Zukunft braucht Weisheit und Mut
60 Jahre Ostdenkschrift der EKD und Brief der katholischen Bischöfe
Wir gedenken heute zweier wichtiger Ereignisse, die Grundlage geworden sind für einen Versöhnungsprozess zwischen Deutschen und Polen, der bis heute weltweit immer wieder große Beachtung findet und als beispielhaft angesehen wird: Die Ostdenkschrift der EKD vom Oktober 1965 und sechs Wochen später der Brief der katholischen Bischöfe an ihre deutschen Amtsbrüder während des Zweiten Vatikanischen Konzils. Beide – unabhängig voneinander entstandenen – Initiativen der Kirchen wurden in dem jeweils eigenen Land heftig angegriffen und waren gesellschaftlich umkämpft – und haben dann doch letztlich langfristige Orientierung gegeben.
Vergegenwärtigen wir uns den historischen Hintergrund und die damalige Lage:
Im geteilten Deutschland hatte die Sowjetunion 1950 darauf bestanden, dass die DDR die Grenze an Oder und Neiße vertraglich anerkannte. Die Bundesrepublik erkannte weder die DDR noch den Verlust der früher ostdeutschen Gebiete jenseits von Oder und Neiße an. Mit dieser Haltung geriet die alte Bundesrepublik jedoch nach dem Mauerbau 1961 immer mehr in die Sackgasse, da auch die Westmächte den Status quo der Grenzen als Grundlage für den Frieden akzeptierten.
Hier waren es 1961/62 einige Männer der evangelischen Kirche, die sich mit dem sogenannten „Tübinger Memorandum“ an die Öffentlichkeit wandten und in der stark vom Bund der Vertriebenen beeinflussten öffentlichen Meinung mit ihrer Forderung, die polnischen Westgrenze anzuerkennen, um ein friedliches Zusammenleben in Europa zu ermöglichen, einen Sturm der Entrüstung auslösten. Doch gab es auch eine bis dahin nicht öffentlich wahrgenommene beachtliche Zustimmung, welche den Rat der EKD schließlich ermutigte, diesen Weg weiter zu verfolgen.
In den folgenden Jahren gab es auch die ersten Pilgerfahrten junger Christen der „Aktion Sühnezeichen“ in der DDR und von „Pax Christi“ aus der Bundesrepublik nach Polen, um die deutsche Schuld gegenüber Polen zum Ausdruck zu bringen und nach Versöhnung zu suchen.
1963 beauftragte die EKD die „Kammer für öffentliche Verantwortung“, sich mit der Frage des „Rechts auf Heimat“ und der Anerkennung der Grenze zu beschäftigen. Dies waren brennende Fragen, die ausschließlich Westdeutschland betrafen. Anfang 1964 gab es jedoch auch ein Gespräch mit den ostdeutschen Mitgliedern der Kammer, denn die Landeskirchen in der DDR gehörten damals noch zur EKD. Diese drangen darauf, die Fragestellung zu erweitern und die Versöhnungsthematik und die Fragen einer auch in Zukunft tragfähigen Ordnung in Europa stärker ins Zentrum zu stellen.
Am 1. Oktober 1965 erschien schließlich die Denkschrift „Zur Lage der Vertriebenen und das Verhältnis des deutschen Volkes zu seinen östlichen Nachbarn“. Sie warb dafür, auch die Rechte der inzwischen nachgewachsenen Generation in Polen in den Blick zu nehmen und für Versöhnung und eine friedliche Ordnung in Europa einzutreten, ohne jedoch direkte politische Forderungen zu erheben. So wirkte sie als Toröffner dafür, die Grenze an Oder und Neiße anzuerkennen und nach Versöhnung mit Polen zu streben. Der Sturm der Entrüstung in der deutschen Gesellschaft, insbesondere beim Bund der Vertriebenen (BdV), aber auch in der evangelischen Kirche war wieder heftig – es ging bis zu Morddrohungen. Und doch bereitete der so angestoßene gesellschaftliche Diskurs den Boden für die neue Ostpolitik der sozialliberalen Koalition ab 1969. Als Willy Brandt am 7. Dezember 1970 im Warschauer Vertrag die Grenze nach dem Maß des Möglichen anerkannte und vor dem Ghetto-Denkmal in Warschau kniete, schrieb er noch am gleichen Abend an Ludwig Raiser, den Vorsitzenden der Kommission, ein Telegramm, in dem es hieß: „Verehrter Herr Professor, an diesem Tage erinnere ich mich dankbar der Pionierarbeit, die Sie und Ihre Freunde durch die Denkschrift geleistet haben. Mit herzlichen Grüßen Ihr Willy Brandt“.
Sechs Wochen nach der Ostdenkschrift veröffentlichten die polnischen katholischen Bischöfe ihren Brief an ihre deutschen Amtskollegen mit der berühmten Formulierung: „Wir vergeben und wir bitten um Vergebung“. Die Autoren der Denkschrift empfanden dies als große Bestätigung: „Die von der Denkschrift ausgesandte Taube ist mit einem Ölzweig zurückgekehrt.“ (Ludwig Raiser). In der Tat war die Denkschrift, wie Bischof Kominek später zum Ausdruck brachte, für die polnischen Bischöfe eine wichtige Ermutigung für ihren Brief. Die Denkschrift lag auf der Linie, die sie sich von den deutschen Amtsbrüdern erhofften – wobei sie da erst einmal ziemlich enttäuscht wurden. Erst später (ab 1966, erstes Dokument 1968) traten in der Bundesrepublik aktive katholische Laien im „Bensberger Kreis“ aktiv für die Verständigung mit Polen und die Anerkennung der polnischen Westgrenze ein.
Die kommunistische Partei in Polen reagierte scharf auf diesen Brief und warf den Bischöfen vor, nicht nur ihre Kompetenzen zu überschreiten, sondern auch, den nationalen Interessen Polens zu schaden. Auch für die polnische Bevölkerung und wohl auch die Mehrheit der katholischen Christen war es schwer, die visionäre Sicht ihrer Bischöfe zu verstehen und ihr zu folgen. Mit der neuen Ostpolitik der sozialliberalen Koalition ab 1970 wurden auch gesellschaftliche Kontakt zwischen der Bundesrepublik und Polen gefördert, DP-Gesellschaften und zunehmen auch Städtepartnerschaften entstanden. Auch die Diskurse in den weit verbreiteten liberalen und dem Kommunismus kritisch gesinnten „Klubs der katholischen Intelligenz (KiKs)“ veränderten das gesellschaftliche Bewusstsein. Ähnliches geschah dann durch den visafreien Verkehr mit der DDR. So entstanden gesellschaftliche Kontakte zwischen Polen und Deutschen in beiden deutschen Staaten, an denen auch die Kirchen einen nicht geringen Anteil hatten.
Mit der Gründung von Solidarność 1980 und den folgenden Unterstützungsaktionen aus Deutschland (ganz erheblich aus Westdeutschland, aber eben auch aus der DDR, freilich nur durch die Kirchen!) wurde die Offenheit in Polen für Deutschland größer. 1989 begann in Polen, was ich eine siegreiche Revolution für Freiheit und Demokratie in Mitteleuropa nenne – ein Umbruch, der das Gesicht und schließlich die Gestalt Europas änderte.
Das demokratische Polen unterstützte die deutsche Einheit, verlangte verständlicherweise jedoch die völkerrechtliche Anerkennung der polnischen Westgrenze, die 1990 durch die Vorbehalte der Bundesregierung schließlich nicht ganz so einfach war, wie wir es erhofft hatten. Mit dem Nachbarschaftsvertrag begann 1991 eine Phase der deutsch-polnischen Beziehungen, in der in jedem Jahr neu der Satz berechtigt war, dass „die deutsch-polnischen Beziehungen so gut sind wie noch nie“.
Die Hoffnung war groß, dass nun für Polen und Deutschland die Gestaltung der gemeinsamen Zukunft in Europa im Vordergrund steht und die Lasten der Vergangenheit hinter uns liegen. Doch – wir wissen: es gelang nicht.
Am Beginn dieses Jahrhunderts entbrannten erneut Diskussionen um das von Frau Steinbach und dem BdV geplante „Zentrum gegen Vertreibungen“, das geprägt war von Schuldzuschreibungen auf Polen und die anderen „Vertreiberstaaten“, die vorangegangenen deutschen Verbrechen und damit den politischen Hintergrund ausblendend. Nach heftigen Debatten über Jahre entstanden schließlich dann doch wichtige Projekte: Das „Museum des Zweiten Weltkriegs“ in Danzig und die „Stiftung Flucht-Vertreibung-Versöhnung“ in Berlin. Seit 20 Jahren macht das multilaterale „Europäische Netzwerk Erinnerung und Solidarität“ mit seinem Sekretariat in Warschau eine wichtige, grenzüberschreitende Arbeit.
In den letzten zehn Jahren haben wir aber auch wieder eine starke Stimmung gegen Deutschland erleben müssen, neue Reparationsforderungen wurden erhoben. Eine Europa zugewandte Politik wurde als Anbiederung an Deutschland denunziert. Dann kam vor zwei Jahren mit dem Wahlsieg der jetzigen Koalition Hoffnung auf – doch es gelang leider nicht, das früher erlebte Vertrauen wiederherzustellen.
Das aber ist die große Aufgabe, vor der wir heute stehen!
Dazu aber braucht es, glaube ich, auch heute wieder Weisheit und Mut, die Realitäten und aktuellen Herausforderungen anzunehmen und anzuerkennen.
- In Deutschland gibt es eine große Einigkeit zur Frage der von einigen in Polen geforderten Reparationen: rechtlich ist diese Frage abgeschlossen und kann nach 80 Jahren kein ernsthaftes Thema mehr sein. Doch gibt es gleichzeitig die wachsende Erkenntnis, dass es ein Defizit gibt und es eine humanitäre Wiedergutmachung für die ca. 60.000 heute noch lebenden Opfer des Zweiten Weltkrieges geben sollte. Es ist nun schwer auszuhalten, dass dies zwar gewollt ist, aber nichts geschieht und man offensichtlich auf eine Paketlösung wartet, statt unverzüglich zu handeln. Ich halte für wichtig, dass sehr schnell ein „Humanitärer Fond für noch lebende Opfer des Nationalsozialismus“ geschaffen wird. Ich denke an eine Milliarde Euro – wobei hier auch Opfer anderer Länder mit einbezogen werden sollten, wie die Opfer der Massaker von Oradour oder Lidice, auch Opfer in Griechenland oder in Serbien. Wegen ihres hohen Alters ist hier Eile geboten.
- Es ist gut und wichtig, dass Polen und Deutschland sich eindeutig zum russischen Aggressionskrieg gegen die Ukraine verhalten und zu ihren stärksten Unterstützern gehören. Deutschland hat erkennen müssen, dass die polnische Wahrnehmung der russischen Bedrohung realistisch war und hat die eigene Politik geändert. Doch braucht es mehr deutsch-polnische Kohärenz und konkrete gemeinsame Anstrengungen. Hier von deutscher Seite substanziell etwas für die polnische Sicherheit und damit auch für die europäische zu tun und die Ostflanke der Nato deutlich zu stärken, ist der Ruf der Stunde. Es wäre wichtig und vertrauensbildend, hier bald etwas Konkretes auf den Weg zu bringen. Darüber hinaus sollten Polen und Deutschland gemeinsam strategisch aktiv werden, um den Wiederaufbau der Ukraine und ihre Integration in EU und NATO vorzubereiten. Die Ukraine ist Teil unserer eigenen Sicherheit!
- Ich muss hier auch noch von einer Sorge reden: Die aktuelle Bundesregierung ist gerade dabei, die schon erwähnte „Stiftung Flucht, Vertreibung, Versöhnung“ aus der Zuständigkeit des Kulturstaatsministers herauszunehmen und dem BMI zuzuordnen. Damit wird das Thema der Vertreibungen organisatorisch, und so steht zu befürchten, auch inhaltlich aus den Kontexten zu den Museen und Gedenkstätten herausgelöst, die sich mit dem Nationalsozialismus, dem Zweiten Weltkrieg und der Shoah beschäftigen. Leider mehren sich die Anzeichen, dass versucht wird, diese Stiftung stärker der Zielstellung der Vertriebenenverbände und ihrer Pläne für ein „Zentrum gegen Vertreibungen“ anzunähern. Vor 20 Jahren haben wir erlebt, wie sensibel das ist und welche Sprengkraft es birgt, weshalb hier größte Aufmerksamkeit geboten ist. Es wäre fatal, wenn wir zu diesen Fragen wieder die alten Abwehrkämpfe führen müssten.
In diesen Monaten wird uns mehr und mehr bewusst, dass alte Gewissheiten nicht mehr tragen, oder nicht mehr die nötige Akzeptanz finden – das gilt für die eigenen Orientierungen in Fragen von Krieg und Frieden wie auch für die Wertegrundlagen unserer nationalen und europäischen Verfassungen und Verträge. Unsere Demokratie wie die europäische Integration werden zunehmend infrage gestellt – von außen wie von innen. Es wird von zentraler Bedeutung sein, als Polen und Deutsche hier zusammenzustehen, die seit 1989 erkämpfte Freiheit und Demokratie für ganz Europa gemeinsam zu verteidigen und den Ukrainern mit allen möglichen Mitteln beizustehen, die diese heute für sich und auch für uns verteidigen.
Markus Meckel, Berlin
(Anmerkungen: Bei dem Text handelt es sich um eine Rede, die Markus Meckel am 4. Oktober 2025 bei einer Gedenkveranstaltung der Evangelischen Kirche AB in Polen, des Sejm, der EKD und der EKBO im polnischen Sejm in Warschau gehalten hat. Die Veranstaltung ist auf youtube dokumentiert. Erstveröffentlichung im Demokratischen Salon im Oktober 2025, Internetzugriffe zuletzt am 25. Oktober 2025. Titelbild: Die Oder bei Fürstenberg, Foto: Dguendel, Wikimedia Commons, Creative Commons Attribution 4.0 International licence.)
