir sind ja auch da nicht immer einer Meinung.

Norbert Reichel: Siehe Belgien, das seit dem 1. Januar 2024 die Präsidentschaft hat, siehe Irland, siehe Spanien.

Lamya Kaddor: Da treten wir sehr unterschiedlich auf. Aber wir sind uns in einem Punkt einig, in der Zweistaatenlösung, das will die EU gemeinsam erreichen. Es ist nur die Frage wie man da hinkommt. Dauerhafter Waffenstillstand ja oder nein und zu welchen Bedingungen? Erst ein Waffenstillstand, dann die Befreiung der Geiseln, was ist der Tag danach? War es überhaupt ein Terroranschlag? Um diesen Satz gibt es den größten Streit, aber es ist eigentlich albern, sich darüber zu streiten, selbst arabische Nachrichtendienste haben das Videomaterial authentifiziert. Das ist unstrittig.

Norbert Reichel: Eine Moderatorin hat im ägyptischen Fernsehen sehr klar ihren Gesprächspartner der Hamas mit der Frage konfrontiert. Der brach darauf das Interview ab.

Lamya Kaddor: Selbst die Hamas sagt, dass das passiert ist. Das ist das Verrückte, aber das hat andere Gründe, dass man das nicht aussprechen will, weil man auf die Vorgeschichte verweist. Guterres hat auf die Vorgeschichte verwiesen und trotzdem ist das ein Terroranschlag gewesen, auf einen souveränen Staat, auf die Zivilbevölkerung. Ein souveräner Staat hat nach Völkerrecht das Recht, sich zu verteidigen. Ich glaube aber auch, dass die Verhältnismäßigkeit aus mancher Sicht überschritten ist und dass jetzt eine andere Phase, eine politische Phase kommen muss. Das wird auch innerhalb von Israel so diskutiert. Haaretz macht das täglich.

Es ist natürlich kompliziert, wenn dieser Gaza-Krieg durch einen Hisbollah-Israel-Krieg überschattet wird und dann schaut niemand mehr auf Gaza.

Norbert Reichel: Auch Netanjahu könnte ein Interesse haben, den Krieg in die Länge zu ziehen, weil er damit rechnen muss, dass er nach Kriegsende nicht mehr Ministerpräsident sein wird.

Lamya Kaddor: Er hatte ja auch ein Interesse, diese Justizreform voranzupeitschen, weil der Korruptionsprozess, der gegen ihn anhängig ist, weitergehen wird, wenn er nicht mehr Ministerpräsident ist. Er hat kein Interesse an dem, was dann auf ihn zukäme. Bis dahin…

Der Antisemitismus der Anderen

Norbert Reichel: Mehr werden wir zu diesem Zeitpunkt nicht sagen können. Vielleicht zur Innenpolitik in Deutschland. Für meinen Essay „Das Pogrom“ habe ich mir einfach angeschaut, was in den vierzehn Tagen nach dem 7. Oktober in verschiedenen Qualitätsmedien berichtet, was wie bewertet wurde. Einen Punkt, der mir auffiel, habe ich in einer Zwischenüberschrift „Kollateralschäden“ genannt. Erst einmal wurden alle Palästinenser:innen, die sich äußerten, zu Muslim:innen gemacht, obwohl sie das nicht alle sind. Es wurde die Geschichte auf der Sonnenallee so hochgespielt, als seien die paar Mitglieder von Samidoun, die dort Baklava verteilten, typisch für alle Muslim:innen.

Dann fand die Deutsche Islamkonferenz statt, auf der Nancy Faeser eine meines Erachtens gute und differenzierende, ausgewogene Rede gehalten hat, deren entscheidende Passage ich in der Dokumentation meines Gesprächs mit Meltem Kulaçatan dann auch als Motto zitiert habe: „Auf keinen Fall dürfen Muslime in Deutschland für islamistischen Terror in Haftung genommen werden. Denn die meisten Musliminnen und Muslime sind seit langem tief verwurzelt in unserer demokratischen Gesellschaft. Antisemitismus kann nicht mit Muslimfeindlichkeit bekämpft werden!“

Zitiert wurde die Rede jedoch so, als hätte sie gesagt, dass sich jetzt alle Muslim:innen von der Hamas distanzieren sollten. Diese Einseitigkeit findet sich dann auch in verschiedenen Maßnahmen. Da wird das Tragen einer Kufiye verboten, da werden bestimmte Parolen verboten, ein Bekenntnis zu Israel wird als Einbürgerungsvoraussetzung gefordert. Aus meiner Sicht gibt es ein Strafrecht, das man nur anwenden müsste. Da helfen solche scheinbar präventiven Maßnahmen nichts. Im Gegenteil: Sie verschärfen einen innenpolitischen Konflikt.

Lamya Kaddor: Ich gebe dir in vielem recht. Wir haben – so denke ich –die Situation medial sehr angemessen aufbereitet. Auch mit all dem Schrecken für jüdische Menschen, mit all den Ängsten, mit denen sie zu tun haben. Das war wichtig, dass wir uns wochenlang damit beschäftigt haben. Gleichzeitig – und das ist das Problem – gibt es eine enorme Schieflage. Das liegt daran, dass der politische Diskurs immer so funktioniert, dass irgendjemand schuld sein muss, wenn jemand anders leidet. Das ist auch ein Grund, warum ich in die Politik gegangen bin, und ich habe das in meinen öffentlichen Auftritten immer wieder gesagt. Die Islamfeindlichkeit hat inzwischen einen Höchststand erreicht. Muslim:innen werden wieder einmal in eine Rechtfertigungsecke geschickt, indem sie erst einmal lang und breit erklären müssen, dass das ein Terroranschlag der Hamas war, dass sie das natürlich alle schlimm finden, dass es überhaupt Terror war und dass die Hamas nicht sich selbst verteidigt, dass man eigentlich kein Antisemit ist und dass man Jüdinnen und Juden eigentlich ganz nett findet und dass man keine radikale Form des Islam ausleben möchte. Eigentlich möchte man von ihnen hören, dass der Islam eine ganz böse Religion ist.

Das habe ich so wahrgenommen, auch was mich als Person betrifft. Ich habe ja auch mit Menschen außerhalb der Politik zu tun. Ich bin Muslimin und das Erste, was ich dann höre, ist, das ist ja schlimm, was mit Israel passiert ist, aber die Palästinenser… Mein Umfeld ist sehr heterogen, es gibt muslimische Menschen, nicht-muslimische Menschen, auch Atheisten, Menschen jeder Couleur, jeder Glaubenscouleur. Jede Personengruppe war bemüht, mich auf ihre Seite zu ziehen. Meine jüdischen Freundinnen und Freunde wollten, dass ich sage, dass die Palästinenser nicht einfach rufen können „From the River to the Sea“, wir fühlen uns dadurch bedroht. Auf der anderen Seite hörte ich die ganze Zeit, schau, was da in Palästina passiert, das ist doch grausam, wir werden alle in Sippenhaft genommen, Lamya, da musst du doch etwas zu sagen. Und in der Tat: Viele gute Punkte.

Meine Biographie ist gespickt von solchen Punkten. Das macht mein Leben aus, dass ich immer wieder dazwischenstehe und versuche, in die eine oder in die andere Seite zu vermitteln. Darauf müssen wir sehr kritisch gucken. Ich habe gestern einen sehr sehr guten Essay im Spiegel gelesen, von Julia Amalia Heyer, die in Tel Aviv gelebt hat, Titel: „Israelis und Palästinenser, im Schmerz vereint“. Sehr ausgewogen und mit den Fragen, so wie ich sie auch skizzieren würde.

Es ist Hauptaufgabe von Politik, für Differenzierung und das Versöhnende zu werben. Anderseits können wir nicht ganz neutral auf den Nahostkonflikt und auf Israel blicken. Wir sind nun einmal Deutsche und wir haben eine Verantwortung. Das ist auch richtig, dass wir uns dazu selbst verpflichten, das darf aber nicht heißen, dass wir blind werden gegenüber anderen Ungerechtigkeiten und Verbrechen.

Norbert Reichel: Da beginnt auch manch verhängnisvolle Pauschalisierung. Das Vorgehen der israelischen Armee ist eine Sache, die Gewalt der Siedler im Westjordanland eine andere. Die Regierung Netanjahu ist eine Sache, die Proteste und Demonstrationen der israelischen Zivilbevölkerung eine andere. Und dann gibt es jeweils noch viel dazwischen, nichts ist so binär wie es sich anhören mag.

Lamya Kador mit Angehörigen des durch die Hamas entführten Israelis Itai Svirsky. Mitte Januar 2024 erfuhren wir, dass er eine der beiden gerade von der Hamas hingerichteten Geiseln war.

Lamya Kaddor: Ich will nicht von einer Schuld sprechen, ich will von Taten sprechen, die aufgearbeitet werden müssen. Manches in der Aufarbeitung könnte noch besser laufen. Aber wir haben auch eine Verantwortung für die Gegenwart. Wir leben in einem Einwanderungsland. 27 Prozent der Menschen haben einen Migrationshintergrund. Das sind natürlich nicht alles Muslim:innen. Wir haben einen eingefleischten Antisemitismus, der in den letzten Jahren zunahm, auch ohne Muslime. Und wir haben einen – so muss man es korrekt ausdrücken – reimportierten Antisemitismus, der natürlich zu einem sehr unguten Gemisch führt. Es gab und gibt Antisemitismus von rechts, Antisemitismus von links, Antisemitismus in der sogenannten bürgerlichen Mitte. Und jetzt kommt ein reimportierter Antisemitismus mit einem starken Israelbezug. Der mag auch religiös sein, aber bei den meisten Muslim:innen ist er das nicht, sie haben vor allem diesen Israelbezug vor Augen.

Nun müssen wir natürlich als Politik diese Differenzierung erst einmal überhaupt wahrnehmen. Ich erlebe im Innenausschuss, wie oft da von importiertem Antisemitismus gesprochen wird. Es ist immer der Antisemitismus der Anderen. Wir – als Mitte der Gesellschaft – sind doch keine Antisemiten! Und da sucht man sich einen Verantwortlichen, und zwar möglichst schwache Mitglieder der Gesellschaft, das sind nun einmal als soziale Gruppe viele Muslim:innen. Das verändert sich inzwischen auch. Aber wenn das mit der Integrationsdebatte vermischt wird, von großen Teilen der Union… Von den Rechten hätte ich das nicht anders erwartet. Aber auch die CDU hat das massiv getan, unter dem Deckmantel des Schutzes jüdischen Lebens. Das macht es natürlich sehr schwer.

Wie willst du gegen ein solch schweres Argument gegenargumentieren? Das braucht so viel Hintergrundwissen, so viel Differenzierung, das braucht einige Zeit, bis ich das alles habe sagen können. Das ist im politischen Diskurs, in einem Zeitungsinterview oder auch in einer Talksendung, wo du gerade einmal zwei oder drei Minuten am Stück sprechen darfst, fast unmöglich. Das kannst du in Bundestagsreden. Aber da wir ohnehin schon über diesen Migrationsdruck sprechen und dann noch das dazu kommt! Der Islamismus hat in den letzten Wochen auch wieder zugenommen. Mitte Dezember 2023 wurden zwei Islamisten verhaftet, die Anschläge auf den Leverkusener Weihnachtsmarkt vorbereiteten. Die waren 15, 16 Jahre alt. Wir reden über fortgeschrittene Maßnahmen. Wenn du jetzt noch sicherheitspolitische Töne anschlägst, nicht nur migrationspolitische, wird es praktisch fast unmöglich, im politischen Diskurs mit einer anderen Position durchzudringen. Weil der mediale Diskurs dann genau das abbildet und vielleicht auch verstärkt – manche Medien tun das –, dann sind Muslime wieder einmal diejenigen, die es ausbaden müssen, als Feindbild zu dienen, sich in der Rechtfertigungsecke wiederfinden.

Ich möchte eines noch dazu sagen. Ich erwarte nicht von muslimischen Einzelpersonen, dass sie sich distanzieren oder positionieren. Das sage ich auch in meinem politischen Umfeld. Jeder, der ernsthaft glaubt, von einem muslimischen Menschen, irgendwo auf dieser Welt, ernsthaft erwarten zu dürfen, dass sie sich distanzieren – das würde schon einmal Nähe voraussetzen, die in der Regel gar nicht gegeben ist – oder sich zu positionieren, das würde ich mir als Muslimin verbitten. Aber ich kann es von muslimischen Organisationen erwarten, die hier behaupten, proaktiv, sie sind ein Teil der Zivilgesellschaft, sie wollen ihren Beitrag leisten. Wenn ihr einen Beitrag leisten wollt, warum fällt es euch dann so schwer zu sagen, der 7. Oktober war ein grauenvoller Angriff, ein Massaker auf israelische Zivilisten. Da muss man kein „Ja aber“ sagen. Ich finde, das kann man irgendwann im Kontext sagen, ja dieser Konflikt hat viele dieser furchtbaren Verbrechen hervorgerufen, er hat Leid und Ungerechtigkeit hervorgerufen, seit 75 Jahren gibt es den Konflikt, trotzdem stehen wir solidarisch an der Seite von Jüdinnen und Juden in Deutschland, die Angst haben, in Sicherheit leben zu können. Das ist doch nicht schwer! Wenn sie das in dieser Klarheit nicht hinbekommen, müssen sie sich auch meine Frage gefallen lassen, warum sie das nicht hinbekommen. 

Der Alltag ist alles andere als subtil

Norbert Reichel: Vielleicht darf ich auf meine Gespräche mit Harry Harun Behr und Meltem Kulaçatan verweisen, beide liberale Muslim:innen, beide mit einer jüdischen Familiengeschichte. Harry Harun Behr hat es geschafft, dass die hessische DİTİB wohl damit beginnt, ihre Positionierung neu zu denken. Ich bin neugierig, was er demnächst berichten wird. Meltem Kulaçatan hat mir erzählt, sie habe Anrufe von Musliminnen, die sich Kontakte mit Jüdinnen wünschen, andererseits berichtet sie von einem Vorfall am Bahnhof in Erlangen, wie jemand ihr droht, man müsse doch alle Menschen wie sie verbrennen, und jemand, der das hört, unbeirrt weiter an seinem Käsebrot aß. Kein Einzelfall, in ihrer letzten Studie berichtet sie von Muslim:innen, die ihr ähnliche Erlebnisse schilderten. Bei all denen, die jetzt pauschal Muslim:innen anfeinden, glaube ich nicht, das sie alle große Freunde Israels sind. Nicht nur in FPÖ und AfD.

Lamya Kaddor: Das behaupten die, das ist ein Deckmantel. Entweder man ist ein Menschenfreund, dann ist man Menschenfreund von allen, oder man ist ein Menschenfeind, dann ist man Menschenfeind von allen. Wenn ich anfange, Auslese zu betreiben, bin ich ein Menschenfeind, weil ich doch eine gewisse Selektion betreibe. Ich habe das Wort jetzt ganz bewusst benutzt.

Ich könnte das durch viele Beispiele bekräftigen. Ich nenne eines. Ich fuhr in der letzten Woche mit einem Wagen des Deutschen Bundestages in mein Büro. Der Fahrer trug eine Nikolausmütze. Warum auch immer. Nikolaus war schon vorbei. Ich fragte ihn, ist der Nikolaus bei Ihnen zu spät angekommen? Da sagte er, der Nikolaus war Türke, wissen Sie das? Ja, ich wusste das, ich war Religionslehrerin. Sprechen Sie auch türkisch? Das ist eine interessante Brücke, um mich zu fragen, ob ich Türkin bin. Ich sagte, nein, ich bin Deutsche. Ja, sein Freund Metin spricht mit ihm auch Deutsch, anderswo spricht der dann doch wieder türkisch, obwohl der immer sagt, er wäre Deutscher. Ich sagte, es soll sogar Leute geben, die sprechen fließend zwei Sprachen.  Da wusste er nicht mehr weiter. Ich sagte dann noch, wenn Sie es genau wissen wollen, meine Eltern waren Syrer. Er: Nein, ich meine es nicht böse. Ich: Ich weiß, dass Sie es nicht böse meinen, aber ich höre so etwas zehn Mal am Tag, ich weiß, Sie meinen es alle nicht böse, aber es nervt. Es nervt Menschen wie mich, immer direkt oder indirekt darauf angesprochen zu werden, woher man kommt, weil man in dem Klischee etwas nicht findet, das ich haben sollte, weil ich gut deutsch spreche, weil ich nett bin, mich zivilisiert verhalte, da fangen Menschen sofort an, danach zu fragen, woher man kommt, verunsichert, denn die ist ja nicht wie mein Klischee.

Die Sache war noch nicht zu Ende. Ich steige aus dem Auto aus, gehe in mein Büro, der nächste Termin steht an, digital mit einem Berufskolleg in Siegen. Ich konnte, da Sitzungswoche war, nicht persönlich hinfahren. Es war eine Podiumsdiskussion zum Antisemitismus, weil es Konflikte in der Schule gegeben hatte. Die gesamte Schulfassade war von außen mit antisemitischen Texten beschmiert. Ich wurde vorgestellt: Das ist Frau Kaddor aus Berlin, sie ist syrische Bundestagsabgeordnete. Oh! Genau! Ich bin direkt rein, mit Verlaub, ich bin nicht syrische Bundestagsabgeordnete, ich bin deutsche Bundestagsabgeordnete. Was kam? Ja, ja, ja! So ist das dauernd. Das sind nur zwei kleine Fälle.

Eines müssen wir verstehen: Wenn wir sensibler werden im Umgang mit Antisemitismus, mit jüdischem Leben, dann bedeutet das, wir müssen auch gegenüber anderen Bevölkerungsgruppen sensibler werden. Wenn wir aber nur selektiv sensibler werden, muss es Aufgabe von Politik sein, das anderen zu vermitteln. Das schaffen nicht alle Politiker:innen, weil sie das selbst nicht verstehen. Das war einer der Hauptgründe, warum ich in die Politik gegangen bin, um diese Differenzierung, diese Vielschichtigkeit rüberzubringen, ohne dauernd sagen zu müssen, es nervt. Wer sagt euch denn, ich wäre keine gute Deutsche. Wer sagt euch denn, dass ihr gute Deutsche seid, dass ihr viel für das Land geleistet habt? Vielleicht habe ich mehr für das Land geleistet als manch andere. Ich sehe es nicht ein, mich dauernd von außen als zugehörig oder nicht dazugehörig erklären zu lassen.

Ich drehe manchmal den Spieß aus pädagogischen Gründen einfach mal um: Sie sprechen auch gut Deutsch, für einen Deutschen. Ich versuche es mit Humor, aber wie wir im Moment agieren, da ist mein Vertrauen in Menschen gesunken, weil ich sehe, dass viele Menschen, schon mehr als die Hälfte, sagen, wir finden die Demokratie gar nicht so wichtig, die Freiheiten und Rechte, die wir daraus ableiten können, finden wir gar nicht so wertvoll, wir würden sie nicht um jeden Preis verteidigen. Diese Einstellung finde ich leider inzwischen häufig vor. Das macht mir große Angst. Für mich ein Antrieb, Politik zu machen, um genau das Gegenteil zu beweisen. Aber mir macht schon Sorge, dass infolge dieser geopolitischen Spannungen und Kriege und dem, was das innenpolitisch – Innenpolitik und Außenpolitik müssen wir zusammendenken – bedeutet, irgendwann knallt, der Bruch, der Riss so groß wird, dass wir das nicht mehr kitten können. Die Sorge habe ich und das sage ich auch selbstkritisch.

(Anmerkungen: Erstveröffentlichung im Januar 2024, Internetzugriffe zuletzt am 4. Januar 2024, die Rechte aller Bilder, alle von der in diesem Gespräch beschriebenen Reise, auch die Rechte des Titelbildes liegen bei Lamya Kaddor. Auf dem Titelbild sehen wir Jerusalem, ein Foto von einer früheren Reise.)