2000 Jahre und kein Ende

Tilman Tarachs Monographien zum Antisemitismus

„Wie groß die Illusion ist, dass wir dem kulturellen Gedächtnis von Generationen ganz entkommen können, kam mir bei der Lektüre des vorliegenden Buches ‚Teuflische Allmacht“ immer wieder in den Sinn.“ (Anetta Kahane im Geleitwort zu „Teuflische Allmacht“)

Immer wieder erscheinen neue Monographien und Studien zum Antisemitismus, im Jahr 2022 beispielsweise eine Kulturgeschichte von Shulamit Volkov (C.H. Beck), eine Analyse der toxischen Sprache des Antisemitismus von Monika Schwarz-Friesel (Narr Francke Attempto), ein Sammelband zum Antisemitismus in Österreich (Hentrich & Hentrich). Einen guten Überblick bietet Micha Brumliks 2020 in der 100-Seiten-Reihe des Reclam-Verlages erschienenes Buch. Alex Feuerherdt und Florian Markl haben sich ausführlich mit dem Thema der Vereinten Nationen und der BDS-Bewegung befasst (2018 und 2020 bei Hentrich & Hentrich), Stephan Grigat hat 2017 einen Sammelband über das Dreiecksverhältnis zwischen dem Iran, Israel und Deutschland veröffentlicht (ebenfalls bei Hentrich & Hentrich)

Heinrich Heine, Der Rabbi von Bacharach, Foto: Hans Peter Schaefer

Darüber hinaus gab und gibt es eine Vielzahl von Studien, in denen verschiedene Merkmale des Antisemitismus analysiert werden, die Täter-Opfer-Umkehr, der Post-Shoah-Antisemitismus, der Antisemitismus bei Muslim*innen und Christ*innen sowie der israelbezogene Antisemitismus oder auch die Einstellungen einzelner Personengruppen, nicht zuletzt von denjenigen, die sich pädagogisch mit der Prävention gegen Antisemitismus befassen. Das von Marina Chernivsky geleitete Berliner Kompetenzzentrum Prävention und Empowerment veröffentlicht regelmäßig solche Studien zum Stand der pädagogischen Wirklichkeit. Julia Bernstein hat mehrere ausführliche Analysen zum Antisemitismus in der Schule sowie zum israelbezogenen Antisemitismus vorgelegt (erscheinen bei Beltz / Juventa).

Diese Liste ist nicht vollständig. Bei allen Studien, deren Autor*innen und Herausgeber*innen ich namentlich genannt und in verschiedenen Essays und Rezensionen im Demokratischen Salon vorgestellt habe, spielt die jüdische Perspektive eine zentrale Rolle. Groß angelegte regelmäßig erscheinende Studien wie die Bielefelder Mitte-, die Leipziger Autoritarismus-Studie oder die ebenfalls in Bielefeld konzipierte MEMO-Studie bieten wichtige Daten, lassen aber die jüdische Perspektive vermissen. All diese Studien und Monographien ergeben mit ihren Daten, ihren Fallstudien und Testimonials ein Bild des „kulturellen Codes“ (Shulamit Volkov), der sich in antisemitischen Worten und Taten stets wiederholt. Es wird mitunter schwer, den Überblick zu behalten, aber angesichts des Themas muss man sagen: kein Buch, keine Studie zu viel.

Keine Welt, wie sie mir gefällt

Tilman Tarach, Foto: privat

Tilman Tarach hat in der Edition Telok im Jahr 2022 ein weiteres Buch hinzugefügt: „Teuflische Allmacht – Über die verleugneten christlichen Wurzeln des modernen Antisemitismus und Antizionismus“ (2022). Vorarbeiten finden sich bereits in dem 2010 erschienen Buch „’Der ewige Sündenbock‘ – Israel, Heiliger Krieg und die ‚Protokolle der Weisen von Zion“: Über die Scheinheiligkeit des traditionellen Bildes vom Nahostkonflikt“. Der erstgenannte Band enthält ein „Geleitwort“ von Anetta Kahane, der zweite „Geleitworte“ von Waleed al-Husseini und Henry M. Broder. Es lohnt sich, beide Bücher im Zusammenhang zu lesen.

Wer sich immer wieder mit dem Thema des Antisemitismus beschäftigt, mag mit Recht unleidig werden. Dies signalisiert die Sprache Tilman Tarachs, der sich oft am Rande der Polemik bewegt, sodass die Frage durchaus berechtigt sein könnte, ob seine Bücher diejenigen von der vom Antisemitismus ausgehenden Gefahr für die liberale Demokratie überzeugen können, die sich gegen eine solche Einsicht wehren. Sicherlich wird die virulente Polemik des Textes niemanden überzeugen, der sich der BDS-Bewegung angeschlossen hat oder sich vielleicht auch nur deren Sicht der Dinge zu eigen gemacht hat. Aber dennoch sind beide Bücher gute und notwendige Bücher und – so möchte ich es sagen – so geschrieben, dass man sie nicht aus der Hand legen möchte. Tilman Tarach hat sich in der taz angesichts der Neuauflage von „Der ewige Sündenbock“ zu seinem Stil geäußert: „Polemik soll nur eine Zutat sein, als solche stellt sie indes eine Art Notwehr gegen die antiisraelischen Zumutungen dar.“ Und in der Tat: vielleicht ist Polemik manchmal das einzige Mittel, mit dem man Hass zu begegnen vermag.

Verdienstvoll ist die Fülle des Materials, das Tilman Tarach ausgewertet hat und das mit Sicherheit all denen helfen wird, die sich mit offenem wie mit verdecktem Antisemitismus, nicht zuletzt mit israelbezogenem Antisemitismus auseinandersetzen müssen und wollen. Beide Bücher bieten Zusammenfassungen und Zitate aus Dokumenten nationaler und internationaler Regierungen und Organisationen, aus Zeitungen und TV-Serien. Wir finden Zitate von Arafat, Hitler, dem Groß-Mufti Amin Al-Husseini, aus arabischen Ländern und dem Iran, aber auch von scheinbar unverdächtigen Vertreter*innen der Politik wie Martin Schulz, Javier Solana, Antje Vollmer, Annemarie Schimmel, James Baker. Alles Zitate, die uns mehr als nachdenklich machen sollten.

Drei Beispiele seien hier genannt. Der bis 1975 regierende saudi-arabische König Faisal „hatte es sich zur Gewohnheit gemacht, den Staatsbesuchern seines Reiches die Protokolle (gemeint sind die „Protokolle der Weisen von Zion“, NR) zu überreichen, regelmäßig und unbekümmert auch Europäern, die ihm die Aufwartung machten: Journalisten, Diplomaten, aber auch Staatsvertretern wie dem italienischen Ministerpräsidenten Aldo Moro und dem französischen Außenminister Michel Jobert.“ Javier Solana sagte in seiner Amtszeit als EU-Generalsekretär (zitiert nach Tilman Tarach): „Ich glaube daher nicht, dass es das Wesen der Hamas ist, Israel zu vernichten. Ihr Wesen ist die Befreiung der Palästinenser.“ (alle Zitate in diesem Absatz aus „Der ewige Sündenbock“). Schnee von gestern? Keineswegs.

Die beiden Bücher von Tilman Tarach überzeugen durch die Fülle an Informationen, die die Kontinuität des Antisemitismus in den vergangenen 2.000 Jahren der europäischen Geschichte belegen, ganz im Sinne von Monika Schwarz-Friesel, die immer wieder „die Wiederholung der Wiederholung der Wiederholung“ im Antisemitismus betont. Eben diesen Gedanken formuliert auch Annetta Kahane in ihrem Geleitwort zu „Teuflische Allmacht“: „Deshalb kann es heute nicht darum gehen, wie es gerade modern ist, zu behaupten, etwas zu ver-lernen – oder um es im woken Englisch zu sagen: ‚unlearning history‘ –, sondern ganz im Gegenteil. Wir müssen genau verstehen, wie Antisemitismus funktioniert, um zu sehen, wie er immer wieder neu andocken kann. Und um mehr zu tun, als ihn zu beschreiben oder zu verurteilen. Ihn zu bekämpfen heißt, kluge Analysen zu liefern und die Augen vor Kontinuitäten nicht zu verschließen.“

Diverse Studien über die in Jüdischen Gemeinden stets präsente Angst vor der allgegenwärtigen Bedrohung durch in Worten und in Taten militante Antisemit*innen belegen, dass wir in Deutschland (und in Österreich, in Frankreich und anderswo) aus unterschiedlichen Gründen viel zu oft „die Augen (…) verschließen.“ Zuletzt beschrieben dies Marina Chernivsky, Friederike Lorenz-Sinai und Johanna Schweitzer in ihrer 2022 im Beltz-Verlag erschienenen Studie „Von Antisemitismus betroffen sein- Deutungen und Umgangsweisen jüdischer Familien und junger Erwachsener“.

Christliche Traditionen

Tilman Tarach benennt die kulturellen Kontinuitäten und Traditionen des Antisemitismus in Europa mit zahlreichen Belegen bis zurück ins vierte Jahrhundert n.u.Z. als Kontinuum der „christlichen Geschichte“ des Kontinents (in „Teuflische Allmacht“): „Es erweist sich schließlich, dass der Judenhass eine Konstante in der christlichen Geschichte darstellt und geradezu zu einem Bestandteil der europäischen Kultur geworden ist.“ Nicht nur am Rande: einen vergleichbaren „kulturellen Code“ ließe sich beim überlieferten Hass gegen Sinti*zze und Romn*ya feststellen, nur mit dem Unterschied, dass „den Juden“ Allmacht, hohe Finanzkraft und Weltherrschaftspläne, während Sinti*zze und Romn*ya die in den prekären Verhältnissen, in denen viele von ihnen leben, vermuteten kriminellen Taten unterstellt werden.

Schwerpunkt der Analysen von „Teuflische Allmacht“ ist die Genese des heutigen Antisemitismus und des Antisemitismus der Nazis aus dem christlichen Antisemitismus beziehungsweise Antijudaismus, der kein „kurzfristiger ‚Zwischenfall‘, sondern ein beständiger Begleiter ‚unserer‘ Geschichte war.“ Zur christlichen Tradition des Antisemitismus hatte der Verlag Hentrich & Hentrich in der Vergangenheit bereits mehrere Bände des englischen Talmudphilologen Hyman Maccoby (1924-2004) veröffentlicht, darunter das Buch „Der Antisemitismus und die Moderne“, dessen englische Originalausgabe posthum im Jahr 2006 erschien. Peter Gorenflos gab die von Wolfdietrich Müller gefertigte Übersetzung im Jahr 2020 heraus. Weitere Bände dieser Reihe der Werke Hyam Maccobis haben die Titel „Ein Pariavolk – Zur Anthropologie des Antisemitismus“ (englische Ausgabe 1996, deutsche Ausgabe 2019) und „Judas Ischariot und der Mythos vom jüdischen Übel“ (englische Ausgabe 1992, deutsche Ausgabe 2020).

Hyam Maccoby hat die Genese des Antisemitismus aus dem Christentum ausführlich dargestellt. Tilman Tarach kommt zum selben Ergebnis. Er beruft sich auf ein weiteres grundlegendes Werk zu diesem Thema: David Nirenbergs „Anti-Judaismus – Eine andere Geschichte des westlichen Denkens“ (englische Ausgabe 2013, deutsche Ausgabe in der Übersetzung von Martin Richter 2015 bei C.H. Beck). Die Judas-Geschichte lässt sich durchaus als Schlüsselerzählung des Antisemitismus lesen. Tilman Tarach zitiert Amos Oz (aus „Jesus und Judas – Ein Zwischenruf, Ostfildern, Patmos, 2018): „In meinen Augen (…) ist die Geschichte von Judas in den Evangelien gleichsam das Tschernobyl des christlichen Antisemitismus der vergangenen zweitausend Jahre.“

Tilman Tarach belegt, dass nichts von dem, was wir heute als Antisemitismus bezeichnen, in jüngerer Zeit erfunden worden ist. Die Linie lässt sich vom frühen Christentum über die industriell organisierten Exzesse der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft bis zu den heutigen antizionistischen Gruppierungen kontinuierlich nachverfolgen. Tilman Tarach beginnt mit einem Pogrom im Jahr 388 n.u.Z. in der syrischen Stadt Raqqa. Dort „brannte ein christlicher Mob nach Aufstachelung durch den örtlichen Bischof die Synagoge der Stadt nieder und verübte ein Pogrom an der jüdischen Bevölkerung.“ Der damalige Kaiser Theodosius I. verurteilte dies und „wollte die Synagoge auf Kosten der Kirche von Callicinium wiederaufbauen lassen und die Gewalttäter zur Rechenschaft ziehen.“ Der Bischof von Mailand, Ambrosius, auch bekannt als Lehrer des Kirchenvaters Augustinus, wusste dies zu verhindern, indem er dem Kaiser die Exkommunikation androhte.

Tilman Tarach fragt (in „Teuflische Allmacht“), „in welchem Verhältnis die Gründungsmythen und Leitideen der christlichen Lehrer als solche zum Antisemitismus stehen – und zwar durchaus auch zum modernen, nationalsozialistischen und schließlich auch zum israelbezogenen Antisemitismus.“ Er analysiert Sprache und Dokumente aus dem katholischen wie aus dem evangelischen und evangelikalen sowie dem säkularen Milieu. Er tritt Auffassungen entgegen, dass „der Antisemitismus lediglich eine Spielart des Rassismus sei“ und dass man „Anti-Judaismus“ und „Antisemitismus“ voneinander unterscheiden müsse.

Jüdinen mit gelbem Fleck, Ghetto Minsk 1941 (aus „Teuflische Allmacht), Yad Vashem, Photo Archive, Jerusalem

Es gibt sicherlich rassistische Versionen des Antisemitismus, insbesondere seit der aus dem kastilischen Kulturkreis propagierten und in der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts rechtlich verbrieften „limpieza de sangre“ (d.h. „Blutreinheit“) und dann wieder seit dem 19. Jahrhundert, aber auch die Antisemit*innen der letzten beiden Jahrhunderte verwenden die immer gleichen Bilder, das Bild der „Kinder des Teufels“, der „Christusmörder“, der „Gottesmörder“, der „Brunnenvergiftung“ in den Zeiten der Pest, die sich auch wieder in den Zeiten der sich „Querdenker“ nennenden „Impfgegner“ der letzten Jahre wiederholte und wieder einmal – wenn auch oft verklausuliert und pauschal – „die Juden“ verantwortlich machte. Tilman Tarach bietet zahlreiche Belege für Folterungen, Zwangstaufen, Vorschriften zur Kennzeichnung der Kleidung, den Vorwurf der Hostienschändung und des Ritualmords. Er verweist darauf, dass die Nazis die Pockenimpfungen reduzierten und immer wieder vor der Vergiftung des deutschen Volkes durch von Juden verabreichte Impfungen warnten.

Auch Gruppen, die sich für die Befreiung des Landes, das sie „Palästina“ nennen, einsetzen und dies mit der Forderung nach der Vernichtung Israels verbinden, verwenden diese ihrer Herkunft nach christlichen Motive. „Der Mythos vom jüdischen Ritualmord ist ebenfalls zum festen Bestandteil der Ideologie muslimischer antiisraelischer Akteure geworden.“ Tilman Tarach weist aber auch mit Recht darauf hin, dass diese Spielart des israelbezogenen Antisemitismus nicht nur Muslim*innen zugerechnet werden könne. Die Volksfront für die Befreiung Palästinas (PLFP), eine extremistische dschihadistische Gruppierung, wurde von palästinensischen Christen gegründet. Es sind letztlich dieselben Motive, die auch die Nazis unbeschadet ihrer eigenen antichristlichen Einstellung unter Berufung auf das Christentum verwendeten.

Tilman Tarach beschreibt, dass „der gewöhnliche Deutsche der Darstellung des gefolterten Jesus am Kreuz und der Erzählung von der jüdischen Verantwortung für die Bluttat von Kindesbeinen an ausgesetzt“ war.“ Johann Sebastian Bachs Passionen taten das Ihre dazu und – dies kann ich aus eigener Erfahrung hinzufügen: Kinder erhielten im deutschsprachigen Raum noch in den 1960er Jahren bei der Vorbereitung auf die erste Kommunion Bücher, in denen Ritualmordlegenden wie die um das Anderl von Rinn und Werner aus Oberwesel am Mittelrhein als Fakten präsentiert wurden. Der erste Vorwurf eines solchen Ritualmords wurde im Jahr 415 in Antiocheia erhoben, der erste in Europa belegte Ritualmordvorwurf betraf ein Christenkind namens William in Norwich. Ein iranisches Nachrichtenportal nennt als „eine seiner Quellen: eine Ausgabe der ‚deutschen Zeitschrift ‚Der Stürmer‘‘ von 1939. Das offen antijüdische Pamphlet ist bebildert mit einem italienischen Gemälde des Simon von Triest, eines christlichen Kindes, das seit dem 15. Jahrhundert als christlicher Märtyrer verehrt wird und vom Vatikan heiliggesprochen wurde, weil es Opfer eines jüdischen Ritualmordes gewesen sein soll.“

Möglicherweise – Tilman Tarach betont dies als Fakt – war auch Adolf Hitler von solchen Erzählungen beeinflusst. Zumindest lässt sich dies aus seinen Tischgesprächen, Reden und seiner Vorliebe für Spektakel wie die Oberammergauer Passionsspiele schließen. Hitler soll – so wiedergegeben in den Memoiren von Hans Frank – gesagt haben: „In den Evangelien riefen die Juden dem Pilatus zu, als dieser sich weigerte, Jesus zu kreuzigen: ‚Sein Blut komme über uns und unsere Kinder.‘ Ich muss vielleicht diese Verfluchung vollstrecken.“ (zitiert nach Tilman Tarach) Eine wichtige von Tilman Tarach dokumentierte Quelle ist das Buch „Der jüdische Ritualmord – eine historische Untersuchung“ von Hellmut Schramm aus dem Jahr 1943. Dieser Autor beruft sich ausdrücklich auf kirchliche Würdenträger, die seine Ansicht teilten.

Zu den von Tilman Tarach dokumentierten Ritualen der NS-Zeit gehören beispielsweise auch der von der Hitlerjugend in der Tradition christlicher Praktiken organisierte „Ritus des Judasverbrennens“. Vergleichbare biographische Prägungen vermutet Tilman Tarach bei Stalin: „Stalins antisemitische Vorstellungen (oder die schrill israelfeindlichen Positionen des Dominikanerschülers Achille Mbembe und des Priestersohnes A. Dirk Moses) tatsächlich als unmittelbares Echo ihrer ungewöhnlich christlichen Erziehung aufzufassen, wäre gleichwohl spekulativ; ein derartiger Nachweis ist naturgemäß auch schwer zu führen.“ Auch in der Populärkultur wirkt diese Tradition fort. Tilman Tarach nennt Mel Gibsons Film „Die Passion Christi“ und zitiert den Schauspieler mit dem Satz „The Jews are responsible for all the wars in the world.“

Für das Christentum war das Judentum verdächtig, weil Jüdinnen*Juden Jesus nicht als Messias anerkannten: „Das unbewusste Bild vom Juden, der Christus ablehnt und damit als Bedrohung für die eigene Identität erscheint, überlebt als eigentlicher Antrieb des Judenhasses den Wandel der Zeit.“ Die „Substitutions- oder Enterbungstheologie“ ist in manchen christlichen Kreisen unbeschadet der bekannten Distanzierungen des II. Vatikanischen Konzils und der Evangelischen Kirchen nach wie vor virulent. Sie war es auch bei im Widerstand gegen den Nationalsozialismus kämpfenden evangelischen und katholischen Christ*innen, auch bei Martin Niemöller oder Clemens August Graf von Galen, sie wurde durch Papst Benedikt XVI. wiederbelebt, als er eine entsprechende Gebetsformel für die Juden, dass sie Christus anerkennen mögen, unter anderem auf Druck der Piusbruderschaft, ganz im Zeichen einer Versöhnung mit dieser extrem konservativen Gruppe, wieder in die katholische Liturgie aufnahm. Für die Nazis war der christliche Judenhass ohnehin anschlussfähig. Tilman Tarach verweist auf Julius Streicher, der sich in Nürnberg auf Martin Luther berief, der die Vernichtung der Juden gefordert habe. Die Konkurrenz, die zwischen NS-Staat und Kirchen bestand, blieb davon unbenommen. „Die Legende, die Juden hätten den Tod Jesu gegenüber einer unschuldigen römischen Besatzungsmacht durchgesetzt, (…) hat bis heute das Bild von den Juden vergiftet.“

Nie wieder wehrlos

Grabinschrift in der Franziskanerkirche Damaskus (aus „Teuflische Allmacht“) Photo-Archiv: Tilman Tarach

In „Der ewige Sündenbock“ schreibt Tilman Tarach: „Aus dem Gerücht über die Juden wurde mithin das Gerücht über Israel.“ So auch der Titel eines Kapitels. Tilman Tarach beschreibt in diesem Buch ausführlich die Genese der Staatsgründung Israels, die vorangegangenen Pogrome gegen Juden in den Jahren 1920 (Jerusalem), 1921 (Jaffa), 1929 (Hebron), 1938 (Tiberias), 1941 (Bagdad) und 1945 (wieder Tiberias). Er beschreibt die Damaskusaffäre des Jahres 1940 und dokumentiert die engen Kontakte zwischen Hitler, Himmler und dem Groß-Mufti, den auch Arafat als Vorbild sah. Tilman Tarach stellt Äußerungen Arafats und anderer palästinensischer Funktionäre einander gegenüber, in denen sie auf der einen Seite gegenüber Externen Frieden gelobten, intern jedoch immer wieder das Ziel bekräftigten, dass Israel als Staat zu vernichten sei.

Von Interesse ist die Rolle der Sowjetunion, die zunächst die Staatsgründung Israels unterstützte. Tilman Tarach zitiert Andrej Gromyko, der am 21. Mai 1948 vor dem Sicherheitsrat der UN: „Die Delegation der UdSSR kann sich nicht enthalten, ihr Erstaunen über die Einstellung der arabischen Staaten in der palästinensischen Frage auszudrücken. Ganz besonders sind wir überrascht zu sehen, dass diese Staaten oder zumindest einige von ihnen sich entschlossen haben, militärische Maßnahmen zu ergreifen mit dem Ziele, die nationale Befreiungsbewegung der Juden zu vernichten.“ Er zitiert als anfänglichen Unterstützer Israels Karl-Eduard von Schnitzler, den späteren Anchorman des „Schwarzen Kanals“. Tilman Tarach zitiert Stimmen aus der DDR, so Paul Merker, der zu einem späteren Zeitpunkt von der SED-Führung seiner Posten enthoben und ins Gefängnis gesteckt wurde, als sich die offizielle sowjetische Linie gegenüber Israel geändert hatte.

Aber zunächst ging es der Sowjetunion darum, Israel gegen US-amerikanischen und britischen Einfluss in der Region zu positionieren. „Es ging vor allem um die Zurückdrängung des für die Sowjetunion bedrohlichen britischen und amerikanischen Einflusses in der Region. Nun ist es aber so, dass der Mythos existiert, ‚die USA allen voran‘ hätten die Gründung des israelischen Staates forciert, Israel sei also von vornherein ein Instrument der Vereinigten Staaten gegen die Araber gewesen.“ Das hielt nicht lange an, Indikatoren des sowjetischen Sinneswandels waren die Moskauer Ärzteprozesse und die Prager Prozesse u.a. gegen Rudolf Slánský, die jeweils als Maßnahmen gegen jüdische Verschwörungen begründet wurden.

Der Großmufti bei Adolf Hitler (aus „Der ewige Sündenbock“), Bundesarchiv, Bild 146-1987-004-09A, Heinrich Hoffmann /CC-BY-SA 3.0

Wo Antisemitismus als Antizionismus getarnt auftritt, sind „Die Protokolle der Weisen von Zion“ nicht weit. Der Wirkungsgeschichte dieser zaristischen Fälschung widmet Tilman Tarach ein ganzes Kapitel: „Der Einfluss der Protokolle kann kaum überschätzt werden.“ Nicht nur in ihrem Herkunftsland, weltweit: „In England beispielsweise, der Mandatsmacht in Palästina, erschien der Text sogar in der ‚Morning Post‘ und in der ‚Times‘.“ Tilman Tarach zitiert ausführlich aus den Protokollen, sodass sich die Leser*innen selbst ein Bild machen können. Er zitiert aus Dokumenten, die die „Protokolle“ zitieren, so die Charta der Hamas: „Der zionistische Plan (…) ist in den ‚Protokollen der Weisen von Zion‘ verankert.“ Die Protokolle sind Gegenstand des Schulunterrichts, werden in Schulbüchern vorgestellt, teilweise auch in Schulbüchern, die von europäischer oder US-amerikanischer Seite finanziert wurden.

Tilman Tarach beschreibt, wie sich die politische Rechte und die politische Linke, nicht nur die extremistischen Ausprägungen der beiden Seiten, in den westlichen Demokratien gleichermaßen gegenüber Israel positionieren. Dies geht bei der extremistischen Seite soweit, dass RAF-Angehörige und Mitglieder der „Wehrsportgruppe Hoffmann“ in denselben Ausbildungslagern der PLO ausgebildet wurden: „Und zu den RAF-Angehörigen – so berichtet es jedenfalls Horst Mahler – ‚kamen die Fedajin mit Hitlerbildern und sagten: ‚Guter Mann!‘“

Die Bedrohungslage Israels definiert sich nicht nur über Raketen der Hamas, der Hisbollah und anderer dschihadistischer Akteure der Region, sondern eben auch aus den denkwürdigen Solidaritätsbekundungen von rechts und links, die sich nicht unbedingt auf NS-Kontexte beziehen, denn diese versuchen sie durchaus zu vermeiden, wohl aber  – auch dies belegt Tilman Tarach mit Bildern von Plakaten und Zeitungszitaten – die Motive des christlich grundierten Antisemitismus immer wieder zumindest kryptisch wiedergeben. Hinzu kommen Vergleiche, die Israel in die Nähe des NS-Regimes rücken, beispielsweise der Spiegel-Titel „Israels Blitzkrieg“ vom 12. Juni 1967. Letztlich ist kaum eine Zeitung der westlichen Welt davon frei, nicht immer wieder gelegentlich in Artikeln, Bildern oder Karikaturen antiisraelischen Stereotypen auf den Leim zu gehen. Wir erleben sozusagen auch ein journalistisches Dauerfeuer, das ebenso prägend wirken kann und zu wirken scheint wie das Dauerfeuer mit christlichem Antisemitismus im Religionsunterricht und in den Kirchen der Jahrhunderte.

Was bleibt? Die Grenzen Israels sind völkerrechtlich genauso eindeutig und sollten völkerrechtlich – man muss dieses Wort durchaus mehrfach nennen – eigentlich eindeutig unverletzbar sein, so wie auch die Grenzen der Ukraine. Wir sollten genau hinschauen. Dies taten wir in den westlichen Staaten über Jahrzehnte nicht, sondern verharmlosten den russischen Imperialismus, die iranische Despotie und nicht zuletzt die andauernden Angriffe palästinensischer Terrorgruppen auf Israel. Wir relativierten ständig und versuchten, das Gute in den iranischen Ajatollahs, bei Putin, selbst bei Hamas und Hisbollah zu suchen. Jürgen Trittin meinte, am 29. Juni 2007 in der taz feststellen zu dürfen (zitiert von Tilman Tarach): „Ich habe eher den Eindruck, dass die Hisbollah sich sehr positiv in die Gestaltung des politischen Prozesses im Libanon einbringt.“ Ich nehme an, dass er heute nicht mehr so denkt, sich vielleicht auch nicht gerne an diese Äußerung erinnert. Die einzige Despotie, über die ich noch nirgendwo etwas in dieser Art Relativierendes, Verharmlosendes gelesen habe, ist Nordkorea.

Ron Prosor, der neue israelische Botschafter in Berlin, lobte am 22. Dezember 2022 im Berliner Tagesspiegel auf der einen Seite die deutschen Aktivitäten gegen Antisemitismus, betonte aber auch, dass sich manche in Deutschland durchaus schwertäten, linken Antisemitismus zu identifizierten. Gerade im Hinblick auf Rechte der Palästinenser*innen in einem möglicherweise irgendwann einmal gegebenen eigenen Staat würde deutlich, dass hier mit zweierlei Maß gemessen würde. Auf die Frage nach der Zweistaatenlösung sagte er: „Politiker fordern gerne eine Zweistaatenlösung. Zum einen dringen sie auf einen jüdisch-demokratischen Staat. Aber fordern sie zum anderen auch einen demokratischen palästinensischen Staat? Die Antwort lautet: nein. Ein funktionierender Rechtsstaat sollte aber eine Minimalforderung an die Palästinenser sein. Nur so kann Frieden erzielt werden. Wir hatten gehofft, wenn wir aus Gaza abziehen, entsteht dort ein stabiles Staatengebilde. Diese Hoffnung hat sich als Illusion erwiesen.“

Über die israelische Politik in der Westbank und die Bestrebungen der Siedler-Bewegungen, auch über die neue israelische Regierung ließe sich einiges sagen, doch in der Tat ist die selbst angesichts diverser antisemitischer Entgleisungen ihrer Führung in der Regel als gemäßigt betrachtete Palästinensische Autonomiebehörde alles andere als eine demokratische Institution, von der Hamas in Gaza ganz zu schweigen. Und so bleibt letztlich nicht mehr und nicht weniger eine israelische Version des „Nie wieder“. Es geht eben nicht um ein „Nie wieder Krieg“, denn das hat niemand in der Hand, wenn es den Nachbarn nicht gefällt – so sehen wir es heute in der Ukraine – wohl um ein „Nie wieder Auschwitz“, vor allem aber auch, damit dieses andere zentrale „Nie wieder“ erfüllt werden kann, ein „Nie wieder wehrlos“. Tilman Tarach: „Nicht zufällig ist daher der Tag des Ghettoaufstandes einer der wichtigsten Feiertage Israels, zu dessen Staatsdoktrin es gehört, dass niemals mehr jemand wehrlos auf den Tod zu warten hat, den anderen nur deshalb beschlossen haben, weil er Jude ist.“

Norbert Reichel, Bonn

(Anmerkung: Erstveröffentlichung im Januar 2023, die Bilder wurden mir von der Edition Telok zur Verfügung gestellt, Internetzugriffe zuletzt am 3. Januar 2023.)